Teil 1

Die Nachttischlampe

22.06.1999


Es war schon gespenstisch jeden Morgen in eine leere Fabrikhalle zu kommen. Nur das leise Zischen von undichten Pressluftleitungen und das Flackern einer defekten Neonröhre erfüllte den riesigen Raum. Was solls, dachte sich Jörg Schabeck, so ist das nun mal, wenn ein Industriebetrieb stillgelegt wird. Der Betrieb war noch vor wenigen Monaten eine der modernsten Produktionsstätten für Telekommunikationskabel gewesen, bis die Konzernführung in Paris beschlossen hatte "Überkapazitäten abzubauen". So hieß das Plattmachen von Fabriken im Managerjargon. 650 Menschen hatten hier ihren Lebensunterhalt verdient.

Jetzt waren noch knapp 30 davon mit der Auflösung des Werkes beschäftigt. Sie produzierten die letzten Aufträge und bereiteten die Produktionsstraßen für den Abbau vor. Schabeck war einmal für das Werkstofflabor zuständig gewesen. Heute kümmerte er sich um Qualitätsprüfungen für die letzten paar Kabel, die hier noch hergestellt wurden. Das würde noch ungefähr 6 Monate so weitergehen, dann würde auch er sich in das Heer der Arbeitslosen in dieser Stadt einreihen. Andere Arbeit gab es hier kaum. Das niedersächsische Stadthagen zählte zu den strukturschwachen Gegenden in Deutschland. Im Moment bestand die "Arbeit" von Schabeck und seinen Kollegen größtenteils darin, sich den Tag um die Ohren zu hauen. Viel zu tun gab es nicht mehr und so hatte sich jeder Wege gesucht, die Tage anderweitig auszufüllen.

Schabeck verbrachte die meiste Zeit in seinem Labor und ließ den Computer immer neue Fraktale berechnen. Das war seit langem sein Hobby, weshalb er von seinen Kollegen scherzhaft mit "Professor" angesprochen wurde. Meist leisteten ihm dabei seine Assistentin Nataliya Moiseyenko und der ehemalige EDV-Beauftragte Joshua Tchao Gesellschaft, weil es nichts Besseres zu tun gab. Nataliya stammte ursprünglich aus der Ukraine, lebte aber seit 10 Jahren in Deutschland. Ihre Eltern waren als Spätaussiedler in die Bundesrepublik gekommen. Sie war 32 Jahre alt und ziemlich attraktiv. Schabeck hatte bereits mehrmals versucht Nataliya davon zu überzeugen, dass er mehr als ein Kollege für sie sein wollte. Bis jetzt hatte er aber einfach kein Glück bei ihr. Josh war in Deutschland geboren, seine Familie stammte aber aus Gambia in Westafrika. Seit fünf Jahren arbeitete er als EDV-Beauftragter hier im Kabelwerk. In dieser Position war er absolute Spitzenklasse. Er hätte es sicher am leichtesten, einen neuen Job zu finden.

Zum wahrscheinlich x-ten Male betrachteten sie fasziniert die Mandelbrotmenge, die gerade auf dem Bildschirm aufgebaut wurde. Joshua hatte das Fraktalprogramm umgeschrieben. Es war jetzt in der Lage eine Fraktalgrafik dreidimensional darzustellen, was der Sache einen zusätzlichen Reiz verlieh. Die Mandelbrotmenge, wegen ihrer eigentümlichen Gestalt auch Apfelmännchen genannt, sah jetzt tatsächlich wie ein sehr dicker Mann aus. Allerdings einer mit zahllosen Auswüchsen rund um den Körper. Nataliya rührte gedankenverloren in ihrem Kaffee und betrachtete das Gebilde auf dem Monitor. Dann sagte sie "So ein Ding hätte ich gern als Nachttischlampe, sieht bestimmt irre gut aus, wenn man das aus transparentem PE extrudiert und eine Glühbirne reinhängt." "Oh Mann," stöhnte Schabeck, "auf sowas kann auch nur eine Frau kommen." Josh grinste und meinte "Wieso eigentlich nicht? Vielleicht wird das ja der Hammer und wir kommen ganz groß damit raus. Aber, Scherz beiseite, versuchen können wir es doch. Ich frage gleich mal Eckie, ob er so eine Form bauen kann." Eckie Becker hatte in besseren Zeiten Extrusionsformen gebaut. Die wurden dann in der Produktion verwendet, um wer weiß was herzustellen. Das Prinzip war ganz einfach. Man fräste mit einer CNC-Fräse aus einem Aluminiumblock zunächst eine Hälfte des gewünschten Profils heraus, versah sie mit Verschlüssen und fertigte dann die andere Hälfte. Dann montierte man das Ganze in einem sogenannten Extruder und ließ fast aufgeschmolzenes Polyethylen einströmen. Das wurde unter Druck in die Form gepresst und anschließend abgekühlt. Auf diese Weise ließ sich fast jede gewünschte Form erzeugen, egal ob Barbie-Puppe oder Colaflasche. Warum also nicht eine Lampe in Form einer Mandelbrotmenge. Eckie Becker sah sich die Form an, die er basteln sollte. Ohne ein Wort zu sagen zog der Maschinenbauer einen Taschenrechner und einen Block aus der Tasche. Nachdem er zehn Minuten gerechnet und gekritzelt hatte, murmelte er "Ist kompliziert, geht aber. Die Frage ist, wie groß das kleinste Detail sein wird, das wir aus dem Aluminium herausarbeiten können. Kommt mal mit." Den Rest des Tages fräste, bohrte und feilte er in seiner Werkstatt herum und verdonnerte seine Kollegen zu irgendwelchen Hilfsarbeiten.

23.06.1999

Am nächsten Morgen standen sie am Extruder. Wie alles, was Eckie anpackte, funktionierte die Spritzform und Nataliya bekam ihre Lampe. Josh besorgte eine Glühbirne, ein Anschlusskabel und eine Fassung. Fertig! Schabeck trug das Kunstwerk in sein Labor, um der Welt erste leuchtende Mandelbrotmenge einzuschalten. So standen sie denn um das filigrane Gebilde herum, jeder mit einem Becher Kaffee bewaffnet, um feierlich das erste Leuchten eines Fraktals zu begehen. "Meine Dame, meine Herren, dies ist ein Augenblick, in dem wir erleben dürfen, wie ein Triumph der Technik Einzug in Wohn- und Schlafzimmer dieser Welt halten wird. Ich präsentiere Ihnen die mit Abstand furchtbarste Nachttischlampe, die jemals aus der deutschen Ingenieurskunst hervorgegangen ist. Beachten sie vor allem, was mit Nataliyas Gesicht geschehen wird, wenn die Glühbirne den Kunststoff zum Schmelzen bringt!" "Quatsch nicht" murrte Eckie, "Erstens ist das hitzebeständiges PE, zweitens sind alle Dinge die ich baue wunderschön und drittens: Schalt endlich ein!" Und so geschah es denn auch. Schabeck legte den Schalter um, die Birne begann wie erwartet zu leuchten und das ganze sah tatsächlich wunderschön aus. Also wurde Beifall geklatscht, Eckie bekam einen Kuss und ein Dankeschön von Nataliya und alle betrachteten zufrieden ihr Werk. Danach ging jeder an seine Arbeit, so das Schabeck mit Nataliya allein im Labor zurückblieben. "Sieht das nicht irre schön aus?" schwärmte Nataliya. "Doch, doch" antwortete Schabeck, längst mit anderen Dingen beschäftigt.

Die Lampe verbreitete tatsächlich ein angenehmes, warmes Licht. Die Verästelungen der Mandelbrotmenge leuchteten wie ein Christbaum und erzeugten sogar verschiedene Farbtöne. Schabeck wandte sich wieder seinem Tagewerk zu. Nach ein paar Minuten sah er die Lampe wieder an und stutzte. Irgendetwas hatte sich verändert. Das Licht war irgendwie heller geworden. Viel heller, als man es von der jämmerlichen 40 Watt Birne hätte erwarten sollen. Und die Intensität nahm kontinuierlich zu! "Nataliya, siehst du das?" fragte er seine Assistentin. "Ja, komisch, das Licht wird immer heller und schau mal, im vorderen Abschnitt vor der Spitze bewegt sich irgendwas. Sieht aus wie eine Turbulenz." "Licht verursacht aber keine Turbulenzen", bemerkte Schabeck, "unter irdischen Bedingungen bewegt sich Licht immer gradlinig." Die Helligkeit im Innern des Gebildes schien jetzt nicht mehr anzusteigen. Dafür änderten sich die Farben des Lichts und die "Turbulenzen" nahmen zu. Schabeck griff zum Telefon. "Josh, komm mal rüber und bring ein Spannungsmessgerät mit. Mit Nataliyas Lampe stimmt was nicht. Um ehrlich zu sein, sowas habe ich noch nie gesehen." "Klar, so eine Lampe hat ja auch noch keiner vorher besessen" antwortete Josh.

Ein paar Minuten später stand er mit einem Digitalmultimeter bewaffnet im Labor und starrte fasziniert auf die Vorgänge in der Mandelbrotlampe. "Was geht da drin vor?, " fragte er etwas verdattert. "Weiß ich auch nicht, aber vielleicht kann man irgendwas messen", vermutete Schabeck. Josh klemmte das Multimeter an die Spitze der Mandelbrotmenge und stellte den Messbereich auf 220 Volt ein. Das Gerät zeigte jedoch keinen Wert an, sondern nur einen Pfeil, der besagte, dass die Spannung an der Spitze höher sein musste. Was ging hier vor? Joshua Tchao schaltete einen Messbereich höher. Wieder erschien der Pfeil im Display. Das ging so weiter, bis er bei 50.000 Volt angelangt war. 48.440 Volt stand dort zu lesen! Irritiert schaltete er an dem Messgerät herum. Was sie hier sahen, war physikalisch völlig unmöglich. "Das Ding ist kaputt", behauptete Nataliya, nicht recht überzeugt von ihren Worten. "Möglich", brummte Josh, "ich überprüfe die Kiste gleich mal." Aber das Messgerät war nicht defekt. "Hört mal Leute, das kann nicht sein. Eine Glühbirne in einem deformierten Plastikeimer kann weder Turbulenzen erzeugen, noch die Netzspannung erhöhen. Und Licht wandelt man im Allgemeinen mit Solarzellen in Strom um und nicht mit einer Kunststoffhülle", dozierte Schabeck, der als Werkstofftechniker fest an die Grundregeln der klassischen Physik glaubte. Josh trottete wortlos davon und kam mit einem Oszilloskop zurück. "Das Ding ist frisch kalibriert", sagte er, "damit sollten wir mehr sehen." Er verband das Oszilloskop mit dem Laborrechner und schloss es an die Mandelbrotlampe an. Das Ergebnis blieb dasselbe, aber auf dem Bildschirm des Computers wurde die Frequenz des Wechselstroms dargestellt. Jedoch nicht in Form der erwarteten Wellenlinie, sondern als verworrenes, sich ständig änderndes Gebilde, dass eine frappierende Ähnlichkeit mit den Turbulenzen im Innern der Lampe aufwies. "Oh Scheiße, hat sowas schon mal jemand gesehen?", fragte Nataliya. Sie erhielt keine Antwort, weil alle abwechselnd auf die Lampe und auf den Monitor starrten. "Das ist besser, als jedes Atomkraftwerk. Das Ding solltest du dir keinesfalls auf den Nachttisch stellen", murmelte Schabeck, wie hypnotisiert auf das tanzende Licht schauend. Josh begann auf der Computertastatur rumzuhacken. Auf dem Monitor erschienen zwei Zahlenreihen, die für weitere Verwirrung sorgten. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Luft im Labor stark nach Ozon roch, eine Folge der hohen elektrischen Spannung. Die zweite Zahlenreihe zeigte die Stromstärke an. 285 Ampere! Und das, obwohl nur 1 Ampere in die Lampe floss. "Schalt das Ding ab", hauchte Schabeck, "darüber sollten wir erst einmal nachdenken. Und haltet die Klappe, klar?" Ihm dämmerte, dass sie etwas entdeckt hatten, das die Welt verändern konnte. In der Nacht lag er wach und hatte unentwegt das pulsierende Licht vor Augen, dass allen Naturgesetzen zum Trotz nicht gradlinig verlief, sondern nie gesehene Formen erzeugte. Kurz vor der Morgendämmerung hatte er eine diffuse Idee, die irgendwie darauf basierte einen kleines Stück Metall in die Lampe zu bringen und zu sehen, was das krumme Licht damit anstellen würde. Er war jedoch viel zu müde, um noch klare Gedanken bilden zu können und schlief unruhig ein.

Der Mandelbrotgenerator

24.06.1999

Von diesem Morgen an drehte sich in dem kleinen Labor in Stadthagen alles nur noch um die Wunderlampe, wie Nataliya das Ding inzwischen getauft hatte. Eckie baute eine Öffnung ein, durch die man kleine Gegenstände in die Lichturbulenz bringen konnte. Als erstes versuchten sie es mit einer kleinen Aluminiumkugel. Nachdem die Wunderlampe ihre Spannung erreicht hatte und Josh die Messgeräte anschgeschlossen hatte, ließ Nataliya die Kugel in das Innere der Mandelbrotlampe fallen. Die Kugel fiel in die Lichtturbulenz und blieb plötzlich in der Mitte hängen. Sie schwebte in dem pulsierenden Licht und fiel nicht weiter! "Moment Professor, was ist denn jetzt schon wieder los?", fragte Josh, "Erst setzen wir die Gesetze der Elektrizität und der Photonik ausser Kraft und jetzt auch noch die der Gravitation! Ich schätze Einstein kommt gleich aus seinem Grab, wenn er das hier irgendwie mitkriegt." Keiner der Beteiligten war in der Lage die Dinge zu erklären, die hier geschahen. Die Kugel schwebte nach wie vor im Licht. Die Luft roch nach Ozon und erst jetzt hörten sie einen schwachen Brummton, der mit dem Pulsieren des Lichts einher ging. Keiner von ihnen besaß die Ausbildung, um die Vorgänge auch nur anährend zu deuten, aber sie waren längst im Bann ihrer Entdeckung gefangen.


Die nächsten Tage vergingen damit, dass sie immer neue Dinge mit der Wunderlampe anstellten. Sie hatten kein Programm und keine Systematik in ihrem Handeln, sondern handelten wie Kinder, die etwas neues probierten. "Ich glaube, es wird Zeit, dass sich Leute mit dem Ding befassen, die etwas davon verstehen", meinte Nataliya am Ende der Woche, "wir flickschustern hier doch nur mit etwas rum, von dem wir keine Ahnung haben." "Klar, aber was, wenn das die falschen Leute in Hände bekommen?", hielt Josh ihr entgegen. "Ich denke," sinnierte Schabeck, "wir sollten das Ganze noch für uns behalten. Zumindest solange, bis wir uns darüber im Klaren sind, an wen wir uns wenden können."

02.07.1999
Jörg Schabeck hatte neben den Fraktalen noch ein weiteres Hobby. Er interessierte sich von Kindesbeinen an für Astronomie und Raumfahrt. Die ersten bewussten Fernsehbilder, an die er sich erinnern konnte, waren die von Neil Armstrongs ersten Schritten auf dem Mond. 5 Jahre war er damals alt und seitdem ließ ihn der Weltraum nicht mehr los. Mit 12 Jahren bekam er sein erstes Teleskop durch das er nächtelang den Mond betrachtete. Heute war er Mitglied in der Mars Society, einem Verein von Weltraumenthusiasten, der die Erforschung des Roten Planeten unterstützte und ein bemanntes Marsprogramm favorisierte. An diesem Abend fand eines der regelmäßigen Treffen kleinen Mars Society Gruppe in Norddeutschland statt. Es ging um eine simulierte Marsstation, die Kollegen von der amerikanischen Mars Society auf Devon Island im Norden Kanadas errichten wollten. Dort waren die Gegebenheiten denen auf dem Mars sehr ähnlich. Am Ende des Treffens wandte sich Jörg Schabeck an Dr. Volker Mang, der bei einem Raumfahrtunternehmen in Bremen tätig war. "Kannst du mich eventuell in den nächsten Tagen in meinem Labor in Stadthagen besuchen? Ich möchte dir etwas zeigen, was ich weder verstehe, noch zu glauben vermag." "Worum geht es dabei?", fragte Dr. Mang verwundert. "Das kann ich dir hier nicht erklären. Du würdest es sowieso nicht glauben, wenn du es nicht gesehen hast. Es ist, nun ja, etwas Besonderes." Mang wirkte wenig überzeugt. Als Physiker war er es gewohnt anhand von Fakten und nicht anhand von vagen Andeutungen zu handeln. "Bitte, es ist mir wirklich wichtig", unterstrich Schabeck sein Ansinnen. "Okay, dann bin ich morgen bei dir. Aber wehe es ist kein echter Knaller", erwiderte Mang. "Es ist ein Knaller und was für einer." Mit diesen Worten verließ Schabeck den Sitzungsraum.

03.07.1999
Dr. Volker Mang zweifelte plötzlich an allem, was er je über Physik gehört hatte. Während Nataliya und Josh ihm vorführten, welche Kunststücke die Wunderlampe vollbringen konnte, versuchte Schabeck ihm zu erklären, wie dieses seltsame Ding entstanden war. Mang hörte ihm kaum zu. Er drehte sich plötzlich um, dachte einen Moment nach und sagte dann "Bastelt noch so ein Ding, damit wir ein Vergleichsmodell haben. Als nächtes baut ein Modellauto, auf dem man dieses Ding montieren kann. Ich habe da so eine Idee. Jörg, du bringst eine Spannungsregelung für den Eingangsstrom an. Stattet das Ding mit einer Autobatterie aus, das sollte reichen. Ich bin in einer Woche wieder bei euch. Schafft ihr das? Und fragt mich nicht, was das ist oder was darin vorgeht. Was wir hier haben widerspricht allen Naturgesetzen. Das Ding dürfte es eigentlich gar nicht geben. Wenn ich es nicht gerade selber sehen würde, würde ich sagen das unser Freund Schabeck ein absoluter Oberspinner ist. Du hast recht gehabt, Jörg. Das Ding ist ein Knaller und wenn ich recht habe, sogar der Oberknaller."


10.07.1999
Auf der Werksstraße stand ein Auto. Das war sicher nichts Besonderes. Nur, dass dieses hier an Hässlichkeit kaum zu überbieten war. Es handelte sich im Grunde genommen um eine Metallplatte mit vier Rädern darunter. Die Reifen hatten sie aus dem Modellbauladen. Auf der Platte stand vorne eine Autobatterie. Dahinter war die Fernsteuerung montiert. Auf dem hinteren Drittel der Platte ruhte Nataliyas Nachttischlampe und streckte die Spitze über den Plattenrand hinaus. Das Gefährt sah aus wie eine Kreation von Dr. Frankenstein und wies vermutlich die Aerodynamik einer finnischen Schrankwand auf. Josh hatte an der Seite ein Schild mit der Aufschrift Ugly Sumo angebracht. So sah das Gefährt auch aus, wie ein überaus fetter Sumo Ringer, der hinter einer Autobatterie lag. Schabeck und Mang hatten an der Wunderlampe einige Veränderungen vorgenommen. Statt Licht wurde jetzt direkt elektrische Spannung verwendet. Außerdem hatten sie die Spannungsquelle weiter vorne im sogenannten Seepferdchental der Mandelbrotmenge platziert. Laut Dr. Mang könnte dann Licht an der Spitze austreten. Das wäre dann so etwas wie ein Photonentriebwerk, ließ er die anderen wissen. Photonenantriebe sind ein beliebtes Spielzeug von Science-Fiction Autoren, die damit Raumschiffe in fremde Galaxien vordringen ließen, die nie zuvor ein Mensch gesehen hat. Der kleine Unterschied war, dass das hier kein Science-Fiction Roman war, sondern die ungeschminkte Realität.

Sie hatten sich Schweißerbrillen besorgt, weil Mang die Sorge geäußert hatte, dass das entstehende Licht sehr hell sein könnte. Für ihren Versuch warteten sie, bis alle anderen Mitarbeiter das Werksgelände verlassen hatten. Zu fünft standen sie hinter Ugly Sumo, der darauf zu warten schien, das man ihn losließ. Schabeck hatte die Funkfernsteuerung in der Hand, während Eckie mit seiner Videokamera herumhantierte. Die Nervosität war allen anzumerken. "Wenn das Ding fährt", sagte Volker Mang, "dann ist das eine der größten Erfindungen seit der Entwicklung des Mikrochips. Ist euch eigentlich klar, was ihr hier entdeckt habt?" So recht war das noch keinem bewusst geworden, an sich wollten sie ja nur eine Nachttischlampe bauen. Dann war es soweit. Schabeck betätigte die Fernsteuerung. Zunächst geschah wenig. Die Wunderlampe fing an zu brummen, das war aber auch alles, was zu vernehmen war. Nach fünf Minuten begann sich ein Licht zu entwickeln, das langsam heller wurde und in allen Farben und Formen in der Lampe tanzte. Eckie hielt die Videokamera darauf gerichtet. Das Lichtfeld begann sich in Richtung der Spitze der Mandelbrotmenge zu bewegen. Das Brummen war inzwischen deutlich hörbar.

Nach etwa zehn Minuten trat das Licht aus der Spitze aus und Ugly Sumo schoss plötzlich mit ungeheurer Geschwindigkeit davon. Sie sahen nur noch einen bunten Lichtball und hörten Sekunden später einen Knall. Kurz darauf einen zweiten, der sich optisch darin äußerte, dass der rasende Sumo Ringer in einen Stapel leerer Kabeltrommeln am Ende des Werksgeländes gekracht war und eine davon buchstäblich in Sägespäne verwandelt hatte. Schabeck stand mit offenem Mund da und stierte mit einem völlig blöden Gesichtsausdruck auf die Staubwolke, die sich langsam verzog. Den anderen ging es nicht anders. Einzig Eckie filmte fleißig weiter. Volker Mang fand als erster Worte, aber auch ihm war die Aufregung deutlich anzumerken. "Austritt des Lichtfelds, dann offenbar Überschallknall, sofortige Beschleunigung, das das ist einfach unglaublich!", brabbelte er vor sich hin. Josh sagte nur "Wow, cool", und die anderen betrachteten den Trümmerhaufen, den Ugly Sumo hinterlassen hatte. Schabeck rannte, immer noch mit der Fernsteuerung um den Hals los und erreichte das Gefährt als erster. Ugly Sumo lag in seine Einzelteile zerlegt zwischen den Holztrümmern. Die Grundplatte war als einziges noch in einem Stück vorhanden. Die Batterie hatte ein Loch in den Werkszaun gerissen und lag ca. 50 Meter entfernt auf dem angrenzenden Getreidefeld. Die Wunderlampe steckte schwer deformiert in den Überresten einer Kabeltrommel und der Rest lag irgendwo. Eckie war ebenfalls angekommen und filmte den Trümmerhaufen. "Was machen wir jetzt?" fragte Schabeck. "Aufräumen und das Loch im Zaun zustellen.", antwortete Nataliya, die inzwischen zusammen mit den anderen ebenfalls vor dem Trümmerhaufen stand. Jetzt plapperten alle durcheinander. Jeder machte der Spannung der letzten Minuten Luft. Dann begannen sie die Trümmer zu beseitigen und die Einzelteile ihres Versuchsautos einzusammeln.

Nach getaner Arbeit saßen fünf aufgeregte, ratlose und maßlos begeisterte Leute im Labor zusammen und sahen sich Eckies Video auf dem Computer an. In der Verlangsamung waren Details der Fahrt zu erkennen. Es zeigte sich, dass das Fahrzeug kurz vor dem Einschlag vom Boden abgehoben hatte und etwa einen halben Meter an Höhe gewonnen hatte, bevor die Fahrt von der Kabeltrommel abrupt gestoppt wurde. Auch die Geschwindigkeit ließ sich aus der Videoaufzeichnung errechnen. Ugly Sumo war mit rund 1400 Kilometer/h in die Trommel gerast, was den Überschallknall und den erbärmlichen Zustand des Einschlagortes erklärte. "Wir brauchen eine bessere Spannungsregelung und vor allem eine Bremse an dem Ding", bemerkte Schabeck nach einer Weile. Dr. Mang kritzelte währenddessen Skizzen auf einen Block. "Ich glaube", sagte er, "wir sollten das Ding umbenennen. Wunderlampe erscheint mir ein etwas unwissenschaftlicher Name zu sein. Wie wäre es mit Mandelbrotgenerator?" Keiner hatte etwas dagegen. Schabeck meldete sich zu Wort. "Wie machen wir jetzt eigentlich weiter? Ich meine, gehen wir einfach zum Max-Planck-Institut und drücken denen das Ding in die Hand oder was sollen wir tun?" Josh schüttelte den Kopf. "Ich denke gerade daran, was die falschen Leute damit anfangen könnten. Stellt euch nur vor, das Militär kriegt das in die Finger!" Schabeck wusste, was Joshua damit meinte. Bevor er den Job hier in Stadthagen angetreten hatte, war er für einen Rüstungsbetrieb tätig. Er begann sich vorzustellen, was findige Waffenbauer mit einem Mandelbrotgenerator anstellen konnten. "Nein", sagte er, "wir können damit nicht einfach an die Öffentlichkeit spazieren. Bislang wissen nur wir davon und das sollte auch so bleiben." Volker Mang hatte inzwischen eine Skizze gezeichnet, die etwas zeigte, das ein Flugzeug zu schein schien. "Ich bin auch dagegen damit sofort an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich würde das vielmehr mit unseren Leuten von der Mars Society diskutieren wollen. "Was hat denn die Mars Socitety damit zu tun?", wollte Nataliya wissen. "Ganz einfach", antwortete Schabeck, der erraten hatte, worüber Mang nachdachte. Mit einem Blick auf Mangs Skizze sagte er "Wir haben einen Antrieb erfunden, von dem jeder Raumfahrer nur träumen kann. Ein Raumschiff mit einem Mandelbrotgenerator könnte mühelos zum Mars oder sonst wohin fliegen." "Ja," bestätigte Dr. Mang, "und was wäre, wenn die Mars Society so ein Schiff bauen könnte?"

Entscheidungen

12.09.1999
Aus Ugly Sumo war inzwischen ein Fluggerät entstanden. Es sah immer noch relativ plump aus und erinnerte stark an den ersten Senkrechtstarter, die englische Short SC1. Technisch hatten Schabeck und seine Mitstreiter etliche Modifizierungen eingebaut, die das ca. zwei Meter lange Fluggerät beherrschbar machten. Sie waren zwischenzeitlich in der Lage den Mandelbrotgenerator präzise zu steuern. Zwar hatte immer noch niemand eine Ahnung, welche Vorgänge die ungeheure Kraft des Generators erzeugten, aber sie konnten diese Kraft immerhin steuern und beherrschen. Die Tragflächen des Fractal Flyers waren mit Solarzellen bestückt. Josh hatte einen kleinen Computer eingebaut und eine Software entwickelt, mit der sich das Flugzeug fliegen ließ. Außerdem war eine Kamera an Bord und verschiedene Messgeräte, die Daten über den Zustand der Maschine erfassten. Nataliya hatte eine Haut aus Kohlefaser-Verbundwerkstoffen entwickelt, die mit den hohen Temperaturen im Flug fertig werden würden. Die ersten Versuche mit dem Fractal Flyer waren allerdings nur kleine Hüpfer. Durch den Einbau von vier kleineren Mandelbrotgeneratoren konnte das Gerät senkrecht starten und landen. Zudem fungierte ein nach vorn gerichteter Antrieb als Bremse. Sie führten die Versuche auch nicht mehr auf dem Werksgelände durch. Dort gab es zuviele Augen.

Eckies Vater betrieb in der Nähe einen landwirtschaftlichen Betrieb. Dazu gehörte eine alte Scheune, die sehr einsam gelegen auf einem der Felder stand. Dieser Ort war ideal für weitere Versuche. Eckie hatte in der Scheune eine kleine Werkstatt, in der er normalerweise an alten Autos rumschraubte. Sein Vater nutzte die baufällige Halle schon lange nicht mehr. Unterdessen hatte die Werksleitung in Stadthagen mit der Stillegung der Fabrik begonnen. Dazu gehörte auch, dass die Maschinen verkauft wurden. Da das Werk von der Konzernmutter in Paris ohnehin längst abgeschrieben war, wurden viele Maschinen zum symbolischen Preis von einer Mark angeboten. Das Fractal Flyer Team erstand auf diese Art und Weise eine stattliche Ausrüstung. Unter anderem nahm Schabeck fast sein gesamtes Labor mit. Josh erstand sieben PC's und Nataliya kaufte sich einen Gabelstapler. Horst Wangerin, der scheidende Werksleiter stand kopfschüttelnd dabei, als sie einiges davon auf den Gummiwagen von Eckies Vater verluden. "Was wollen Sie bloß mit dem ganzen Zeug?", fragte er. "Ooch, wir werden wohl auf Vatis Hof eine kleine Spritzgussbude aufmachen", log Eckie. "Na ja", Horst Wangerin wußte, dass seine Leute durchaus dazu fähig wären, "das kann ich ja eigentlich nur unterstützen. Bevor Sie auch beim Arbeitsamt anstehen, ist eine Existenzgründung sicher die bessere Alternative. Wenn Sie wollen, gehört das Materiallager für, sagen wir 10 Mark ebenfalls Ihnen. In Frankreich wollen sie das Zeug nicht haben und ich müsste es sonst entsorgen lassen. Das widerrum würde die Stillegungskosten ziemlich in die Höhe treiben." Und so war das Team auch mit Kunststoffen, Metallen und diversen anderen Materialien bestens versorgt.

In den folgenden Tagen fuhr Eckie ununterbrochen zwischen der Scheune seines Vaters und dem Kabelwerk hin und her. Er erntete jedes Mal neugierige Blicke, wenn er mit dem Traktor seines Vaters und einem vollbeladenen Gummiwagen durch die Stadt kutschierte, aber niemand machte sich ernsthaft Gedanken darüber, was da eigentlich vorging. Allmählich war die Scheune voll und die Dinge stapelten sich um das Gebäude herum. "Das ist nicht gut.", stellte Schabeck fest. "Was ist, wenn hier irgendein Vogel von der Gewerbeaufsicht oder was weiß ich woher auftaucht und sich für den ganzen Krempel interessiert?" Schabeck hatte Recht, fanden die anderen. Vorläufig konnten sie noch vorgeben, hier ein Unternehmen aufbauen zu wollen. Wenn sie das jedoch taten, dann ging mußten sie auch das notwendige Genehmigungsverfahren durchlaufen, die notwendige Infrastruktur bereitstellen, Umweltprüfungen durchlaufen und und und.... Am besten wäre es, wenn überhaupt niemand merkte, was hier geschah. Die rettende Idee kam von Nataliya. "Wir unterkellern die Scheune", lautete ihre Lösung für das Problem. "Wir sind mit Sicherheit in der Lage einen Bagger zu bauen, der mit einem Mandelbrotgenerator läuft und damit über unerschöpfliche Ernergie verfügt. Damit schaffen wir unter der Scheune eine Produktionsstätte. Das müsste doch möglich sein." Schabeck dachte kurz darüber nach. "Wenn wir es richtig betrachten, ist uns fast alles möglich. Wir besitzen die effizienteste Energiequelle, die es jemals gab. Es gibt eigentlich nichts, was wir nicht tun könnten. Wir haben das nötige Material und Eckie kann sowieso fast alles bauen." Erst jetzt wurde er sich bewusst, dass sie dem Rest der Welt ein gutes Stück voraus waren. Er dachte daran, wie verrückt das eigentlich war, was in den letzten Monaten stattgefunden hatte. Bislang waren sie so mit ihrer Entdeckung beschäftigt gewesen, dass sie gar nicht registriert hatten, dass sie die Tür in ein neues Zeitalter aufgestoßen hatten. Und das in einer alten, windschiefen Scheune. Schabeck fing plötzlich an zu lachen. Er konnte sich über den Gag, dass die Zukunft der Menschheit in einer Scheune in Stadthagen beginnen sollte kaum einkriegen. "Nun denn", Josh sah ihn zweifelnd von der Seite an, "das erste Opfer des neuen Zeitalters."

In den folgenden Wochen entstand eine unter der Scheune eine riesige Halle. Eckie hatte mit Josh innerhalb weniger Tage einen Roboter konstruiert, der nun seinem Programm folgend, unaufhörlich grub. Inzwischen hatte Volker Mang einige führende Mitglieder der Mars Society informiert. Alle waren sich im klaren darüber, dass der Mandelbrotgenerator vorläufig ihr Geheimnis bleiben musste. Und alle waren wie elektrisiert von den Möglichkeiten, die ihnen jetzt offenstanden.

26.11.1999
Die Gruppe aus führenden Mitgliedern der deutschen Mars Society stand in der neuen Halle unter der Scheune. Sie hatten in den letzten Tagen den Fractal Flyer getestet, optimiert, wieder getestet und wieder optimiert. Das Modell hatte bei seinem letzten Flug eine Höhe von 84 Kilometer erreicht und war punktgenau wieder vor der Scheune gelandet. Heute lag der Entwurf für ein richtiges Raumschiff auf dem Tisch. Die Mars Society bestand hauptsächlich aus Raumfahrttechnikern, Planetologen und Astronomen, aber auch aus Laien aus allen möglichen Berufsgruppen. Somit war es wenig verwunderlich, dass der Entwurf, den sie heute diskutierten, bereits weitgehend ausgereift war. An diesem Abend fiel nicht nur der Beschluß das Schiff zu bauen, sondern es wurden auch Projektgruppen gebildet, die verschiedene Aufgaben hatten. Von der Planung der Produktionsstätte, bis zur Entwicklung von Lebenserhaltungssystemen. Jetzt unterhielten sich die Profis.

Schabeck saß am Rand der Veranstaltung und hielt gedankenverloren die Überreste des Mandelbrotgenerators in der Hand, mit dem Ugly Sumo in die Kabeltrommeln gekracht war. Der Planetologe Dr. Markus Landgraf beendete vorne gerade einen Vortrag über mögliche Landestellen auf dem Mars, als die kleine Aluminumkugel, die Schabeck vor vier Monaten in das Lichtfeld hatte fallen lassen aus einem Loch in der Wunderlampe fiel. Schabeck betrachtete das kleine Stück Metall in seiner Handfläche. Irgendwie hatte er sie viel größer in Erinnerung gehabt. Das ihm das erst jetzt auffiel, lag vermutlich daran, dass die Kugel nach wie vor das gleiche Gewicht zu haben schien. Aber ihr Umfang war deutlich kleiner als damals. Er nahm seinen Taschenrechner zur Hand und begann das Gewicht der Kugel zu berechnen. Eine Aluminiumkugel mit einem Durchmesser von zehn Millimetern hatte ein Volumen von 0,524 Kubikzentimetern. Daraus ergab sich eine Masse von 1,415 Gramm. Schabeck nahm einen Meßschieber und bestimmte den Durchmesser der Kugel. Sie war jetzt noch 3,38 Millimeter groß. Er stand auf und ging zur Analysenwaage. Die Kugel wog 1,415 Gramm! Verdutzt nahm er das winzige Stück Metall aus der Waage. Er ging zum Spektrometer, um den Werkstoff der Kugel zu analysieren. In der Zwischenzeit waren die Anwesenden auf sein Tun aufmerksam geworden und schauten in seine Richtung. Schabeck führte die Analyse am Spektrometer durch und stellte fest, dass die Kugel aus dem bestand, woraus sie immer bestanden hatte: Aluminium! Erst jetzt drehte er sich zu den anderen um, die ihn teils verwundert, teils ärgerlich ansahen. "Scheiße Leute, es ist schon wieder was passiert", teilte er der erstaunten Versammlung mit.

Raimund Scheucher, der vorne gerade mit seinem Vortrag über ein Steuersystem für das Marsschiff begonnen hatte, sah verärgert in Schabecks Richtung. "Und was möchtest du uns mit dieser hochwissenschaftlichen Äußerung mitteilen?", fragte er. Jörg Schabeck ging nach vorne und legte die Kugel auf den Tageslichtprojektor. Er kramte nach einer Folie mit Millimeterpapieraufdruck und schob diese unter die Kugel. "Ich habe eine kleine Denksportaufgabe für euch. Diese Kugel war vor 4 Monaten noch zehn Millimeter groß. Dann haben wir sie in den ersten Mandelbrotgenerator getan und festgestellt, dass sie im Lichtfeld offenbar schwerelos war. Und dann haben wir sie einfach vergessen." Raimund blickte auf das Bild der Kugel an der Wand, während sich nach und nach andere Teinehmer von ihren Plätzen erhoben und nach vorne kamen. "Die Kugel hat nach wie vor ihr ursprüngliches Gewicht und ist nach wie vor aus Aluminium", erzählte Schabeck weiter. "Sie hat nur ihren Durchmesser um den Faktor 2,96 verringert und hat damit jetzt eine Dichte von 69,98 Gramm pro Kubikzentimeter. Das ist mehr als irgendein bekanntes Material. Ich denke da ist das Wort Scheiße wohl die wissenschaftlichste Äußerung, die man wählen kann." Raimund nahm die Kugel in die Hand. "Wahnsinn, verdichtete Materie", sagte er völlig geistesabwesend mehr zu der Kugel, als zu seiner Zuhörerschaft. "Also noch eine Projektgruppe", fuhr er fort, "wer das erklären kann ist mit Sicherheit reif für zehn Nobelpreise. Ob das auch mit anderen Werkstoffen geht?" Markus Landgraf nahm die Kugel in die Hand. "Dieses Dingenskirchen hier ist so etwas wie ein kleiner Neutronenstern", bemerkte er, "oder ein Schwarzes Loch oder sowas." "Es war aber doch ganz anderen Bedingungen ausgesetzt.", meinte Schabeck. "Was wissen wir denn über die Bedingungen, unter denen die Veränderung eingetreten ist?", fragte Raimund Scheucher. "Nicht viel", gestand Schabeck ein. Man beschloß dem Phänomen nachzugehen.

Nur langsam kamen sie wieder zu ihrer geplanten Tagesordnung zurück. Wissenschaftler sind nämlich meistens nicht sonderlich diszipliniert. Am Ende des Abends hatten sie dennoch eine Marschrichtung festgelegt. Man wollte innerhalb der nächsten drei Jahre zum Mars fliegen und man wollte es unter Ausschluss der Öffentlichkeit tun. Einzig ausgewählte Mitglieder der Mars Society, vor allem in den USA sollten einbezogen werden. Weitere Pläne sahen vor, dass man auf dem Mars eine Station errichten wollte, die dauerhaft besetzt sein sollte. Das Ziel hieß Valles Marineris, der große Krustenbruch auf dem Roten Planeten. Die Entscheidungen waren gefällt, jetzt begann die Arbeit. Man einigte sich auf ein System, um die Tätigkeiten so geheim, wie möglich zu halten. Und wenn man etwas geheim halten wollte, war es das beste, es in aller Öffentlichkeit zu tun. Auf der Internetseite der Mars Society wurde dafür ein Bereich eigerichtet der mit Science-Fiction betitelt wurde. Hier erschienen die Arbeiten in Form von Science-Fiction Stories, die interessant aber eben doch Science-Fiction waren. Die Mitglieder der Mars Society wussten, dass sich Geheimdienste in aller Welt mit der Überwachung von Internetseiten befassten. Man wollte so Extremisten auf die Spur kommen, Kinderpornographie eindämmen und das organisierte Verbrechen kontrollieren. Die Mars Society stand dabei überhaupt nicht im Interesse irgendeines Geheimdienstes. Das war einfach nicht der Stoff, von dem eine Gefahr ausging. Für Geheimdienstler war die Mars Society eine Ansammlung von Spinnern, die ihrem Hobby nachging, mehr nicht. Eine bessere Tarnung war eigentlich nicht vorstellbar.

Reisepläne

18.03.2000


Draußen war es bitterkalt. In der Nacht hatte es Neuschnee gegeben, was es schwierig machte, die Scheune mit dem Auto zu erreichen. Trotzdem waren alle da. Denn heute war der Tag an dem das Marsschiff fertig in der Halle stand. Unter der einsamen windschiefen Scheune in der Nähe von Stadthagen stand das fortschrittlichste Vehikel, das Menschen je gebaut hatten. 52 Meter lang und mit einer Spannweite von 22 Metern stand dort ein schwarz glänzender Vogel, der aufs Haar dem FractalFlyer glich. Während der letzten Monate hatten Schabeck und Nataliya mehr über die seltsame Verkleinerung der Kugel herausgefunden. Das Ergebnis war die schwarze Hülle des Raumschiffes, die aus hoch verdichtetem Polyethylen bestand. Dieser Werkstoff hatte jetzt eine Dichte von 7 Gramm pro Kubikzentimeter. Der Schmelzpunkt lag bei 2038°C. Die Festigkeit war höher als die der Panzerung eines Leopard II Panzers der Bundeswehr. Die Hülle des Schiffes bestand aus zwei Schichten, zwischen denen sich Wasser befand. Das schützte die Insassen vor der harten kosmischen Strahlung, die sich bei starker Sonnenaktivität noch erhöhen konnte. Für das Cockpit hatten Raimund und Josh ein System entwickelt, das dem im Eurofighter recht ähnlich war. Das Schiff war für eine Besatzung von zwölf Astronauten ausgelegt, von denen jeder eine eigene Kabine hatte. Schabeck und Nataliya gehörten ebenfalls zur geplanten Besatzung. Sie brauchten allerdings nur noch eine Kabine. Vor zwei Monaten war geschehen, was eigentlich schon lange kein Geheimnis mehr war. Die beiden hatten sich endlich gefunden.

Neben den deutschen Mitgliedern der Mars Society waren heute zum ersten mal auch die Amerikaner, Engländer und Österreicher dabei. Dr. Robert Zubrin, der amerikanische Präsident der weltweit tätigen Organisation stand vor dem Schiff. Neben ihm standen Stephen Baxter aus England und Manfred Hettmer aus Österreich. Im Hintergrund standen Dr. Pascal Lee und Dr. Kristian Pauly. Der Schriftsteller Kim Stanley Robinson, der Regisseur James Cameron und der Schauspieler Bruce Boxleitner standen etwas weiter hinten. Rundherum tuschelten weitere Marsianer. Neben Dr. Zubrin erkannte Schabeck das wohl prominenteste Mitglied der Mars Society, den Astronauten Buzz Aldrin. Schabeck fiel heute die Aufgabe zu, die Gäste zu begrüßen und das Schiff zu erklären. Er war sichtlich nervös aber gleichzeitig stolz wie ein Pfau. Nataliya stand neben ihm, nicht weniger aufgeregt. Josh, Eckie und Volker Mang gesellten sich dazu. Schabeck trat an das Mikrofon und wusste plötzlich nicht mehr, was er sagen sollte. Also sagte er auf Deutsch "Scheiße, was mach ich denn jetzt?" Das eingeschaltete Mikrofon gab diesen historischen Redebeginn sauber verstärkt an die Zuhörerschaft weiter. Die deutschsprachigen Anwesenden brachen in Gelächter aus, die anderen wandten ihm ihre Gesichter zu. Schabeck fasste sich und begann in englischer Sprache zu reden.

"Heute ist der erste Tag eines neuen Zeitalters für die Menschheit. Was Sie hier sehen, ist das Schiff, welches die ersten Menschen zu einem anderen Planeten bringen wird, zum Mars!" Tosender Beifall unterbrach ihn. "Wir sind heute hier, um Ihnen etwas zu zeigen, was noch vor einem Jahr schlichtweg undenkbar gewesen wäre. Wir stehen vor einem Raumschiff, dass so revolutionär ist, dass es sich mit nichts auf dieser Welt vergleichen lässt. Einem Schiff, dessen Fähigkeiten wir heute nicht einmal annähernd kennen. Ich darf nun Mr. Buzz Aldrin zu mir bitten, um dieses Schiff zu taufen. Mr. Aldrin, bitte." Der alte Mann trat unter dem Beifall der Anwesenden an das Mikrofon.

"Als wir 1969 auf dem Mond landeten", begann er, "waren Michael Collins, Neill Armstrong und ich die Männer auf dem höchsten Gipfel, den Menschen je bezwungen hatten. Wir blickten damals hinaus zu den Sternen und stellten uns vor, wie andere Menschen weiter als wir reisen würden, um die Wiege der Menschheit zu verlassen und das Universum zu besiedeln. Wir waren damals sicher, dass die amerikanische Nation noch vor dem Jahr 2000 Menschen zum Mars entsenden würde. Nichts schien an diesem 20. Juli 1969 unmöglich zu sein. Die Geschichte hat sich anders entwickelt. Aber heute, nach 31 Jahren stehen wir wieder an der Schwelle zu einem großen Schritt für die Menschheit. Leider findet dieser Schritt im Verborgenen statt, aber auch das haben uns die vergangenen Jahrzehnte gelehrt. Die politische und moralische Weltlage erlaubt es uns einfach nicht, die gewaltige Entdeckung von Jörg und seinem Team öffentlich zu machen. So sehr ich das auch bedauern mag, so verstehe ich doch die Gefahren, die der Mandelbrotgenerator mit sich bringt. Im Endeffekt ist es jedoch gleichgültig, ob der Schritt zum Mars öffentlich stattfindet oder nicht. Es ist nur wichtig, das wir ihn machen. Ich bin heute hier, um dieses Schiff zu taufen. Ich bin aber der Meinung, das diese Ehre mir gar nicht zusteht. Hätte die junge Dame zu meiner Linken vor neun Monaten nämlich keine Nachttischlampe haben wollen, wären wir heute alle nicht hier. Deshalb möchte ich jetzt Nataliya bitten das für mich zu übernehmen."

Buzz Aldrin wandte sich Nataliya zu, die sprach- und bewegungslos dastand. Er nahm ihre Hand, führte sie zu der Champagnerflasche, die nach alter Tradition beschafft worden war und sagte "Na los Mädchen oder soll das Ding keinen Namen haben?" Nataliya nahm die Flasche und versuchte sich daran zu erinnern, was man bei so etwas sagte. Aldrin flüsterte "Ich taufe dich auf den Namen...." "Ich taufe dich auf den Namen Mars Discovery!", hauchte Nataliya in das Mikrofon, das ihr der zweite Mann auf dem Mond vor den Mund hielt, "Möge das Glück auf allen deinen Fahrten mit dir sein und möge deine Mission allen Menschen dieser Erde dienen", fügte sie mit festerer Stimme hinzu. Dann zerbarst die Flasche am schwarzen Rumpf und erneut gab es tosenden Beifall. "Na also, besser hätte ich alter Knacker das auch nicht hingekriegt", sagte Aldrin in das Mikrofon.

Inzwischen knallten in der Menge die Sektkorken. Mit ihren Gläsern bewaffnet begaben sich die Anwesenden nacheinander in das Innere der Mars Discovery. In kleinen Gruppen besichtigten sie das Schiff unter Schabecks sachkundiger Führung. Dann wurde das Astronautenteam bekannt gegeben. Das tat Dr. Robert Zubrin. "Als erstes möchte ich das unbedeutendste Mitglied der Crew benennen, mich selbst." Diese Bemerkung erzeugte allgemeines Gelächter. Selbstverständlich würde der Präsident der Mars Society mit dabei sein. "Ich habe hier aber noch 11 weitere Namen, von denen unter euch, die mich auf dieser Reise begleiten werden: Jörg Schabeck wird von nun an der Commander der Mars Discovery sein, Joshua Tchao wird den ganzen IT-Krempel und die Kommunikation regeln. Nataliya Moiseyenko wird unsere 1. Pilotin sein. Manfred Hettmer wird den Mars Rover fahren. Markus Landgraf darf auf dem Mars buddeln und zwar zusammen mit Sven Knuth und Pascal Lee. Heike Wierzchowski ist zusammen mit Jaqueline Myhrre für die Dokumentation verantwortlich. Und Volker Mang wird den Mandelbrotgenerator betreuen." Danach verlas Zubrin die Namen des Ersatzteams und der Bodenkontrolle. Die Weichen zum Mars waren damit gestellt. Was nun folgte, würden zwei Jahre harter Arbeit sein. Arbeit, die heimlich und neben den eigentlichen Jobs verrichtet werden musste.


11.09.2000

Eckie, Josh und Schabeck hatten neben der Scheune inzwischen tatsächlich ein kleines Unternehmen mit 15 Mitarbeitern aufgebaut. Dort stellten sie mit Hilfe eines gut getarnten Mandelbrotgenerators leicht verdichtetes Polyethylen her. Der Kunststoff war gerade soweit verdichtet, dass die Manipulation nicht auffiel, aber in seinen Eigenschaften den herkömmlichen Kunststoffen überlegen war. Auch gerade soviel, dass es nicht sonderlich auffiel. Wie dem auch sei, das Zeug ließ sich gut verkaufen und brachte genug Geld, um den Lebensunterhalt damit zu bestreiten. Keiner der Beschäftigten in Eckies Firma ahnte, was unter ihren Füßen geschah. Dort wurde mit Feuereifer an der Mars Discovery gebastelt. Der schwarze Rumpf füllte sich langsam mit der erforderlichen Ausrüstung an. Der Mars Rover war gestern fertig geworden. In der Nacht hatten sie auf den umliegenden Feldwegen die erste Probefahrt unternommen. Dabei hatten sie hier und da noch Verbesserungsbedarf entdeckt. Eines der großen Probleme war, dass das Astronautenteam über die halbe Bundesrepublik verstreut lebte. Abgesehen von Pascal Lee und Bob Zubrin, die sich in den USA befanden. Dadurch konnte immer nur ein Kernteam vor Ort sein, das die anderen per Internet auf dem Laufenden hielt. Aus dem Internet erhielten das Team auch andere wertvolle Tipps. Auf der Seite der NASA war zum Beispiel alles über Astronautentraining zu lesen. Andere Seiten befassten sich mit den notwendigen medizinischen Untersuchungen für einen Raumflug. Die Crew der Mars Discovery konnte allerdings auf vieles davon verzichten. Große Teile des Trainings und der medizinischen Untersuchungen waren aufgrund der Schwerelosigkeit in Raumschiffen unverzichtbar. In der Mars Discovery erzeugten 36 Rotoren aus verdichtetem Blei, die im Boden des Schiffes eingebaut waren ungefähr 3/5 der Erdgravitation. Das hervorragendste an dem Photonenantrieb war, dass man sich über Gewichtsprobleme nicht allzu viele Gedanken machen musste. Bei konventionellen Raumschiffen wird um jedes Gramm gekämpft, weil jedes Gramm, das in den Weltraum soll mehr Treibstoff benötigt. Das mehr an Treibstoff benötigt wieder mehr Treibstoff, um den zusätzlichen Treibstoff ins All zu bringen. Die Mars Discovery lief mit 96V Gleichstrom, die von den Solarzellen auf den Tragflächen erzeugt wurden. Daraus erzeugten die acht Mandelbrotgeneratoren die Schubkraft von sechzig Saturn V-Raketen. Und das nicht nur für ein paar Minuten, sondern kontinuierlich. Was Schabeck Sorgen machte war, dass immer noch niemand wusste, was in einem Mandelbrotgenerator wirklich geschah und wieso man damit scheinbar aus dem Nichts Energie gewinnen konnte. Er arbeitete nicht gern mit Dingen, die er nicht verstand. Jedes mal, wenn er die Generatoren der Mars Discovery sah, kam er sich vor wie Goethes Zauberlehrling. Was ihm weiterhin Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass das Schiff noch keinen einzigen Probeflug absolviert hatte. Das Problem war, das sie dabei auf den Radarschirmen der Flugüberwachung auftauchen würden. Dann würde auch sehr bald der Start- und Landepunkt bekannt sein. Alle Flugversuche wurden mit dem Fractal Flyer durchgeführt. Den konnte man immer als das hinstellen, was es war: ein Modellflugzeug. Mittlerweile waren die Missionsplaner auch so weit genug, um einen Missionsplan vorlegen zu können. Die Flugdauer zum Mars würde 34 Tage betragen, eine lächerlich geringe Zeit gegenüber konventionellen Schiffen. Richtig deutlich wurde der Unterschied aber erst, wenn man bedachte, dass der Mars zum Zeitpunkt des Abflugs 370.000.000 Kilometer von der Erde entfernt sein würde. Das bedeutete, dass sie sich mit durchschnittlich 450.000 Kilometer pro Stunde durch das All bewegen würden. In jeder Sekunde wären das etwas über 130.000 Meter. Und sie würden es kaum bemerken. Im Gegensatz zu den Apollo-Astronauten, die in den 60er und 70er-Jahren den Mond besucht hatten, würden sie es richtig gut haben. Sie würden künstliche Schwerkraft haben, Einzelkabinen, Fernsehen, Videospiele, richtiges Essen und viele andere nützliche Dinge, auf die Astronauten bislang verzichten mussten. Das nannte man wohl Fortschritt, wobei dieser Schritt nach vorn einer Kette von unglaublichen Zufällen zu verdanken war. Aber waren das nicht viele große Erfindungen? Zufälle? Unmittelbar nach der Landung auf dem Mars sollte mit dem Aufbau der Station begonnen werden. Das waren drei Gebäude, die vom Aussehen und ihrem Aufbau her der F.M.A.R.S (Flashline Mars Arctic Research Station) auf Devon Island im Norden Kanadas entsprachen. Zusätzlich gehörten ein Gewächshaus und der Marsrover mit zu den großen Ausrüstungsgegenständen. Dazu kamen allerhand Werkzeuge und andere Gebrauchsgegenstände. Die Liste der Dinge, die mitzunehmen waren schien endlos zu sein. Aber das Schiff bot viel Stauraum und um das Gewicht brauchten sie sich kaum Gedanken zu machen. Dann erfolgte die Planung der wissenschaftlichen Arbeiten, der vorgesehenen EVA's und der weiteren Ausbaustufen der Marsstation. Die Missionsdauer sollte ein Jahr betragen. Unmittelbar nach dem Start der Mars Discovery sollte in der freigewordenen Halle der Bau von zwei weiteren Schiffe beginnen, die nach drei Monaten mit der zweiten und einer dritten Crew starten sollten. Nach der Landung der Schiffe sollte die Mars Discovery wieder zur Erde zurückfliegen und Nachschub zum Mars bringen. Eines der ganz großen Probleme würde es sein, die Crewmitglieder unauffällig "verschwinden" zu lassen. Zweifellos würde das plötzliche fehlen von 36 Menschen Aufsehen erregen. Also wurde für jedes Mitglied ein persönlicher "Abtauchplan" entwickelt. Robert Zubrin würde sich beispielsweise nach Nepal begeben, um in einem Kloster neue Kräfte zu sammeln und in der Abgeschiedenheit neue Ideen für die Marsforschung zu entwickeln. Jörg Schabeck würde ein fingiertes Stipendium an einer kleinen Universität in Ohio annehmen, dort aber nie auftauchen. Heike Wierzchowski und Jaqueline Myhrre gingen auf eine Rundreise durch Afrika und so weiter. Der Missionsplan wurde ebenfalls unter der Rubrik Sciencefiction auf der Homepage veröffentlicht. Dabei wurde das Wort Mandelbrotgenerator freilich nie verwendet.


14.01.2001

In einem Nebengebäude des CIA-Hauptquartiers in Langley saßen zwei Agenten vor ihren Monitoren und analysierten die Inhalte bestimmter Internetseiten. Einer der beiden war inzwischen ein echter Fan der tollen Geschichten der Mars Society geworden. Er fand es einfach herrlich, wie diese Leute Fiktion und Realität miteinander verwoben. "Wenn man das Zeug liest könnte man glauben, die meinen es wirklich ernst", sagte der CIA-Mann zu seinem Kollegen. "Dann ist es wirklich gut gemachte Sciencefiction", antwortete dieser, "wenn du die Überzeugung hinter der Sache spürst und glaubst, das Zeug wäre wahr. Nur die Geschichte mit dem Photonenantrieb ist ziemliche Spinnerei. Aber diese Typen müssen nebenbei ein bisschen spinnen. Das gibt ihnen den Drive für die realen Jobs. Und die machen sie doch wirklich gut."


09.05.2001

In einem Nebenraum der unterirdischen Fertigungsstätte hatte die Mars Society einen Simulator installiert mit dem die Astronauten den Flug zum Mars übten. Nataliya verbrachte ganze Nächte im Pilotensitz und legte gerade ihre siebte Landung auf dem Mars hin. Es war wichtig, das jeder das Schiff fliegen konnte. Im Notfall war das unverzichtbar. Daneben stand ein Simulator für den Rover. Parallel dazu wurden in der F.M.A.R.S. auf Devon Island EVA's geübt. Leider fehlte ihnen das Geld, um alle Crewmitglieder dorthin zu schicken. Raimund Scheucher hatte einen Plan für den Start entwickelt. Man würde in der Nacht des Starts die deutsche Luftraumüberwachung unterfliegen. Dabei würde man unter Schallgeschwindigkeit bleiben, um den Knallteppich zu vermeiden. Der Kurs der Mars Discovery sollte westlich an Oldenburg vorbei zur Insel Juist führen. Sobald der starke Schiffsverkehr nördlich der ostfriesischen Inseln passiert war, würde man auf Nordkurs in Richtung Shetland-Inseln gehen und auf 30.000 Meter steigen. Nördlich der Shetlands sollte sie mit Mach 3 auf den nördlichen Polarkreis zuhalten. Auf dem 37. Breitengrad über dem offenen Meer würden sie dann senkrecht nach oben steigen und beschleunigen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Mars Discovery ca. 1700 Kilometer zurückgelegt. Der gefährlichste Teil bestand aus den 200 Kilometern, die sie über das deutsche Festland fliegen mussten. Die Luftraumüberwachung in Deutschland war im militärischen und zivilen Bereich nahezu lückenlos. Also würden sie das Radar in 60 Meter Höhe unterfliegen. Nach etwa 20 Minuten Flugzeit wären sie über dem offenen Meer. Die Mars Discovery verfügte über ein Geländefolgeradar. Der Kurs war in jeder Einzelheit im Bordcomputer gespeichert. In den vergangenen Wochen war die Crew mit Autos unterwegs gewesen und hatte jeden Punkt der Strecke mit Digitalkameras aufgenommen. Jeder Baum, jedes Haus und jedes Windrad war erfasst worden. In einem Jahr sollte der Start erfolgen. Dann würden sie wissen, ob Raimunds Plan funktionieren würde.

Take-off!

01.06.2002


Das vergangene Jahr war mit dem Training der Astronauten und der Bereitstellung der Logistik vergangen. Die Mars Discovery wurde während dieser Zeit ständig optimiert und mit der benötigten Ausrüstung voll gestopft. Heute fühlte sich die Crew fit und bereit die längste Reise der Menschheit anzutreten. Am frühen Nachmittag standen sie vor ihrem Schiff, inmitten ihrer anderen Mitstreiter. Es herrschte hektische Betriebsamkeit. Die Crew trug orange Fliegeranzüge, wie sie auch in der Bundesluftwaffe üblich waren. Auf den Overalls war das Logo der Mars Society und der Name des jeweiligen Crewmitgliedes aufgenäht. Auf dem linken Oberarm prangte das Missionswappen. Schabeck hatte sich aus einem Scherzartikelladen ein paar Plastikohren alà Mr. Spock besorgt. "Hey, das gilt nicht!", sagte Josh, "du spielst doch hier James T. Kirk." "Ich wollte aber schon immer mal Spock sein", gab Schabeck zurück, "außerdem ist das alles hier höchst faszinierend." Irgendwie lenkte sich halt jeder in diesen Augenblicken ab. Die Anspannung unter der Crew war fast greifbar zu spüren. "Okay, okay!" rief die Stimme von Björn Grieger dazwischen, "jetzt alle Mann an Bord. Das gilt auch für dich, Spocki. Troll dich, Spitzohr!" Grieger hatte aufgrund seiner Erfahrungen in der neuen Mars Desert Research Station in der Wüste von Utah die Bodenkontrolle und die Startvorbereitungen übernommen. Klaus Totzek stand ihm dabei zur Seite. Bevor die Crew sich an Bord begab verabschiedete Buzz Aldrin jeden einzelnen. Dann begaben sich alle auf ihre Plätze. Die Einstiegsluke an der Unterseite der Mars Discovery schloss sich hinter Robert Zubrin, der als letzter an Bord ging. An Bord ging jeder sofort auf seinen Platz. Sie hatten das bis zur Erschöpfung geübt. Um 17:30 startete der Countdown.


T - 5:23:56

"Steuersystem 1 klar?", tönte Griegers Stimme aus dem Lautsprecher im Cockpit.


"1 ist klar!" gab Nataliya zurück.


"Steuersystem 2 klar?"


"2 ist klar!" antwortete Jörg "Spock" Schabeck.


"Antriebskontrollen klar?", kam die nächste Frage von Grieger. So ging das jetzt für die nächsten zwei Stunden weiter. Punkt für Punkt wurde die Checkliste abgehakt. Danach erfolgte die Kontrolle der Ausrüstung. Anschließend wurde die gleiche Prozedur für den Rover durchgeführt.


T-0:36:00

Die Bodencrew lief mit Messgeräten und Taschenlampen um die Mars Discovery herum und suchte noch einmal nach eventuellen Schäden.


T-0:20:00

An der Rückseite der Halle öffnete sich die Wand. Im vergangenen Jahr hatte Eckie hinter der Scheune einen Hof für sein Unternehmen anlegen lassen. In Wirklichkeit ließ sich dieser Hof absenken und diente als Roll-out Rampe für das Raumschiff. Die Bodencrew zog sich in Kabinen mit abgedunkelten Scheiben zurück. Das Schiff stand jetzt einsam in der Halle. Durch die geöffnete Wand drang die Dunkelheit der Juninacht herein. An Bord verging die Zeit in diesen letzten Minuten vor dem Start quälend langsam. Warten war angesagt. Warten auf....


"TEN"

"NINE"

"EIGHT"

"SEVEN"

Die Mars Discovery erhob sich zehn Zentimeter über den Boden. Aus den nach unten gerichteten Triebwerken drang gleißendes Licht in die Halle. Das leise Brummen der Mandelbrotgeneratoren war in den abgedunkelten Räumen der Bodenmannschaft wie ein Flüstern zu vernehmen. Aus dem Hecktriebwerk drang das erste Leuchten.

"SIX"

Das Raumschiff glitt langsam vorwärts auf die Rampe zu.

"FIVE"

"FOUR"

Die Nase von Mars Discovery schnupperte zum ersten mal die Luft der Nacht als das Schiff sich auf der Rampe schräg stellte und die Landebeine einzog.

"THREE"

Das schwarze Körper des Schiffes schob sich die Rampe hinauf.

"TWO"

"ONE"

"LIFT OFF! WE HAVE A LIFT-OFF!"

Die Mars Discovery schoss die Rampe hinauf, als Nataliya die Kräfte des Hecktriebwerkes losließ. Das Schiff machte einen regelrechten Hüpfer auf 60 Meter Höhe, stellte sich dann waagerecht und drehte sich nach Norden. Dann wurde es der Lichtpunkt zunehmend kleiner und entfernte sich von der alten Scheune. Kameras zeichneten das Bild auf und übertrugen es in die Kabinen der Bodencrew. Dort zündete sich Buzz Aldrin, scheinbar seelenruhig eine Zigarre an. "Sie fliegen!", rief Raimund Scheucher, "seht nur, sie sind auf dem Weg." Obwohl er Nichtraucher war dampfte nun auch seine Zigarre. Nach und nach flammte ein Feuerzeug nach dem anderen auf und der Raum füllte sich mit Rauch und dem Husten der Nichtraucher. Beifall wurde geklatscht. Menschen fielen sich in die Arme und nicht wenige hatten Tränen in Augen.

An Bord der Mars Discovery herrschte eine andere Stimmung. Die Mannschaft ging fieberhaft ihren Aufgaben nach. Augenpaare waren auf die Flugkontrollen und auf den Radarwarner geheftet. Keiner hatte Zeit für Theatralik oder philosophische Gesten. Das Abenteuer hatte begonnen.


T+0:16:45

"Ich kann die Küste sehen", unterbrach Josh die Stille im Cockpit. Bis jetzt war alles nach Plan verlaufen. Nur bei Bremen, das sie östlich passierten, schlug der Radarwarner kurz an. Wahrscheinlich hatte sie ein Tieffliegerradar der Bundeswehr erfasst. Der Spuk war aber sofort wieder vorbei. Die Geschwindigkeit betrug exakt 1000 Kilometer pro Stunde. Die Küstenlinie zog unter ihnen vorbei und sie sahen die Lichter von Schiffen. Sie würden die See da unten jetzt ziemlich in Wallung bringen. Aber sie waren zu schnell weg, als das sich jemand einen Reim darauf machen konnte.


T+0:27:31

Nataliya zog das Schiff jetzt auf 30.000 Meter Höhe hinauf. Sie beschleunigte auf dreifache Schallgeschwindigkeit, was butterweich vor sich ging. Wie erwartet jaulte der Radarwarner von nun an häufiger auf. Sven Knuth identifizierte die Suchradars von mehreren Kriegsschiffen. Dort unten würde man sich jetzt schwer den Kopf zerbrechen. Wahrscheinlich würden die Radarposten auf den Schiffen ihre Geräte überprüfen und nicht recht glauben, was die Monitore anzeigten. Aufgrund der Kunststoffhaut und des darin enthaltenen Wassers zeigte die Mars Discovery ein sehr verwaschenes Radarecho. Es sah aus, wie ein großer Vogelschwarm. Nur das dieser Schwarm mit Mach 3 in 30 Kilometer Höhe flog. Sie kamen schnell aus dem Erfassungsbereich der Schiffe heraus und flogen weiter nordwärts.


T+0:36:33

Östlich von Island zog ein AWACS-Aufklärer der NATO einsam seine Kreise. Seit zwei Minuten wurde auch hier das verwaschene Radarecho verfolgt. Der dienst habende Offizier leitete seine Beobachtung umgehend an die Luftraumüberwachungszentrale NORAD im Herzen der USA weiter, wo man jetzt sah, was sich auf den Schirmen der AWACS tat. Von ihren Basen im Norden Schottlands hoben nur wenige Minuten später zwei Tornado Abfangjäger der Royal Air Force ab, ohne eine Chance das seltsame Ding einzuholen. Zur gleichen Zeit wurde das unbekannte Flugobjekt von der AWACS aus angefunkt und aufgefordert sich zu identifizieren. Es erfolgte jedoch keinerlei Reaktion. Auf Island setzte die U.S. Air Force von ihrer Basis in Kefjavik zwei F-22 Raptor in Marsch. Die AWACS Besatzung sendete weiterhin Funksprüche an die unbekannte Maschine ab. Die schwieg jedoch und raste weiter Richtung Norden.


T+0:47:00

Nataliya zog die Nase des Schiffes in einem Winkel von 70° aufwärts und erhöhte die Leistung der Mandelbrotgeneratoren schrittweise auf 80%. Die Crew spürte zum ersten Mal echte G-Kräfte, als die Mars Discovery auf 28.800 Kilometer pro Stunde beschleunigte. In 110 Kilometer Höhe beschleunigte sie noch einmal auf 41000 Kilometer pro Stunde. Die Mars Discovery schoss als glühendes Monstrum weiter aufwärts. Auf den Infrarotmonitoren der F-22 Jäger erschien das Bild eines Meteoriten, der rasend schnell aufwärts fiel. "Fox Leader an Fox Basis", meldete der Rottenführer, "hier liegt offenbar ein Raketenstart vor." Dann war das Objekt verschwunden.

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