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Teil 3

Zeit ist teilbar!

19.10.2169, Raumstation Camp Tschao

Manchmal kam der Zufall unverhofft genau in dem Augenblick zur Hilfe, wenn man sich irgendeine Art von Wunder oder Eingebung wünschte. So ging es Samoka, Gorl und Gedro, als ihnen am „späten Abend“ (wie definiert man das auf einer Raumstation?) eine Gravitationswelle ins Netz ging. Das war im 22 Jahrhundert nichts Ungewöhnliches mehr. Die Erfassungsmethoden für solche Naturerscheinungen unterschieden sich heute deutlich von den Anfängen im frühen 21. Jahrhundert. Gravitationswellen wurden recht häufig erfasst. Meist waren sie schwach und fielen nur hochempfindlichen Detektoren auf. Für Menschen spürbar waren sie nicht. Das lag auch daran, dass die meisten dieser Wellen nicht direkt auf den Empfänger zielten, sondern diesen meist in flachen Winkeln streiften. Diese Welle war in zweierlei Hinsicht anders: Sie kam genau aus dem Teil des Raumes, von dem aus das Raum-Zeitschiff starten sollte und sie traf die Detektorantenne auf Camp Tschao fast senkrecht.
Zunächst achtete keiner weiter auf das Ereignis, bis Gorl beiläufig bemerkte, dass die gesamte Welle von Anfang bis Ende registriert worden sei. Das allein war schon ein glücklicher Zufall. Seines Wissens war das in der Geschichte der Gravitationswellenforschung bislang nur einmal gelungen und zwar mit dem GEO 600 Experiment, mit dem 2007 der erste direkte Nachweis solcher Wellen gelang. Heutzutage bestand eine Erfassung aus ungleich mehr Daten, als vor 160 Jahren. Die Krümmung des Raumes wurde bis in atomare Größenbereiche hinein erfasst, ebenso das gesamte Spektrum, Helligkeits- oder Positionsverschiebungen von Himmelskörpern und Videoaufzeichnungen von der Station selbst. Es mochte also durchaus lohnend, sich dieses Ereignis näher anzusehen.

Janita und Gedro fiel die Aufgabe zu, der Gravitationswelle ihre Geheimnisse zu entreißen. Mit Sicherheit existierten auf Camp Tschao weit spektakulärere Jobs, als dieser. Auf der anderen Seite halfen auch Erkenntnisse, die nicht unmittelbar mit dem eigentlichen Ziel zusammen hingen oft auf wundersame Weise weiter. Die Station war von der Welle vollständig erfasst worden, so dass praktisch alle in diesem Zeitraum aufgezeichneten Daten durch das Ereignis beeinflusst sein konnten. Der Vorfall hatte knapp 1,5 Sekunden gedauert. In dieser Zeit waren auf Camp Tschao ca. 200.000 Datensätze mit unterschiedlichsten Informationen aufgezeichnet worden. Davon mochten einige betrachtenswert sein, während andere durch die Welle keinerlei Veränderung erfahren hatten.

Aber welche? Worauf musste man achten, um zu erfahren, was die Schwerkraftanomalie mit Raum und Zeit angestellt hatte?

Beiden war klar, dass sie Daten wählen mussten, die in möglichst kurzen Zeitabständen aufgezeichnet wurden. Die Aufzeichnung von Daten über den Zustand der Lebenserhaltungssysteme an Bord der Station erfolgte beispielsweise im Nanosekunden – Takt. Das bescherte in einem Zeitraum von 1,5 Sekunden viele Messwerte. Allerdings war das anonymer Zahlensalat. Nichts, was man anfassen konnte und bei der Datenmenge auch nichts, wofür man in kurzer Zeit einen vernünftigen Zusammenhang mit der Welle herstellen konnte. Etwas Greifbares, etwas Sichtbares, wäre einfach weniger abstrakt und hätte Janita und Gedro eher gezeigt, wonach man eigentlich suchen sollte. Unter den Aufzeichnungen befand sich auch jede Menge Videomaterial von den zahlreichen Kameras an Bord. Bei der heute üblichen Aufzeichnungsfrequenz von 100 Bildern pro Sekunde lieferten die im Ereigniszeitraum immerhin 150 Einzelbilder pro Kamera. Das war zwar nicht gerade viel, aber vielleicht ließen sich durch extreme Verlangsamungen des Materials wertvolle Informationen bekommen.

Die Videoaufzeichnungen waren der Schlüssel, auch wenn weder Gedro, noch seine Kollegin momentan sagen konnten warum und wofür.

Am Folgetag nahm Janita an einer der zahlreichen Projektbesprechungen teil und berichtete über die ersten Ergebnisse ihrer Arbeit mit Gedro. Sie sprach gerade darüber, dass in extremer Zeitlupe bei allen Videoaufzeichnungen ein Schärfeverlust zu beobachten sei. Auf sehr klaren Einzelbildern hatten sie so genannte Geisterbilder beobachtet. In einem Fall konnte man auf einer Aufnahme einigermaßen deutlich dieselbe Person zweimal ausmachen. Allerdings in unterschiedlichen Bewegungszuständen. Es schien, als hätte jemand zwei unmittelbar nacheinander gemachte Bilder übereinander gelegt. Es handelte sich aber eindeutig um ein Einzelbild, das eine Person zu unterschiedlichen Zeiten zeigte. Man beschloss den Mann auf dem Photo zu fragen, ob er sich an die Situation erinnern konnte. Konnte er nicht, weil der menschliche Geist Veränderungen erst ab einer Länge von 0,3 Sekunden registriert. Die Aufnahme zeigte einen Zeitraum von etwa 150 Millisekunden; zu kurz als das es irgendeine Erinnerung hätte bewirken können. Der Mann auf dem Bild dachte nach. Der Angesprochene war selbst Hyperphysiker und suchte nach einer Erklärung für die unerklärliche Situation. „Wir bräuchten eine wesentlich höhere Bildfrequenz“, sinnierte er und schien gleichzeitig intensiv darüber nachzudenken, woher er die bekam.

„Die Hochgeschwindigkeitskameras im Antriebslabor!“ Fast gleichzeitig kamen zwei Teilnehmer auf diese Idee. Im Labor für Antriebstechnik wurden die Versuchsaufbauten durch Kameras überwacht, die 30.000 Bilder in der Sekunde aufzeichneten. Ein Aufnahmegerät war so installiert, dass man das Labor gut überblicken konnte. Janita ließ die Aufnahmen der Kamera im Besprechungsraum anzeigen. Als die Gravitationswelle Camp Tschao getroffen hatte, waren drei Wissenschaftler im Antriebslabor beschäftigt. Hier zeigte die extreme Verlangsamung des Videos viel deutlichere Effekte. Für 1,5 Sekunden waren alle drei Personen doppelt vorhanden, jeweils am Beginn und am Ende der Bewegung, die sie in genau diesem Moment ausführten. Die Geisterperson schien sich dabei zeitversetzt in der Vergangenheit zu befinden. Jede Person war eindeutig zur gleichen Zeit zweimal anwesend, ohne, dass jemand seinen Doppelgänger wahrnahm. Die daraus resultierende Erkenntnis war so banal, wie fundamental: Unterschiedliche Zeitlinien konnten parallel zueinander existieren, ohne sich zu beeinflussen.

Wenn Brent Spiner in seiner jetzigen Zeitlinie den Verlauf des zweiten Weltkrieges entscheidend veränderte, hatte das in seiner Originalzeitlinie offenbar keine Auswirkungen.
Der entscheidende Haken war, dass niemand sagen konnte, ob Brent Spiner 1999 und Brent Spiner 1935 wirklich auf unterschiedlichen Zeitlinien unterwegs waren.

22.12.1935, Schloss Czartoryski, Polen

In drei Tagen würden rund um ihn herum die Menschen das Weihnachtsfest begehen. Für die streng katholischen Polen lag darin die wichtigste Zeit des Jahres. Auch der inzwischen knöcheltief liegende Schnee trug dazu bei, dass sich Brent Spiner in keiner besonders fröhlichen Stimmungslage befand. Wieder einmal ließ er seine Gedanken nach England schweifen. 1.600 Kilometer und 64 Jahre trennten ihn von seiner Heimat. Was Kathleen wohl machte? Hatte sie den Einschlag überlebt? Brent wusste von den Aliens, dass man im Jahr 1999 annahm, er sei bei dem Unglück ums Leben gekommen. Bestimmt würde Kathleen bald anfangen, sich neu zu verlieben. Ihm war klar, dass sie nicht lang allein bleiben würde. Sie war hübsch, lebensfroh und für sie war er seit mehr als 3 Monaten tot. Brent fühlte sich unendlich einsam. Seine einzige Chance nach Haus zu kommen, bestand darin, dass ihn Typen aus der Zukunft seiner Zukunft dahin zurück brachten. Ihm war klar, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die das tatsächlich schafften, stark gegen Null tendierte. Niedergeschlagen stapfte er durch den Schnee zurück zum Schloss.

Eine junge Frau kam ihm entgegen. Durch das dichte Schneetreiben erkannte er sie zunächst nicht. Erst, als das Mädchen höchstens noch fünf Meter entfernt war sah er, dass es eine Studentin aus der Grupa 4 war. Bevor Brent etwas sagen konnte, grüßte sie ihn fröhlich. „Guten Abend Mr. Spiner! Ist der Schnee nicht herrlich?“. Brent versuchte sich an ihren Namen zu erinnern und hatte Glück. „Guten Abend Alla. Sie haben Recht, ein ganz wundervoller Abend, wirklich.“, gab er mit wohl etwas zu matter Stimme zurück. „Geht es Ihnen nicht gut, Mr. Spiner?“, fragte Alla mit ehrlicher Besorgnis. Unter den Stundenten in der Grupa genoss der Mann aus der Zukunft den Status eines Stars, ein Halbgott aus einer fernen Zukunft und einem fremden Land, der mit seinem charmanten Understatement alle Frauen weich kochte, ohne es auch nur zu wollen oder zu bemerken. Alla Bretz bildete da keine Ausnahme und Brent ging es tatsächlich nicht gut. Er wollte etwas Beschwichtigendes antworten, stockte aber beim Anblick des jungen, makellosen Gesichts unter der Pelzmütze. Stattdessen sagte er „Nein Alla, es geht mir wirklich nicht gut. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie ein Stück begleite? Ich würde gern mit einem Menschen über andere Dinge, als die Grupa, die Nazis und diesen ganzen Scheiß reden.“ Alla hakte sich einfach bei ihm unter und wies mit der freien Hand auf einen verschneiten Weg, der zur Ostseite des Schlosses führte. So stapften sie los und Brent begann zu reden. Gemessen am Alter seiner Begleiterin, empfand Brent sie als bemerkenswert aufmerksame und routinierte Zuhörerin. Er erzählte von Kathleen, dem neuen Job, redete über verlorene Zeiten und über Einsamkeit. Alla unterbrach ihn nur selten, fragte dann kurz etwas oder gab knappe Kommentare auf Brent’s Erzählung ab.

Als sie das Ende des Gartens erreichten, hatte das Schneetreiben noch weiter zugenommen. Ein scharfer Wind trieb feine Eisnadeln vor sich her und Brent spürte auf einmal, dass er ziemlich durchgefroren war. „Kalt?“, fragte Alla mit einem leicht spöttischen Unterton. Brent nickte „Winter in Ihrem Land ist doch etwas anderes als in England. Es ist wirklich richtig kalt. Nun ja, Sie merken die Auswirkungen des Klimawandels ja auch noch nicht. Lassen Sie uns zurück ins Schloss gehen, ja?“ Alla stimmte zu, legte den Arm um seine Hüfte und zog ihn zu sich heran. Es war eine unglaublich angenehme Berührung und auch, wenn die Wärme der jungen Frau eine Weile brauchen würde, um die dicken Mäntel zu durchdringen, glaubte er sie zu spüren.

21.10.2169, Raumstation Camp Tschao

Die Existenz voneinander unabhängiger Zeitlinien, gab dem Problem um Brent Spiner eine gewisse Wendung. Soweit die Auswertung der Gravitationswelle vermuten ließ, wirkten dieselben Personen in unterschiedlichen Zeitlinien nicht aufeinander ein. Allerdings beruhte diese Erkenntnis auf einer Einzelmessung, nämlich dem Video der Hochgeschwindigkeitskamera aus dem Antriebslabor. Und das war eindeutig zu wenig für einen wissenschaftlichen Beweis.

Das Team auf der Raumstation hielt Rücksprache mit Sven Holgersson auf Trombur. Der sprach sich für die Fortsetzung des Projekts aus, zumindest bis empirisch belegt war, dass sich Brent Spiner in einer anderen Zeitlinie aufhielt.

Inzwischen lagen die ersten konkreten Entwürfe für das Raumzeitschiff vor. Ein virtuelles 100:1 Modell schwebte im Hangar der Henri Poincaré und ungefähr 30 Leute wuselten um das Holgramm herum, diskutierten, vermaßen, berechneten oder taten sonst irgendwelche merkwürdigen Dinge, die ihrem Fachgebiet entsprachen. Am Entwurf des Raumzeitchiffes fielen zuerst einmal die überdimensionierten Triebwerke auf. Im Zeitalter der Quarks-Gravobeschleuniger gehörten große Triebwerke nicht mehr zu den primären Merkmalen eines Raumschiffes. Im Vergleich zu den Triebwerken wies der Mannschaftsteil erbärmliche Ausmaße auf. Wer immer auch fliegen würde, musste auf der längsten Reise, die Menschen je unternommen hatten auf Komfort weitgehend verzichten. „Wenn ich darin, warum auch immer meine Beine breit mache, trete ich die Seitenwände raus.“, bemerkte Sita spöttisch. „Du sollst darin schließlich zeitreisen und nicht lustreisen.“, entgegnete Gorl tadelnd, während er Daten aufnahm. „Sexy ist das Ding jedenfalls nicht“, brummelte Sita, „und einen Fehler in der Atmosphärenaufbereitung hat es auch.“ Sie zeigte auf Gorls Messwerte, die holografisch zwischen ihm und dem Modell in der Luft schwebten.

Stellte die Konstruktion des Schiffes bereits eine bemerkenswert anspruchsvolle Aufgabe dar, lagen die wahren Kopfnüsse in der Reise an sich. Die Menschen konnten theoretisch auf zwei Wegen in die Vergangenheit gelangen. Der erste war bereits bekannt und entsprach dem von Gorl’s Fehlsignal, welches die ganze Misere ausgelöst hatte. Diese Art zu reisen war schnell, zielsicher und spätestens bei der Begegnung mit dem Riesenstern Beta Gruis für jeden Reisenden absolut tödlich. Da empfahl sich Plan B. Damit würden die Menschen die Reise in die Vergangenheit mit großer Wahrscheinlichkeit überleben, aber alle anderen Faktoren schienen einfach monströs. Allein die 800 Millionen Lichtjahre, die als „Anlaufstrecke“ benötigt wurden, um dadurch langsam in der Zeit rückwärts zu gleiten, erschienen den Menschen auf der Station noch immer unfassbar. Die Methode dahinter war, einfach. Das Raumzeitschiff startete rund 220 Millionen Parsec von hier mit einer Geschwindigkeit X. Dann trat es in die fünfte Dimension ein, wobei die riesigen Triebwerke mehr Energie in den Nurraum mitnahmen, als es für den Hyperflug eigentlich notwendig gewesen wäre. Beim Austritt in den Normalraum würde das Schiff mit den Zeitreisenden dadurch ein paar Stunden früher auftauchen, als es abgeflogen war. Um 169 Jahre zu bewältigen, bedurfte es 412 solcher Hyperflüge, woraus sich die riesige Entfernung ergab.

Bei den Einzeletappen durfte es weder Zeitverzögerungen noch Kursabweichungen geben. Jeder Fehler verschob die Ankunftszeit und die Zielposition um einen unkalkulierbaren Betrag. Deshalb wachten drei parallel laufende Flugcomputer über das Zeitschiff. Noch eine Sache bereitete den Forschern übelstes Kopfzerbrechen: Wie fand man über 800 Millionen Lichtjahre Entfernung den Weg zurück in die Milchstraße? Wies das Navigationssystem eine Ungenauigkeit von nur einer milliardstel Bogensekunde auf, konnte die Reise sonst wo enden. Im besten Fall kamen die Zeitreisenden dann noch in irgendeinem entfernten Winkel ihrer Heimatgalaxie an; im schlimmsten Fall irgendwo zwischen der Whirpool- und der Andromeda-Galaxie.

Auch die Psychologen stellte die Reise vor eine ganze Reihe von Problemen. Menschen waren nicht dafür gemacht, jahrelang von jeder Zivilisation abgeschnitten in einer räumlich abgeschlossenen und recht beengten Kiste zu verbringen. Umso länger die Reise dauerte, umso mehr verloren Wertvorstellungen und Sozialverhalten an Bedeutung. Die unvorstellbare Entfernung, löste das so genannte Lost-Earth-Syndrom aus. Gleichgültigkeit und Aggressivität würden irgendwann das Verhalten bestimmen. Später dann nur noch Gleichgültigkeit. Diese Phasen würden sich auch bei noch so gut vorbereiteten Raumfahrern nicht vermeiden lassen. Sie ließen sich mit einer Reihe von Maßnahmen, wie Filmen, Dufttherapien und Erinnerungsübungen zwar herauszögern, aber das wirkte nur bedingt. Trotzdem machten alle Temponauten diese Übungen intensiv und mehrmals am Tag mit. Wichtige Übungsabschnitte, die für das Überleben der Besatzung oder zur Erreichung des Missionszieles unerlässlich waren, wurden mit einem eindeutigen Klangsignal begonnen.

„Ding-Dang-Ding-Dong“

Immer wenn die Temponauten das hörten, bedeutete das: WICHTIG! MUSS UNBEDINGT GESCHEHEN!

Janita, Gedro, Samoka, Sita und Gorl hörten dieses Signal jeden Tag bis zu zwanzigmal.

„Ding-Dang-Ding-Dong“

23.12.1935, Schloss Czartoryski, Polen

Brent erwachte mit dem Gefühl wohliger Zufriedenheit. Neben ihm atmete Alla ruhig und gleichmäßig. Eigentlich, dachte Brent, müsste er ein schlechtes Gewissen haben. Er hatte Kathleen betrogen in der vergangenen Nacht. Eigentlich war das wiederum Unsinn, denn Kathleen lebte in einer anderen Zeit und hielt ihn sicher für tot. Dann war da Alla. Das Mädchen, das jung und aufreizend neben ihm schlief, könnte seine Tochter sein. Für Sie war Brent bis gestern noch eine Autorität, ein Wunder aus einer fernen Zukunft.

Bis zu diesem Kuss.

Manche erste Küsse passieren einfach. So, als ob jemand anderes die Akteure fernsteuern würde. Alla hatte ihn mit ihrer Unbekümmertheit einfach überrollt, genau wie er sie mit seiner Souveränität. Seitdem war die Nacht eine verschwenderische Anhäufung schöner, wilder und lang unterdrückter Gefühle gewesen. Brent fühlte sich in jeder Hinsicht befreit, gelöst und genau heute bereit gleich drei Weltkriege zu gewinnen, wenn sich dies als nötig herausstellen sollte.

02.03.2171, Hinds veränderlicher Nebel

Geschwindigkeit stellte in modernen Raumschiffen etwas sehr Abstraktes dar. Durch die Antriebstechnologien und Gravitationsneutralisatoren an Bord von Sternenbundschiffen wussten die Insassen nicht, ob sie sich mit einem halbem oder einer halben Million Kilometer pro Stunde bewegten. Ganz anders in der Chronos. Jedes Mal, wenn Gedro Schub auf die beiden Substanzwandlertriebwerke gab, schienen die Sterne zu rasenden Linien zu werden. Der Testpilot des ersten von Menschen gebauten Raumzeitschiffes hatte einen Mörderspaß. Gorl verfolgte Gedros Flug auf den Überwachungsinstrumenten auf Camp Tschao und hätte sich in den Arsch gebissen, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Gestern hatte er Gedro für den Erstflug ausgewählt, ihm großzügig auf die Schulter geklopft und ihm gewünscht, dass die technischen Schwierigkeiten beim Jungfernflug, sich hoffentlich in Grenzen halten würden. Heute sah er neidisch zu, wie sein Freund mit dem modernsten, schnellsten und perfektesten Raumschiff seine Kapriolen drehte. Die Chronos funktionierte überraschend perfekt, wenn man die kurze Entwicklungs- und Bauzeit in Betracht zog.

Als Gedro das zu 90% aus Triebwerken bestehende Schiff in den Hangar manövrierte und landete, standen Samoka, Gorl und Janita mit verschränkten Armen und verkniffenen Gesichtern im Hangar, während Gedro grinsend das Schiff verließ. Er drückte Gorl den noch immer Black Box genannten Datenrekorder in die Hand, der heute etwa die Ausmaße eines Daumennagels hatte und bei einer variablen Speicherkapazität zwischen 200 und 300 Terabyte alles aufgezeichnet hatte, was während des Fluges geschehen war. Er klopfte Gorl großzügig auf die Schulter, deutete mit dem Daumen hinter sich und sagte einfach „Cool!“

Endlose Endlichkeit

01.02.2172, Raumstation Camp Tschao

Das Gedränge im Hangar und auf den Gängen der Station erinnerte an alte Filmaufnahmen aus dem vergangen Jahrhundert, als die ersten Menschen zur Wega aufbrachen. Auch heute stand ein Aufbruch bevor. Im Unterschied zu den frühen Raumfahrern, deren Ziele unbekannt und voller Geheimnisse waren, wusste ihre modernen Kollegen alles über ihr Ziel.

Weil es schon gewesen war, weil es sich um die Erde handelte und weil über die nun mal alles (?) bekannt war.

Trotzdem war das Abenteuer, das in einer Stunde beginnen sollte größer, als alles was Menschen bis dahin unternommen hatten. Nicht das Ziel barg das Unbekannte und Geheimnisvolle dieser Reise, sondern der Weg dorthin. Die Chronos benötigte 800 Millionen Lichtjahre Weg, um 173 Jahre Zeit zu überwinden. Sie musste, um den Startpunkt zu erreichen erst einmal 800 Millionen Lichtjahre von der Milchstrasse wegfliegen, um dann auf dem Rückweg zum Ziel ihren Weg in die Vergangenheit zu finden.

12.04.1938, Gebiet Tarnopol, Polen

Alla Spiner machte noch einmal einen Rundgang um das Flugzeug, das abgeschirmt in einem Hangar auf einem namenlosen Feldflugplatz im menschenleeren Südosten Polens ruhte. Die Maschine erinnerte stark an eine F-86 Sabre und eigentlich hätte sie erst in 7 Jahren in den Vereinigten Staaten von Amerika existieren dürfen. Allas Mann, der mysteriöse Zeitreisende Brent Spiner, hatte die Entwicklung vorweg genommen und so stand in der, sumpfigen, mückenverseuchten Ebene der erste einsatzfähige Kampfjet. Der allen anderen Flugzeugen seiner Zeit weit überlegene Düsenjäger stellte eine der letzten Entwicklungen der Grupa Przyszłość, rund um Brent Spiner und Andreij Tadicz dar. Die geheime Armija Krajowa war technisch auf den Einmarsch der deutschen Wehrmacht im kommenden Jahr vorbereitet. Die restliche Zeit bis zum Beginn der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts steckte voll mit Übungen und geheimen Vorbereitungen. Im Osten Deutschlands legten Schläferkommandos fernzündbare Sprengsätze an strategisch wichtigen Stellen, wie Eisenbahnweichen, Brücken und Stellwerken. Auf polnischer Seite wurden Straßen und Brücken zur Sprengung oder Verminung vorbereitet. Spezialeinheiten bereiteten sich auf ihre Einsätze vor. Seit gestern übte auf dem unbekannten Flugplatz untern anderem auch das Komenda Wódz. Das waren ganz verschwiegene Typen, die merkwürdige Fluggeräte hatten, bei denen sich die Flügel drehten und die senkrecht starten und landen konnten.

Solche Aktivitäten fanden an vielen dünn besiedelten Stellen in Polen statt. Kaum jemand nahm Notiz davon, am wenigsten die deutschen Geheimdienste, die sich ganz vom Getöse der polnischen Propaganda einlullen ließen. In Berlin glaubte man immer noch, dass die Wehrmacht einer Armee, die mit Pferden, Lanzen und Doppeldeckern kämpfte gegenüberstand. Von Jets, Raketenwerfern, Mini-U-Booten und Radpanzern mit Maschinenkanonen ahnte man in der Reichskanzlei genauso wenig, wie von den umfangreichen Sabotagemaßnahmen, die von polnischer Seite aus vorbereitet wurden. Auf russischem Gebiet, wo die Polen ebenfalls aktiv waren, wusste man noch weniger. Für die Polen wurde die Zeit immer knapper. Vor 4 Wochen war die deutsche Wehrmacht in Österreich einmarschiert. Für die Verantwortlichen in Polen war nun endgültig klar, dass Hitler es ernst meinte.

Alla gab dem Piloten in der Kanzel des Błyskawica – Jägers ein Klarzeichen. Der winkte kurz und lässig, wie es Flieger immer tun, aber seine nervöse Blicke verrieten seine enorme Anspannung. Diese neuartigen Dinger machten gerade altgedienten Piloten richtig Angst. Das zumindest vor dem Start und vor der Landung. Während sie in der Luft waren und mit Schallgeschwindigkeit durch die Wolken jagten, hatten Sie durchweg eine große Klappe.



01.02.2172, Raumstation Camp Tschao

Die Nervosität schlich sich ein, wie ein blinder Passagier durch die Frachtluke. Gorl fühlte, wie seine Hände feucht wurden und es ihn an den unmöglichsten Stellen juckte. Janita, die bislang relativ ruhig neben ihm gestanden hatte, fing plötzlich an, unruhig hin und her zu tippeln. Einzig Samoka schien die hochkarätige Gästeschar kaum etwas auszumachen.

Vor den ersten Temponauten baute sich sich die halbe Regierung des Sternenbundes auf. Der Präsident, die Kanzlerin, etliche Minister und planetare Sekretäre standen bereit, um eine Mission zu würdigen, von der die meisten der Anwesenden nicht das Geringste verstanden. Trotzdem war der ganze Auflauf irgendwie beeindruckend, vor allem für die drei Temponauten, die einsam auf der anderen Seite standen und um die es hier ging. Außerdem war Gorl gerade klar geworden, dass er sich in wenigen Minuten auf eine Reise begeben würde, von der er vielleicht nie zurückkehren würde. Es gab tausend Dinge, die schief gehen konnten und nur ganz wenige, die sicher bekannt waren. Janita schienen ähnliche Gedanken zu bewegen. Der Präsident des Galaktischen Bundes hatte gerade seine Rede beendet, ohne das Gorl hätte sagen können, worüber der Mann gesprochen hatte und schritt nun mit einer stocksteifen Adjutantin im Schlepptau auf die Besatzung der Chronos zu. Er überreichte jedem Temponauten einen merkwürdigen Gegenstand, der vom Design her einen ziemlich altertümlichen Eindruck machte. Gorl bedankte sich und sah das Ding in seiner Hand an. Ein merkwürdiges Ding mit ein paar Knöpfen und einer Klappe. In dem Ding befand sich eine silberne Scheibe, die durch ein Fenster erkennbar war. Der Präsident zwinkerte und erklärte „Das sind technische Geräte aus der Epoche, in die Sie reisen werden. Wir haben sie in alten Sammlungen auf der Erde aufgetrieben. Damals nannte man so etwas Dishman und…“, die Adjudantin flüsterte ihrem Dienstherren hektisch etwas ins Ohr, „…Discman nannte man sie, wegen der Scheibe darin. Darauf befindet sich zeitgenössische Musik und wir möchten Sie damit auf das Ziel Ihres einmaligen Abenteuers einstimmen. Gleichzeitig möchte ich noch einen Brauch aus der damaligen Zeit anwenden und Ihnen Glück wünschen.“

Das folgende Programm gestaltete sich als Mixtur aus Politshow und tatsächlichen Startvorbereitungen. Die Temponauten bekamen nur letzteres mit, weil sie nach der Übergabe der Musikgeräte in die Chronos eingestiegen waren. Hier drin herrschte eine wohltuende Ruhe und das Gewimmel im Hangar war auf einen kleinen Monitor reduziert. Gorl und Janita achteten nicht weiter darauf, während sie die Systeme hochfuhren und die Datenverbindungen zur Station beendeten. Samoka ging im hinteren Teil der Chronos ähnlichen Tätigkeiten nach.

Eine knappe halbe Stunde später glitt das Zeitschiff in das All hinaus, welches für die nächsten Jahre die Heimat der Chronos sein würde. Noch sirrte, quäkte und rumorte die Zivilisation in allen Empfängern. Schon nach den ersten drei Hypersprüngen ännderte sich das gründlich. Die Expedition befand sich schon weit außerhalb der Milchstrasse. Das war an sich nicht ungewöhnlich. Raumschiffe mit Kurs auf die Andromeda Galaxie oder zu den Magellanschen Wolken verließen routinemäßig die Heimatgalaxie der Menschen. Das hier allerdings stellte sich als etwas völlig anderes heraus. So etwa, als ob man vor 300 Jahren auf der Erde mit dem Auto von Frankfurt aus 100 Kilometer nach Norden fuhr oder das Gleiche von Nuuk aus auf Grönland tat. Entlang der Raumfahrtrouten befanden sich Funk- und Forschungsstationen, Polizei- und Militäreinrichtungen sowie unterschiedlichste automatische Einrichtungen. An der aktuellen Position der Chronos gab es ein paar einsame Gasmoleküle, die so dünn verteilt waren, dass man von einem perfekten Vakuum sprechen konnte. Die drei Menschen an Bord wurde dieser Umstand zum ersten Mal bewusst. Die dienstmäßige Hektik schlug in plötzliche Stille um. Keiner sagte etwas, alle sahen aus den Fenstern, vor denen sternenlose Schwärze alles zu verschlucken schien. „Ich habe mich noch nie so klein gefühlt“, flüsterte Samoka tonlos, während sie versuchte, dort draußen irgendetwas zu entdecken. Die anderen nickten stumm. In ihrer gewohnten Umgebung zählten sie zur Elite, wurden gefeiert, hofiert und gaben den Ton an. Aber dieser Augenblick in der völligen Dunkelheit machte ihnen bewusst, dass hier drei kleine Menschen in einer mehr oder weniger sicheren Hülle unterwegs waren. Das Gefühl der Winzigkeit schien in der Zentrale der Chronos greifbar zu sein. Es verdichtete sich spürbar und lähmte jede Aktivität. Gnädigerweise begann das Zeitschiff automatisch die nächste Hyperraumetappe.

Die Temponauten hatten sich auf ihre Mission gründlich vorbereitet. Monatelange Studien über die Menschen des ausgehenden 20. Jahrhunderts waren Teil dieses Trainings. Sie hatten geübt, mit den damals üblichen Autos zu fahren, wussten, wie man altertümliche Düsen- und Propellerflugzeuge flog, konnten die meisten Bankgeschäfte tätigen und kannten sich im Warenverkehr sowie in gesellschaftlichen Gepflogenheiten aus. Stunde um Stunde hatten sie das alte Englisch gepaukt, die lächerlichen Computer jener Epoche ergründet und sich mit den völlig abstrusen moralischen und religiösen Werten befasst. Dabei stellten die banalsten Dinge manchmal die größten Hürden dar. Eine Unterschrift zu leisten, beispielsweise. Nur wenige Historiker waren im 22. Jahrhundert noch in der Lage sich einer Handschrift zu bedienen. Heutzutage diktierte man man Ideen und Gedanken in allzeit verfügbare Computernetze. Schreiben war etwas hoffnungslos Antikes. Die Temponauten mussten es aber erlernen, wenn sie im 20 Jahrhundert auch nur die einfachsten Dinge erledigen wollten, ohne dabei sofort als Sonderlinge aufzufallen. Jede Kartenzahlung an einer Supermarktkasse konnte sich zu einer ziemlich peinlichen Begebenheit entwickeln, sobald jemand den Beleg unterschreiben sollte. Also übten Samoka, Gorl und Janita den Umgang mit Kugelschreibern, Bleistiften und Füllfederhaltern. Solche Dinge standen auch während des Fluges immer wieder auf dem Programm. Der Trainingscomputer enthielt eine endlose Anzahl von Fragen, die er in zufälliger Folge stellen würde. „Wie erwirbt man ein Haus?“ oder „Erkläre den Ablauf eines Tankvorganges!“ oder „Was ist ein Fernsehprogramm?“ und so weiter.

Nur auf die Reise selbst hatten sie sich offenbar nur unzureichend vorbereitet. Raumfahrt war heutzutage so selbstverständlich, dass es nur einer allgemeinen, psychologischen Vorbereitung bedurfte. Die absolute Dunkelheit an diesem Ort jedoch stellte sich als unerwartet, unfassbar und bedrohlich dar. Die längste aller Reisen hatte ihre erste Überraschung serviert.

01.09.1938, Gebiet Tarnopol, Polen

„Was wissen wir über die neue Reichskanzlei?“, fragte Marek Bronikowski in die Runde. Die umstehenden Soldaten sahen die Grossaufnahme, die ein Oko - Aufklärer gestern von den Deutschen vollkommen unbemerkt aus einer Höhe von fast 17 Kilometern aufgenommen hatte. Schon seit Monaten flogen polnische Jets regelmäßig Aufklärungseinsätze über Berlin. Dank der besonderen Konstruktion der Flügel und Triebwerke konnten die Oko’s in Höhen operieren, in denen es nach damaligem Stand der Technik gar keine Flugzeuge geben konnte. Bei 11.000 Metern lag selbst für die modernsten Propellermaschinen die Grenze. Ein hellgrauer Tarnanstrich und ein Abgasstrahlverwirbler machten das Flugzeug zudem für Beobachter vom Boden fast unsichtbar.

Der Truppführer der Einsatzgruppe Komenda Wódz deutete auf das Dach des Gebäudes und auf Zeichnungen, die sich in Brent Spiners Datenbeständen befunden hatten. „Hier links auf der Marmorgalerie gibt es eine relativ große, ebene Dachfläche.“ Der stämmige Unterleutnant deutete mit seinem Bleistift auf die entsprechende Stelle. „Ca. 30 Meter weiter befindet sich eine Dachluke, die in eine Abstellkammer der Hausmeister führt.“ Bronikowski nickte zustimmend. „Was ist mit der Dachkonstruktion?“, fragte er an den zweiten Zivilisten in der Runde gewandt. Der Architekt Pawel Zendowski winkte ab. „Die ist sehr deutsch, würde ich mal sagen, alles Stahlbeton mit einer Unterkonstruktion aus Massivholz. Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.“ Marek Bronikowski nickte erneut und sagte „Gut, dann ziehen wir das Ding so durch.“

Der Geheimagent drehte sich um und machte sich auf den Weg zu einer nahe stehenden Baracke, in der er Brent Spiner und Andreij Tadicz vermutete. Zu seiner Überraschung fand er Alla Spiner und den alten Urbanski ebenfalls in dem wackeligen Holzbau. Alle vier waren derart beschäftigt, dass sie ihn gar nicht wahrnahmen. Offenbar führten sie irgendein merkwürdiges Ritual durch, was den Agenten aus Warschau einigermaßen irritierte. Sie fuhren abwechselnd mit der Hand über eine apfelgroße, runde, schwarze Scheibe, die auf einen Stahlkasten montiert war, aus dem mehrere Kabel wegführten. Bevor jemand die Handbewegung ausführte, stand er mit einem Thermometer in den Fäusten da und nannte nach einiger Zeit die Temperatur seiner Hände. Marek schaute sich das ungefähr fünf Minuten lang an, ohne von den Teilnehmern der merkwürdigen Zeremonie bemerkt zu werden. Trotzdem konnte er sich keinen Reim auf das seltsame Treiben machen und fragte schließlich „Geht es euch gut oder soll ich einen Sanitäter oder den Pfarrer holen?“ Die Angesprochenen sahen nur kurz auf. Einzig Professor Urbanski machte eine einladende Geste mit dem Thermometer. „Marek, wie schön! Kommen Sie, machen Sie mit. Da Sie gerade von draußen kommen sind Sie das ideale Referenzobjekt.“ Marek nahm das dargebotene Thermometer und fragte sich, warum und wofür er plötzlich vom Geheimdienstler zum Referenzobjekt mutiert war. Was trieben die hier?

Bevor er fragen konnte, gab Andreij Tadicz die Antwort. „Wir sind gerade dabei den IR – Sensor für die Flak zu justieren. Tolle Sache, erhöht die Trefferquote immens. Los, wie ist deine Handtemperatur?“ Marek sah auf das Thermometer und murmelte „33,2“, ohne zu verstehen, was er hier tat. Sein adeliger Freund stieß ihn an. „Los, jetzt in 10 Zentimetern Abstand über die Scheibe fahren, Schnell!“ Marek tat wie ihm geheißen und hörte Brent sagen „Bingo! Wir haben den unteren Schwellenwert.“ Erst jetzt bemerkte Marek, dass in der Ecke ein Messgerät stand, dessen Zeiger analog zu seiner Handbewegung nach oben geschnellt war. Okay, die schwarze Scheibe erkannte also Handbewegungen. Aber wozu brauchte die Flugabwehr ein Gerät, das so einen Unsinn konnte? Anstelle einer Erklärung wuchteten Brent und Andreij die ganze Konstruktion vom Tisch und marschierten zur Tür. Alla folgte mit dem Messgerät, während der Professor sich mit dem Thermometer und einem Stapel Unterlagen anschloss. „Die Werkzeugkiste, junger Freund“, wies er Marek an, „Na die da auf dem Tisch oder wollen Sie hier einfach nur so rum stehen?“ Der Agent schnappte sich die besagte Kiste und trottete hinter dem Professor her. Marek Bronikowski hasste es berufsmäßig, wenn er nicht wusste, was vorging. So, wie sich die Situation darstellte, hatte aber niemand wirklich vor, ihm eine brauchbare Erklärung zu geben, also ergab er sich in sein Schicksal und folgte der Gruppe zu einem der neuen Radpanzer, dessen 25 mm Maschinenkanone fast senkrecht in den Himmel wies. Alla und Andreij waren bereits auf das Gefährt geklettert, als Marek mit dem Werkzeugkasten dort eintraf. Alla winkte ihn zu sich und er wuchtete die Kiste auf den Panzer. Brent war irgendwo im Inneren des Kampfwagens verschwunden und Urbanski saß murmelnd vor dem Messgerät im Gras. Es dauerte keine 10 Minuten, bis die Schwarze Scheibe in das Visier der Panzerkanone eingebaut war. Brent schaute ölverschmiert aus dem Turm und grinste Marek an. „So, gleich bekommst du eine Antwort auf deinen dämlichen Gesichtsausdruck.“ Der Brite sprach inzwischen so gut polnisch, dass er triefende Ironie mühelos ausdrücken konnte. Marek begann die Sache allmählich spannend zu finden.
Alla stand mit einer roten Fahne auf der Motorklappe des Panzers und winkte in Richtung der Startbahn. Von dort hörte man ein paar Augenblicke später, wie der Motor eines modifizierten PZL P.7 – Jägers aufheulte und sah das Flugzeug kurze Zeit später abheben. Die Maschine schraubte sich langsam auf Höhe, ging in den Geradeausflug über und warf dann eine Leuchtkugel ab. Brent und Andreij machten sich hektisch an der Kanone des Panzers zu schaffen. Der Jäger drehte und raste in einer Höhe von ca. 1000 Metern auf den Panzer zu. Brent visierte ihn an, betätigte aber den Abzug nicht. Trotzdem löste sich eine kurze Salve aus dem Geschütz. Der Jäger raste über sie hinweg, drehte und ging in den Landeanflug über. Diesmal überflog er den Panzer deutlich tiefer und langsamer, so das vom Boden aus drei gelbe Farbpunkte zu erkennen waren, die normalerweise nicht zur Kennzeichnung polnischer Flugzeuge gehörten. Auch der künstlerische Aspekt schien eher fragwürdig zu sein. Trotzdem johlte die Gruppe um Marek herum, als hätte sie olympisches Gold gewonnen. Dem Agenten dämmerte langsam, dass die schwarze Scheibe nicht nur Handbewegungen erkennen konnte, sondern auch Flugzeuge. Die PZL P.7 war von drei Übungsgranaten getroffen worden. Bei fünf Schuss, die von der Kanone abgefeuert wurden, eine hervorragende Quote.


800 Quadrillionen Kilometer

27.07.2172, Raumschiff Chronos, Abbell 2849 Galaxie

Die Chronos durchquerte eine Galaxie, die selbst in den besten Teleskopen der Menschen nur als winziger, diffuser Lichtpunkt erschien. Auch wenn die wesentlichen Gesetze der Physik überall im Universum gleich sein sollten, schien hier alles fremdartig zu sein, Die Sterne waren vorwiegend rote Riesen. Der Raum um das Zeitschiff leuchtete tiefrot, die Sterne standen hier viel näher beieinander, als in den bekannten Galaxien. Genau betrachtet flog die Chronos gerade durch ein Vielfachsternsystem, das aus ungefähr 30 Riesensternen bestand, die in Abständen von 12 bis 18 Milliarden Kilometer ein irrsinnigen Tanz umeinander aufführten. Die Triebwerke des Zeitschiffes hatten jede Menge Arbeit damit, das Schiff sicher durch die chaotischen Gravitationsverhältnisse zu manövrieren. Gorl konzentrierte sich auf die nächste Hypersprungposition. Noch drei Hypersprünge bis zum Umkehrpunkt.

Der Stress der Reise machte sich immer intensiver bemerkbar. Alle drei Menschen an Bord der Chronos litten unter dem so genannten Lost Earth Syndrom. Depressionen, Antriebslosigkeit und eine latent vorhandene Aggressivität belasteten die Temponauten. Während der Missionsvorbereitung gehörten Antistressmaßnahmen zum festen Programm. Das erschien auch unter Trainingsbedingungen alles sehr wirksam und sehr logisch. Stressbewältigung funktionierte aber nur über einen bestimmten Zeitraum. Irgendwann setzte in der Isolation Gleichgültigkeit ein und begünstigte die Stressfaktoren. Das machte sich daran bemerkbar, dass bestimmte Grundsätze und Regeln mehr und mehr vernachlässigt wurden.

Am Anfang der Reise hatte sich Sex noch als sehr angenehmes Mittel gegen jeden Stress erwiesen. Immerhin saß Gorl mit der, aus seiner Sicht, begehrenswertesten Frau des Universums in einem vergleichsweise winzigen Raumschiff. Für Samoka ihrerseits war Sex schon immer ein Mittel zur Entspannung gewesen und mit den ständigen Neckereien drückte sie Gorl gegenüber nur ihre Zuneigung aus. Früher oder später hätte sie ohnehin miteinander geschlafen. Anders sah das mit Janita aus. Mit ihr hatte Samoka schon viele Nächte verbracht. Bisexualität stellte im 22. Jahrhundert für Frauen die Normalität dar. Auch unter Männern war sie verbreitet, aber die Heterosexualität überwog. Während der Vorbereitungsphase hatte die Sexualität der Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts die größte Verwunderung bei den Temponauten ausgelöst. Die vielen Heimlichkeiten und Tabus, dieses komische Eheding. Die ganzen Probleme und Krisen rund um die Sexualität. Den Menschen, die 200 Jahre später lebten, kannten Begriffe wie ‚Fremdgehen’ oder ‚betrogener Partner’ überhaupt nicht. Man hatte Sex, mit wem und wie man wollte. Einzig, wenn eine Frau ein Kind erwartete, schlossen sich die Eltern zu einer zeitlich begrenzten Erziehungsgemeinschaft zusammen und übernahmen die Verantwortung für ihr Kind. Die Zeit, in die sie reisen würden, hielt eine Unzahl merkwürdiger Verhaltensweisen bereit. Immerhin hatten sie aus alten Internetseiten erfahren, dass fortschrittlich denkende Menschen damals bereits die so genannte ‚freie Sexualität’ in Häusern ausübten, die als Swingerclubs bezeichnet wurden.

Sexuell betrachtet stellte die Reise also für alle Temponauten ein attraktives Unterfangen dar. Aber auch das nutzte sich im Laufe der endlosen Reise ab. Alle Regeln waren immer weiter weg. Mit der gigantischen Entfernung brach die kulturelle und soziale Prägung zusammen. Stattdessen machten sich Lethargie und Gleichgültigkeit breit.

Irgendwann rasierte sich Gorl nicht mehr und die Frauen verzichteten darauf, sich neue Frisuren zu machen. Die Körperpflege der Temponauten beschränkte sich mehr und mehr auf das Nötigste. Instandhaltungsarbeiten am ihrem Schiff führten sie nur noch widerwillig und mit großen zeitlichen Verzögerungen durch. Sie schliefen viel, stritten sich immer häufigen wegen absoluter Nichtigkeiten und verloren das Ziel ihrer Mission zunehmend aus den Augen. Es würde nicht mehr allzu lange dauern, bis Gewaltätigkeiten ausbrachen. Aufgrund des fehlenden Kontaktes zu ihren Heimatwelten verschwammen die sozialen Maßstäbe. Die ganze Sehnsucht der drei Menschen an Bord der Chronos richtete sich auf einen bestimmten Punkt.

Den Wendepunkt der Reise!

Der Punkt, an dem die Chronos den Rückweg zur Erde einschlagen würde. An diesem Punkt begann ihre eigentliche Aufgabe. Von da ab bekam alles wieder einen Sinn.

Jetzt lag der Sinn darin, den jeweils nächsten Hypersprung abzuwarten. Jede Etappe durch den Nurraum brachte sie noch weiter weg, von allem, was Bedeutung hatte. Und wenn für Menschen nichts mehr Bedeutung hat, beginnen sie, vor sich hin zu vegetieren.

Wendepunkt!

30.08.2173, Raumschiff Chronos, Galaxie Abbell 396, 800 Millionen Lichtjahre vom Ziel entfernt

Janita lag in einem Pilotensessel in der Zentrale der Chronos und checkte ein paar Systeme. Das war irgendwie wichtig. Sie war nackt. Kleidung war nicht wichtig; nicht mehr. Gorl kam herein, ebenfalls nackt und sah die Frau dort liegen. Er ging zu ihr, steckte sein errigiertes Glied in ihren Mund, worauf sie mechanisch zu lutschen begann, ohne sich beim Systemcheck unterbrechen zu lassen. Gorl zog den Schwanz aus ihrem Mund und drang in ihre Vagina ein. Janita nahm auch das ohne besondere Aufmerksamkeit hin. Sie ließ ihn gewähren, bis er sich in ihr ergoss. Zum Glück kam Samoka gerade, um sie solange zu lecken, bis auch sie zum Orgamus kam. Alles war so egal, gleichgültig und ohne jede Bedeutung. So sackte im Laufe der Zeit auch die Kommunikation an Bord der Chronos auf das denkbar niedrigste Niveau ab.

Gorl legte sich derweil zum Schlafen auf den Boden der Zentrale. Er schlief ein und hatte diffuse Träume vom Planeten Trombur, dem großen Meer und dem unbeschreiblichen Duft frischer, unverbrauchter Luft.

Dass die Temponauten diese Phase der Reise überlebten, lag am Bordcomputer der Chronos, der sie am Leben erhielt. Der Rechner sorgte für ein Minimum an Hygiene, verabreichte über die Sitze unbemerkt Nährstoffe und Medikamente und sorgte für die Aufrechterhaltung der technischen Funktionen an Bord.

Und er kannte ein Mittel, um die Besatzung aus ihrer Lethargie zu reißen!

Vier Töne…

„Ding-Dang-Ding-Dong“

Schrill….alarmierend und voller Bedeutung!

Die Tonfolge, die während der Vorbereitung permanent erklungen war, wenn Pfichtaufgaben zu erfüllen waren. Immer, wenn überlebenswichtige Dinge zu tun waren, entscheidende Dinge!

Vier Töne, immer wieder….laut!

„Ding-Dang-Ding-Dong“

Seit Jahren hatten sie diese Töne nicht gehört. Die eingetrübten Bewusstseinsinhalte der Temponauten wurden explosionsartig reaktiviert. Alle sprangen aus dem phlegmatischen Nichtstun auf, sahen sich an, fühlten sich beschämt. Gorl rannte ins Bad. Fertigmachen! Ganz schnell wieder der Teraschnek–Gorl Moiseyenko werden, der vor Jahren die Milchstraße verlassen hatte. Jetzt wurde er gebraucht. Es war soweit! Alles hatte plötzlich wieder Sinn.

Der Wendepunktalarm löste auch bei Janita und Samoka hektische Reaktionen aus. Vollkommene Klarheit löste das Dahinvegetieren ab.

Etwa 20 Minuten später standen sie in frischen Bordkomkinationen, geduscht und rasiert in der Zentrale. Der Bordcomputer saugte gerade den letzten Rest Reinigungsflüssigkeit vom Fußboden ab und versprühte intensiv Duftstoffe im ganzen Schiff.

Der Wendepunkt!

Eine ganze Kette von Aufgaben war zu erledigen. Die wichtigste: Die Positionsdaten des Hinfluges mussten zum Ausgangspunkt zurückverfolgt werden, um den Weg zurück in die Milchstrassengalaxie zu finden. Dann mussten die Hypersprünge und Normalraumphase an das Energieniveau der Chronos angepasst werden. Eine Spektralanalyse der Galaxien in Richtung Milchstrasse musste durchgeführt und mit den Kursdaten abgeglichen werden.

In den ersten Stunden der wiedererlangten Aktivität vermieden es alle drei, sich in die Augen zu sehen oder miteinander zu sprechen. Sie zählten zur Elite der menschlichen Wissenschaft und hatten die letzten Monate auf dem Stand von Primaten verbracht. Jetzt empfanden sie Scham und es war peinlich in der Nähe der anderen zu sein. Gorl wollte etwas sagen, unterdrückte es aber im letzten Augenblick, als ihm auffiel, dass er Samoka mit dem Wort ‚Analschlampe’ ansprechen wollte. Er schluckte nur und arbeitete verbissen weiter.

Samoka brach das Schweigen schließlich. „Interessante Erfahrung, nicht wahr?“

„Was bezeichnest du als interessant?“, wollte Gorl wissen.

„Na, wenn einem alles völlig gleichgültig ist.“

„Also, ich find’s im Nachhinein eher ziemlich unappetitlich. Mag gar nicht über die letzten Tage zurückdenken. Gut, dass dieses Schläfersignal tatsächlich funktioniert hat.“, sagte Janita und wich Gorls Blick aus. Samoka sah beide an und bemerkte nur, „Es ist vorbei und wir sollten es als nicht gar so negativ betrachten. Welche Menschen bekommen schon so eine Gelegenheit, ihre Urtriebe zu erfahren und auszuleben.“

„Welche Menschen wollen das schon?“, fragte Gorl. Samoka ging auf ihn zu, küsste ihn und griff ihm sanft in den Schritt. „Sag nicht, Gorlilein, es hat dir keinen Spaß gemacht. Sonst ficke ich für den Rest des Fluges nur noch die kleine, süße Sau neben dir.“

Gorl musste plötzlich lachen. Über sich und über seine Begleiterinnen. Janita und Samoka fielen darin ein. 5 Minuten später bekam kaum noch jemand Luft und die Sache war erledigt.

16.03.1939, Königschloss, Warschau

Ignacy Mościcki schaute in die Runde und verkündete mit deutlicher Erregung in der Stimme, „Sie haben es tatsächlich getan! Sie sind in Prag einmarschiert. Genau wie in den Dokumenten von Mr. Spiner beschrieben.“ Edward Rydz-Śmigły legte die Hand auf einen Stapel Unterlagen, die er mitgebracht hatte. „Wir müssen jetzt endgültig davon ausgehen, dass Spiners Dokumente absolut richtig sind. Wir werden also die Nächsten auf Hitlers Liste sein.“ General Władysław Sikorski erhob sich und schritt durch das Zimmer. „Und? Sind wir soweit? Oder wird die Wehrmacht uns zerquetschen?“ Er sah zu Rydz-Śmigły hinüber, der aus dem Stapel Unterlagen ein Blatt zog. „Die Armija Krajowa ist einsatzbereit und mit Waffen ausgerüstet, die wir uns nur mit Mühe vorstellen können. Sie ist technisch die modernste Armee der Welt und hervorragend trainiert. Mr. Spiner und die Grupa Przyszłość haben wahre Wunder vollbracht. Das allein ist aber keine Garantie für einen Sieg. Die Wehrmacht ist uns zahlenmäßig weit überlegen. Wir müssen jetzt Phase 2 des Sanacja-Planes starten. Uns bleiben noch 168 Tage dafür. Und wir müssen uns auch um die Russen kümmern.“

Der polnische Präsident sah seine beiden Generäle eine Weile lang an. Dann nickte er und sagte leise „Gut meine Herren, es ist unsere einzige Chance. Beginnen Sie mit Phase 2. Aber vergessen Sie eines nicht: Es muss gelingen. Alle Aktionen müssen bis zum 01. September geheim bleiben.“

Die Generäle nickten, verabschiedeten sich und ließen einen sehr bedrückten Staatschef zurück.

18.03.1939, Schlesien, Bahnstrecke zwischen Brieg und Oppeln

Niemand bemerkte die Soldaten in ihren Tarnanzügen. Die Frühnebel und die tief hängenden Wolken aus denen es heftig schneite ließen ohnehin kaum zu, in der hügeligen Landschaft etwas zu entdecken. Die Soldaten bewegten sich fast lautlos an der Bahnstrecke entlang, bis sie auf eine Weiche stießen. Sie wühlten Schnee und Schotter beiseite und gruben ein etwa 30 cm tiefes Loch zwischen den Schwellen. Darin versenkten sie ein Bündel Sprengstoff, welches mit einem Langzeitzünder versehen war. Das Datum stellten sie auf den 3. September 1939. Das Loch wurde wieder mit Schotter verschlossen und ein paar Händen voll Schnee bedeckt. Der Neuschnee würde die Spuren verwischen. Die Männer folgten der Bahnstrecke weiter, bis sie auf eine kleine Brücke über einen kleinen Bach stießen. Auch die Brücke wurde präpariert.

Zwischen März und August 1939 wurde entlang der polnischen Grenze praktisch jede Brücke, jede Weiche, jedes Stellwerk und jede Straßenkreuzung vermint. Jenseits der Grenze zu Russland geschah das Gleiche.

13.03.2173, Raumschiff Chronos, 160 Millionen Lichtjahre vom Ziel entfernt

Gorl glaubte nicht, was der Monitor zeigte. Das, was dort vor der Chronos im Raum schwebte, schien eindeutig künstlichen Ursprungs zu sein. Wobei Ursprünge der richtigere Ausdruck zu sein schien. Das Raumschiff oder wie auch immer man das Ding, welches vor der Chronos durch das Weltall zog auch immer nennen wollte, wies nicht nur gigantische Ausmaße auf, sondern schien aus allem zusammengesetzt worden zu sein, was sich im All so fand. Das fremde Ding erstreckte sich über ungefähr 70 Kilometer und schien ebenso breit und hoch zu sein. Es bestand im Wesentlichen aus viel Gestänge, an dem in Abständen Raumschiffwracks, kleinere Asteroiden und allerhand unidentifizierbare Sachen montiert waren. In der vermeintlichen Mitte befand sich ein Oktaeder von sicher 2 Kilometern Kantenlänge, zu dem alle Streben zu führen schienen. Überall gab es Fenster, durch die weißes Licht in die Tiefen des Alls strahlte. Unglücklicherweise befand sich das fremde Ding exakt in der Flugbahn der Chronos und auch, wenn es noch gut 6 Millionen Kilometer entfernt war, gab es den Zeitfahrern in ihrem winzigen Schiff Anlass zu allerhand Kopfzerbrechen. Den Zielkurs zu ändern bedeutete, den Zeitsprung am Ende der 800 Millionen Lichtjahre langen Strecke gründlich zu vermasseln. Den Kurs nicht zu ändern, würde zwangsläufig zur Kollision mit dem größten Haufen Schrott führen, den Gorl je gesehen hatte.

Das Interesse des Sammlerrechners war geweckt. Seit das Vereinigerschiff der Erbauer vor nicht einmal 8000 Jahren an einem Planeten vorüber gezogen war, in dessen Umlaufbahn neben allerhand wirklich gutem Weltraumschrott auch eine ganz wunderbare und obendrein vollkommen intakte orbitale Orterstation schwebte, die der Sammler dem Vereinigerschiff hinzugefügt hatte, verfügte der Augenrechner über ganz großartige Fähigkeiten. Die Bewohner des Planeten hatten sogar weitere Gegenstände ins All geschossen, als sie die Annäherung des Vereinigerschiffes registrierten. Drei chemische Raketen, die an der Spitze gut verwertbaren Nuklearbrennstoff trugen, hatten die Bewohner des Planeten geschickt. Zwei davon konnten direkt im Anflug mit dem großen Schiff vereinigt werden. Die dritte explodierte unglücklicherweise und richtete in einem Außenbereich allerhand Schaden an. Zu dumm, dass die Bewohner des Planeten die Raketen mit einer kritischen Masse des Kernbrennstoffe beladen hatten. Etwas weniger hätte auch gereicht und wäre explosionssicher gewesen. Der Strategierechner stellte die Vermutung an, dass es die Leute dort unten aufgrund ihrer frühen technischen Entwicklungsstufe nicht besser wussten. Anstelle der beschädigten Bereiche fügte der Sammlerrechner dem Schiff hinzu, was in der Umlaufbahn des Planeten so herumschwirrte. Satteliten, Raketenstufen, eine unbemannte Raumstation und halt die Orterstation, deren große Antenne sich in Verbindung mit der fünfdimensionalen Funktechnik, die von einem vorüber ziehenden Schiffswrack hinzugefügt worden war, als echter Schatz erwies.

Der Sammlerrechner analysierte das kleine Schiff, welches in 6 Millionen Kilometern Entfernung auf direktem Kollisionskurs unterwegs war und stufte es sofort in die höchste Bewertungsstufe ein. Für seine winzigen Ausmaße, wies das fremde Schiff ein außerordentlich hohes Energieniveau auf. Die Datenmengen, die dort drüben pro Zeiteinheit verarbeitet wurden, ließen auf höchsteffiziente Computer schließen. Und der Antrieb war technisch weiter entwickelt, als alles, was das Vereinigerschiff vorzuweisen hatte.

Der Sammlerrechner kontaktierte umgehend den Konstruktionsrechner, der ebenfalls die höchste Bewertungsstufe festlegte. Ebenso verhielten sich der Augen-, der Politik- und auch der Kursrechner.

Das kleine Schiff musste dem Vereinigerschiff hinzugefügt werden. Die überragenden Komponenten der Fremden waren für die weitere Reise unabdingbar.

Es gab allerdings ein Problem. An Bord des Fremdschiffes befanden sich organische Lebensformen, die bei der Vereinigung sicher zerstört würden. Das Vereinigerschiff durfte aber keine Lebensformen töten, es sei denn, das Schiff wurde von Ihnen bedroht. Die Rechner standen vor einem Problem. Auf der einen Seite musste das fremde Raumschiff hinzugefügt werden. Andererseits befanden sich Lebewesen an Bord, die keinen Schaden nehmen durften. Und aufgrund der Geschwindigkeit, mit der sich beide Objekte aufeinander zu bewegten, drängte die Zeit!

Die Menschen an Bord der Chronos befanden sich in einem ähnlichen Dilemma. Den Kurs zu ändern, war gleichbedeutend mit dem Scheitern der ganzen Mission. Die Chronos würde niemals den vorgesehenen Zeitenergiezustand erreichen, wenn jetzt Richtung und Geschwindigkeit geändert wurden. Die Alternative dazu hieß, mitten durch den künstlichen Schrotthaufen zu fliegen, der auf ihrem Kurs lag. Es war nicht zu erwarten, dass die dort drüben in der Lage sein würden, mit Menschen zu kommunizieren, wer immer die auch sein mochten. Trotzdem entschied sich die Besatzung der Chronos dafür einen Hyperfunkspruch zu senden und zu versuchen, die Fremden zu einer Kursänderung zu bewegen.

Die Rechner des Vereinigerschiffes lieferten sich gegenseitig widersprüchliche Ergebnisse. Der Sammlerrechner ermittelte eindeutig, dass das fremde Raumschiff integriert werden musste. Das Leben der Organismen an Bord ordnete die Maschine dem Zugewinn an Fähigkeiten unter. Der Konstruktionsrechner entschied genau so. Der Kursrechner dagegen ermittelte zwei Ergebnisse mit der exakt gleichen Wahrscheinlichkeit von 50%. Da das von der Rechnerlogik her nicht zutreffen konnte und ein eindeutiges Ergebnis vorliegen musste, rechnete die Maschine pausenlos weiter. Der Politik-, wie auch der Augenrechner gaben dem Leben an Bord des kleinen Raumschiffes knappen Vorrang und stimmten für „nicht integrieren“. Somit lag ein Patt vor. Alles hing nun vom Kursrechner ab. Und der rechnete weiter, während die Entfernung zwischen den beiden Schiffen beständig abnahm.

Die Entfernung zu dem Riesenschrotthaufen betrug noch knapp 2 Millionen Kilometer. Auf die Funksprüche erfolgte keinerlei Reaktion. Samoka lieferte ständig neue Daten über den Hyperorter. Wie es aussah, bestand zwischen den Elementen des merkwürdigen Gebildes genug Leerraum, um einfach hindurch zu fliegen. Ob die Chronos das wirklich schaffte, ohne mit einem Bestandteil des fremden Schiffes zusammen zu stoßen, war im Augenblick noch nicht klar. Samoka aktualisierte die Daten zwar inzwischen von Minute zu Minute, aber noch war die Auflösung der Ortung zu grob. Bis jetzt sahen sie nur Elemente die größer als ungefähr 15 Meter waren. Was wenn dieses Ding noch aus wesentlich kleineren Bestandteilen bestand und die vermeintlichen Hohlräume tatsächlich jede Menge Materie enthielten? Dann würde es bei der Kollisionsgeschwindigkeit beider Objekte für die kleine Chronos absolut übel aussehen. Janita ließ derweil mögliche Ausweichkurse berechnen. Einen solchen zu benutzen bedeutete jedoch, dass sich sowohl die Ankunftszeit, wie auch die Zielposition ihrer Reise verschieben würden. Bei der jetzigen Entfernung vom Sonnensystem des Jahres 1999 war absolut nicht vorhersagbar, wie groß die Fehler werden konnten. Wenn sie bei der Sache vor 1999 ankämen oder ein paar hundert Lichtjahre von der Erde entfernt, stellte das kein unlösbares Problem dar. Eine Sekunde zu spät bedeutete allerdings das Scheitern der Mission. Jetzt auszuweichen würde unter Umständen genau diese Sekunde Verspätung nach sich ziehen.

Der zögerliche Kursrechner gefährdete die Aufnahme des wertvollen Fundstückes. 10,4422 Sekunden blieben noch, um zu einer Entscheidung zu kommen. Die anderen Rechner begannen damit zu prüfen, ob der Kursrechner in dieser Zeit seine Berechnungen abschließen konnte. Mit ihren Anfragen verlangsamten sie den Kursrechner weiter. Bei 5 Sekunden Restzeit erzwangen die Prozessoren der Maschine eine Entscheidung.

Es stand jetzt 3 : 2 für die Integration!

Während Janita noch über Ausweichkursen brütete, nahmen Samoka und Gorl eine plötzliche Veränderung an dem entgegenkommenden Schiff wahr. Zwei Kräne oder Gerüste wuchsen rasend schnell aus unterschiedlichen Bereichen genau auf den Punkt zu, an dem die Chronos das fremde Schiff passieren würde. Zwischen den Enden der aufeinander zuwachsenden Arme bildeten sich in unregelmäßigen Abständen bläuliche Energieentladungen. Gorl hieb instinktiv auf den Triebwerksregler. Die Chronos beschleunigte innerhalb einer Sekunde und durchflog die Gerüstarme zwei Sekunden bevor diese zusammentrafen. Das kleine Zeitschiff wurde von den Energieentladungen getroffen, was zur Folge hatte, dass ein guter Teil der Instrumente aufgrund der Überlastung abgeschaltet wurde. Dennoch schlüpfte die Chronos zwischen den Fangarmen hindurch, die unmittelbar hinter den Triebwerken aufeinander prallten. Die Energie, welche eigentlich dazu gedacht war, die Hülle des Zeitschiffes zu durchbrechen und es mit dem Vereinigerschiff zu verschweißen, entlud sich jetzt in den jeweils anderen Arm und fuhr grell leuchtend in die Sektionen aus denen die Gerüstarme gekommen waren. Ein Bruchstück wurde ins All hinaus geschleudert und raste durch die Raum-Zeitstruktur, die das Zeitschiff umgab. Dann verschwand es in einem Wirbel aus Energie. Die Chronos raste derweil davon. Gorl saß starr vor den Kontrollen, unfähig sich zu rühren. Wahrscheinlich war ihre Mission soeben gescheitert. Durch die Beschleunigung befand sich die Chronos nicht mehr in demselben Raum-Zeit-Energie-Zustand, der für die Zeitreise von ausschlaggebender Bedeutung war. Janita reagierte als erste und nahm den Schub zurück.

13 April 1970, NASA – Schiff Apollo 13, 14.500 Kilometer über Zentralafrika

„Houston, das sieht prima aus, Odyssey und Aquarius sind sauber aneinander gekoppelt. Jim Lovell, der Kommandant von Apollo 13 war hochzufrieden. Bislang verlief der dritte Flug zum Mond absolut nach Plan. In drei Stunden stand die zweite Zündung der dritten Stufe bevor, die Odyssey und Aquarius zum Mond befördern würde. Wenn das abgeschlossen war, würden Lovell und seine Begleiter Swigert und Hayes Zeit zum Schlafen finden. Im Augenblick kreiste Apollo 13 in 14.500 Kilometern Höhe um die Erde. Die Vorbereitungen zum Einschuss in die Mondbahn liefen. Eine Prozedur nach der anderen musste abgearbeitet werden, der Kursrechner musste im Maschinencode programmiert werden und endlos viele Systeme endlos langen Tests unterzogen werden. Dann war es soweit, die Triebwerke der dritten Stufe der Saturn V – Rakete zündeten und brachten Apollo 13 und deren Besatzung zum 389.794 Kilometer entfernten Mond.

Nachdem die Aktion reibungslos verlaufen war, begab sich die Besatzung zur Ruhe. Schlafen war in dem surrenden, rauschenden und knisternden Raumschiff nicht drin. So döste jeder vor sich hin, so gut es halt ging. Während Apollo 13 mit fast 40.000 Kilometern pro Stunde dem Mond immer näher kam, machte sich zum ersten Mal seit dem Start eine Art Ruhe bemerkbar. Seit dem Abheben vom Kennedy Space Center waren mehr als 40 Stunden vergangen. Und obwohl Lovell, Swigert und Hayes buchstäblich unter Strom standen, schlich sich eine gewisse Erschöpfung ein.

Das Bruchstück des Fangarms hatte die Chronos gestreift und war in die Flugrichtung des Zeitschiffes mitgerissen worden. Aufgeladen mit Millionen Volt elektrischer Energie raste es in den Überraum, wo es seinen Kurs unbeirrt beibehielt. Während die Chronos während ihrer Reise das für den Zeitsprung nötige Energieniveau quasi Häppchenweise aufbaute, wurde das Stück Weltraumschrott explosionsartig in Richtung des Ziels des Zeitschiffes geschleudert. Es trat wesentlich früher, als die Chronos am Zielpunkt in das Einsteinuniversum ein.

Nur nicht zur selben Zeit!

Das Fragment des Vereinigerschiffes fiel viel weiter in die Zeit zurück. Die ungeheure Energie verpuffte im Nurraum und war am Ende einer Strecke von 160 Millionen Lichtjahren nicht mehr vorhanden. Der etwa 2000 Gramm schwere Brocken aus verkohltem Aluminium tauchte völlig unbemerkt im Sonnensystem zwischen dem dritten Planeten und dessen Mond auf, 202 Jahre früher, als es abgeflogen war. Es war noch immer schnell und genau vor dem einzigen Hindernis aus der 5. Dimension gekommen, dass es um diese Zeit an diesem Ort geben konnte: Apollo 13!
55 Stunden und 54 Minuten nach dem Start und mehr als 300.000 Kilometer von der Erde entfernt traf das Bruchstück aus der Zukunft auf die Odyssey. Es traf in einem sehr flachen Winkel auf das Servicemodul, genau dort wo sich der Sauerstofftank 4 befand. Jack Swigert schaltete einen Augenblick später den Ventilator des Tanks ein. Der Einschlag und die Explosion des Sauerstoffs erfolgten fast zeitgleich. Apollo 13 begann wild zu taumeln. Die Bodenkontrolle in Texas registrierte das ebenfalls und fragte unverzüglich nach. Jim Lovell gab daraufhin zurück „Houston, wir haben ein Problem!“

202 Jahre später und 159 Millionen Lichtjahre entfernt steckte die Chronos ebenfalls in Schwierigkeiten. Zwar war sie dem fremden Schiff entkommen, aber durch die ungeplante Beschleunigung musste der Kurs korrigiert werden. Zu allem Überfluss war mit Sicherheit davon auszugehen, dass die Zeitreisenden früher, als geplant im Sonnensystem eintreffen würden. Wie viel früher vermochte niemand zu sagen. Eine Woche? Ein Monat? Ein Jahr? Oder möglicherweise in einem ganz anderen Jahrhundert? Gorl schaute in die Runde und bemerkte, noch immer völlig aufgelöst „Leute, wir haben ein Problem!“

27.04.1939, Königschloss, Warschau

Die bittere Erkenntnis, dass die Deutschen angreifen würden, wurde durch den heutigen Akt weiter bekräftigt. Hitler hatte durch ein Memorandum einen Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und Polen aus dem Jahr 1934 gekündigt.

Dieses Ereignis war in Brent’s Unterlagen nicht beschrieben und löste einige Bestürzung in der polnischen Regierung aus. Womöglich würden die Deutschen nun doch viel früher einmarschieren. Die Militärs, zumindest die der Armija Krajowa blieben gelassener. Sie wussten aus Meldungen der Sabotagetrupps und durch die Höhenaufklärer, dass die deutschen Vorbereitungen noch lange nicht abgeschlossen waren. Zudem enthielt selbst die digitale Ausgabe der Encyclopædia Britannica bei weitem nicht jedes geschichtliche Ereignis.

Da ein Krieg, auch aufgrund der aggressiven Außenpolitik Polens immer unvermeidlicher erschien, wurde im eingeweihten Kreis innerhalb der Warschauer Führung jetzt mit Sicherheit der 1. September 1939 als Angriffstermin angenommen. Bis dahin musste die Verminung des deutschen Grenzgebietes fortgesetzt werden. Seit vergangener Woche brachten polnische Sabotagetrupps Sprengladungen auch an deutschen Lokomotiven und Eisenbahnwaggons an. Die hierfür entwickelten Sprengkörper sahen aus, wie Pressluftbehälter für die Bremsen und fielen kaum auf. Bislang war das ganze Unterfangen, wie die ganze Armija Krajowa unentdeckt geblieben. Und die vorsichtige Ausrüstung der regulären Armee mit Panzerfäusten in großen Mengen fiel kaum auf. Das lag wohl maßgeblich am Getöse der Politiker, wie dem Kriegsminister Tadeusz Kasprzycki und am Säbelrasseln von General Hallers Blauer Armee und General Latiniks Kavallerie. Im deutschen Führungsstab war man zudem der Auffassung, dass man die Geheimdienste aus Polen weitgehend abziehen konnte, da man bereits alles über die polnische Armee wusste und diese keine besondere Gefahr darstellen würde.


Heimat

26.07.2173, Raumschiff Chronos, 200,000 Lichtjahre vom Ziel entfernt

Vor der Chronos leuchtete die Milchstrasse! Sie nahm den gesamten sichtbaren Himmel ein und erschien der Besatzung des Zeitschiffes, wie eine Verheißung. Sie hatten das Unglaubliche geschafft. Aus 800 Millionen Lichtjahren Entfernung hatten sie ihre Heimatgalaxie wieder erreicht. Der Sprung zur Erde war von hier aus ein Kinderspiel. Fragte sich nur, in welchem Jahr das Zeitschiff sich befand? Um das festzustellen mussten sie ein Signal von der Erde auffangen. Eine Fernsehübertragung oder ein Radiosignal, in dem ein Datum genannt wurde. Aber dazu mussten sie erst einmal in die Nähe des Sonnensystems gelangen.

Samoka zeigte auf die Darstellung des Kursrechners, die dreidimensional in der Zentrale der Chronos schwebte. „Das ist die Sonne. Wenn wir von hier aus 0,0044 Bogensekunden neben dem Stern auftauchen, sollten wir uns etwa zwischen der Neptun- und der Uranusbahn befinden. Da gibt es viel Raum, wenig Schutt und wir sollten eine große Menge irdischer Radiosignale empfangen.“ Janita und Gorl machten zustimmende Gesten, was Samoka zu einem Fingerzeig auf ein Symbol in dem Kurshologramm veranlasste. Die Darstellung verschwand und die Chronos ging in Wartestellung, bis alle Besatzungsmitglieder in ihren Sitzen Platz genommen hatten. Gorl setzte sich als Letzter. Er sah angespannt aus, da er nicht wusste, wie groß der zeitliche Fehler, der vom Zusammenprall mit dem fremden Schiff vor 4 Monaten herrührte, sein mochte. In 9 Stunden würde er es wissen. In Gorls Kopf rotierte nur ein Gedanke: ‚Bloß nicht zu spät kommen!’.

Der Planet Uranus nahm etwa die Größe des Vollmondes am Erdhimmel ein. Das Zeitschiff stand etwa 6 Millionen Kilometer von dem Gasplaneten entfernt in Richtung Neptun. Im Jahr 2173 hätten hier mindestens 3 Raumstationen auf der Stelle nach Identität und Ziel des Neuankömmlings gefragt.

Aber hier gab es keine Raumstationen. Es war still in den Empfängern der Chronos, bis Gorl eine Langwellenradiofrequenz anwählte. Eine tiefe Stimme sprach in monotonem Singsang in einer fremden Sprache. Der Computer brauchte nicht lange, um den Sprecher als Iraner zu identifizieren, der Fasi sprach. Die Übersetzung folgte wenig später. Der Mann sprach über amerikanische Provokationen im persischen Golf. Das sagte den Zeitreisenden noch nicht viel, aber immerhin soviel, als das dies die Vergangenheit war. Es folgte etwas Komisches, vielleicht Religiöses und dann ein Wetterbericht für…..der Mann nannte ein Datum…….den 23. Dsul-Hidscha 1417!

Zu spät! Lächerlich!

Die Chronos war 580 Jahre zu früh angekommen!

Samoka machte etwas wie „Upstibups“, Janita sagte gar nichts und Gorl Dinge, die später niemand wiederholen wollte.

Immerhin war das Problem lösbar. Ein Hypersprung auf eine geeignete Position war dazu nötig und dann ein Flug knapp unter Lichtgeschwindigkeit zurück zur Erde. Aufgrund der, seit der Relativitätstheorie bekannten Zeitdilatation, kam die Chronos in 580 Jahren wieder im Sonnensystem an. Gorl gab dem Computer das Zieldatum vor und ließ den Kurs berechnen. Der Computer stellte den Verlauf holografisch dar und spuckte auch das Ankunftsdatum im Sonnensystem aus:

26.07.2577!

Gorl verstand jetzt überhaupt gar nichts mehr. Weshalb schickte der Bordrechner sie ins 26. Jahrhundert? Er begann hektisch damit, das Kurshologramm zu untersuchen. Alles stimmte, nur das Endergebnis war um 580 Jahre verkehrt. Die beiden Frauen machten keine viel bessere Figur. Janita ließ eine Datentabelle darstellen. Das erschien bei ca. 700 Einzelwerten nicht allzu klug zu sein, brachte aber die Lösung. Vor den eigentlichen Kurs- und Zeitangaben standen zwei einsame Zeilen. Die erste sagte: „Dsul-Hidscha = Islamische Zeitrechnung, Planet Erde“, in der zweiten Zeile stand die entsprechende Umrechnung in den für die Erde gebräuchlichen Solarkalender. Demnach war heute der 26. Juli. 1997!

Gorl stand da, gestikulierte hilflos und stammelte noch hilfloser. Seine Begleiterinnen trugen mit ihrem schallenden Gelächter nicht gerade dazu bei, seine Situation zu verbessern. Dabei war sie eigentlich gut. Sie waren nur 2 Jahre früher als geplant exakt am richtigen Ort angekommen. Gemessen an der zurückgelegten Entfernung war das eine Meisterleistung.

Sie steuerten die Erde an. Je näher Sie dem Blauen Planeten kamen, umso mehr steigerte sich das Stakkato der Radiosignale. Funk, Radio, Fernsehen, Telefon; der Planet posaunte seine Existenz in voller Lautstärke ins All hinaus.

Mit einem kurzen Hypersprung erreichten Sie den Mars. In der Gegenwart lebten dort rund 100 Millionen Menschen. Jetzt, 176 Jahre früher kreisten nur ein paar Sonden über der Oberfläche und ein kleines Roboterauto namens Sojourner fuhr ein paar Meter durch die menschenleere rote Wüste.

Im Erdorbit angekommen, bot sich ein anderes Bild. Hier tummelten sich Satelliten, ein paar Raumschiffe, eine winzige Raumstation, die offenbar auf den Namen Mir hörte und jede Menge Schrott. Die Chronos flog mit eingeschaltetem Tarnsystem, das im Wesentlichen aus einem Bandbreitenblocker bestand, welcher Strahlung im gesamten elektromagnetischen Spektrum absorbierte. Für die Erdbewohner war das Zeitschiff unsichtbar.

11.08.1939, Deutsch-polnisches Grenzgebiet bei Kuhstein

Seit einigen Tagen wurde es immer schwieriger nicht mit deutschen Streifen in Kontakt zu geraten. Der Sabotagetrupp von Leutnant Jarushki war gestern nur knapp der Entdeckung entgangen. Seit die Deutschen im Juni die Vorbereitungen für den Fall Weiß, den Einmarsch in Polen abgeschlossen hatten und es im Grenzgebiet von feindlichen Soldaten nur so wimmelte, operierten die Trupps der Armija Krajowa fast nur noch in der Nacht und äußerst vorsichtig. Jarushkis Aufgabe bestand darin, ein kurz zuvor entdecktes Eisenbahngeschütz zu verminen. Zu seiner Gruppe gehörten 8 Soldaten, von denen einer Metallhandwerker und ein anderer Kunstmaler waren. Die anderen gehörten zu den Fallschirmjägern und verstanden sich blendend darauf, nicht aufzufallen. Und wenn doch, waren sie sehr gut darin, das Leben ihrer Entdecker drastisch zu verkürzen.

Im Augenblick lagen die polnischen Soldaten in Sichtweite der 21 cm Kanone und warteten auf den Einbruch der Dunkelheit. Um das Geschütz herum drehten 4 Wachposten ihre Runden, die nicht ahnten, wer im Unterholz jede ihrer Bewegungen verfolgte. Leutnant Jarushki besprach mit den Fallschirmjägern leise, dass die Wachposten außer Gefecht gesetzt werden mussten. Die Elitekämpfer nickten und erklärten dem Offizier, wie sie vorgehen würden. Jarushki nickte mehrmals zustimmend und wandte sich den anderen beiden Mitgliedern seines Trupps zu. „Wohin mit den Bomben?“, fragte er den Schlosser. Der reichte dem Leutnant seinen Feldstecher und erklärte, dass es am wirksamsten wäre, den Behälter für die Einsatzmunition zu sprengen. Er lenkte Jaruskis Blick auf die Haltewinkel, mit denen der Stahlbehälter mit dem Waggon verschraubt war. Zwischen dem Waggonboden und dem des Munitionsbehälters befand sich ein deutlich erkennbarer Spalt. Die Deutschen hatten lose Bretter unter die Kiste geschoben, um Vibrationen zu dämpfen. Der Maler zeigte Jarushki einen Sprengsatz, der einem dieser Bretter zum Verwechseln ähnlich sah. Der Mann hatte einige Farben und Pinsel im seinem Marschgepäck. Dafür trug er nur eine Pistole als Waffe.

Die Schicht der Posten dauerte 4 Stunden. Erfahrungsgemäß ließ nach 2 Stunden die Aufmerksamkeit der Soldaten deutlich nach. Je ein polnischer Fallschirmjäger näherte sich einem der Posten. Sie gingen dabei fast lautlos, von ihren Widersachern unbemerkt, zu Werke. Die deutschen Soldaten gingen fast zeitgleich zu Boden. Chloroform wirkte schnell und gründlich. Die Fallschirmjäger zogen die Körper der Posten an eine schwer einzusehende Stelle am Rand der Gleisanlagen. Einer der Polen warf eine leere Flasche Weizenkorn in die Gruppe der reglos daliegenden Deutschen. Die würden morgen den Einlauf ihres Lebens bekommen. Auf ein Handsignal hin kamen die anderen Soldaten aus ihrem Versteck, kletterten auf den Geschützwaggon und platzierten das mit einem Zeitzünder präparierte „Brett“ unter dem Munitionsbehälter. Gerade als sich der Sabotagetrupp absetzen wollte, hörten sie das leise Lachen einer Frau, gemischt mit einer leise sprechenden männlichen Stimme. Augenblicke später bog ein deutscher Offizier mit einer jungen Funkhelferin im Arm um die Ecke. Jarushki gab das Zeichen in Deckung zu gehen. Während die polnischen Soldaten sich flach auf den Waggonboden pressten und versuchten jedes Geräusch zu vermeiden, prahlte der Deutsche damit, dass er seiner Begleiterin gleich ein Rohr verpassen würde, gegen welches die Kanone hier eine Lachnummer sei. Er zog die, trotz der hässlichen Uniform recht attraktive Frau in Richtung eines Schuppens unweit der betäubten Wachposten. Zweifellos würde das Paar auf seinem Weg über die Wachen stolpern. Leutnant Jarushki gab einem Fallschirmjäger ein Zeichen. Der nickte, stieß seinen Nebenmann an und folgte den Nachtschwärmern. Eine Minute später lagen sie neben den Wachen. In den Taschen des Offiziers fand sich eine Flasche Weinbrand, die sie über den Betäubten entleerten und dann ebenfalls am Ort des „Besäufnisses“ hinterließen. Dann verschwand die Gruppe und passierte in der folgenden Nacht die polnische Grenze.

Diese Operation war die letzte der 2. Phase des Sanacja - Planes.

30.07.1997, Ärmelkanal, ca. 3 Kilometer vor der Isle of Wight

Die Chronos sank langsam der aufgewühlten Meeresoberfläche entgegen. Die Nacht war für die Jahreszeit eigentlich zu stürmisch, was den Temponauten an Bord des Zeitschiffes sehr entgegenkam. Der Passivorter zeigte nur wenige Schiffe in der Gegend an. Bei dem Wetter waren nur die regulären Fähren und einige Frachter unterwegs. Die Chronos tauchte in das dunkle Wasser ein und sank dem Meeresboden entgegen, auf dem sie in 122 Metern Tiefe zur Ruhe kam. Janita holte eine Tasche mit Unterlagen hervor, die sie an die anderen verteilte. Darunter befanden sich niederländische Pässe mit neuen Namen für die Ankömmlinge. Gorl hieß ab jetzt Jakko de Jong, Samoka hört auf Beatrice van Keup und aus Janita wurde Jana Konings. Die frisch gebackenen Niederländer packten kleine Koffer, die der Mode ihrer Jetztzeit nachempfunden waren, aber über einige technische Raffinessen verfügten. Jeder nahm eine Reihe von Kreditkarten von der Amro- und der Rabo-Bank sowie ca. 100.000 £ in bar mit. Anschließend zogen sie die Bordkombinationen gegen typische Kleidung der Epoche aus. Darüber zogen sie einen hauchdünnen Overall, der mit einem Schlauch mit dem Koffer verbunden wurde. Dann öffnete Gorl die Schleuse. Ein Energiefeld verhinderte, dass Wasser in die Chronos gelangte. Gorl, alias Jakko durchschritt es, woraufhin sich der Overall aufblies und den Wasserdruck ausglich. In Knöchelhöhe begann das Anzugmaterial im Infrarotbereich zu leuchten, was durch den IR - empfindlichen Filtereinsatz vor den Augen in helles Licht umgesetzt wurde. Beatrice, Jana und Jakko schritten auf das Ufer zu, was sich aufgrund des Außendrucks als recht sportliche Angelegenheit erwies.

Nach rund zwei Stunden erreichte die Gruppe den Strand. Niemand bemerkte die Eindringlinge. Gorl suchte eine Stelle an der sie den Morgen abwarten konnten. Dort verbrachten sie den Rest der Nacht in die wärmenden Overalls gehüllt. Am Morgen weckte sie ein automatisches Signal kurz nach Sonnenaufgang. Sie streiften die Anzüge ab und legten sie zusammen. Jeder nahm ein paar Nahrungskonzentrate zu sich und ging zu dem noch still daliegenden Örtchen Blackgang zu, wo sie am Ortsrand die Ankunft des Busses nach Fishbourne abwarteten, um die Frühfähre zu dort erwischen. In Fishbourne waren schon einige Leute unterwegs, die von Touristen aber einiges gewohnt waren. Auch, dass die um 4:30h am Strand standen und den Sonnenaufgang betrachteten. Als die Fähre aus Portsmouth eintraf, mischten sich die Temponauten unter die Passagiere, die für die Rückfahrt an Bord strömten. Sie fielen hier überhaupt nicht auf. Jetzt galt es Tickets zu erwerben, was die erste echte Herausforderung des Tages darstellte. Gorl sah zu, wie sein Vordermann das machte. Der zeigte lässig die Anzahl der gewünschten Fahrscheine mit den Fingern und drückte der Verkäuferin eine zerknüllte Banknote in die Hand, von der Gorl weder Wert noch Farbe erkennen konnte. Der Mann murmelte noch „Rest is for you.“, und stapfte an Bord. Gorl griff in die Tasche, in der er etwas Bargeld hatte, zeigte drei Finger, gab der Verkäuferin einen 50 £ Schein und sagte freundlich „Rest is for you“. Die Frau nahm den Schein, hielt ihn gegen das fahle Licht des Morgens und fragte, offenbar erstaunt „U’re sure?“ Gorl war für einen Moment ratlos, weil er die zwischen Kaugummi und Müdigkeit hervor gequetschte Antwort nicht verstand. Er nickte und beeilte sich weiter zu kommen. Sich an Bord eines altertümlichen Seeschiffes zu orientieren, stellte die nächste Herausforderung dar. Was sollte beispielsweise die Bezeichnung „Games Room“ bedeuten? Ein Spielzimmer für Kinder? Warum strömten dann so viele Erwachsene dorthin? Während er hinterdrein trottete, zog Samoka ihn am Ärmel und zeigte auf eine Treppe mit der Bezeichnung „Panorama Deck“. Die Treppe erwies sich als sehr steil und lang. Sie führte zum obersten Deck der Fähre, wo lange Bänke im Freien aufgereiht waren. Von hier aus hatte man einen fantastischen Blick über die Stadt, und den Solent, der die Insel vom Festland trennte. Samoka fiel auf, dass viele Leute braune oder grüne Glasbehälter hatten, aus denen Sie Getränke zu sich nahmen. Sie kamen damit aus einem Raum mit der Bezeichnung „Bar“. Samoka zog eine 50 £ Note aus Gorls Tasche, ging hinein und beobachtete kurz, wie das mit den Drinks ging. An der Bedieneinrichtung herrschte ein ungeheures Gedränge. Vor allem Männer verlangten dort lautstark nach „Beer“ oder „Lager“, einige auch nach „Bitter“. Insgesamt schien kein Durchkommen möglich zu sein, aber Samoka löste das auf ihre Art. Sie tippte einem der Typen auf die Schulter, schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln und fragte, ob sie mal durch dürfe. Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie an ihm vorbei zur Theke. Inzwischen waren weitere Männer auf die große, schlanke Frau mit den endlosen Beinen aufmerksam geworden. Nicht wissend, was das bei Männern im 20. Jahrhundert bewirkte, hatte Samoka an Bord der Chronos einen Minirock, eine Strumpfhose und ein zur Jahreszeit passendes T-Shirt gewählt. Das Wort ‚Unterwäsche’ war ihr bei der Bekleidungsempfehlung des Bordcomputers zwar aufgefallen, aber da sie es nicht recht einordnen konnte, ließ sie diesen Teil weg. Es wurde ruhig in der Bar. Eine Gasse hatte sich gebildet. Samoka bestellte drei Bitter, bekam die Flaschen und legte ihren Schein auf den Tresen. Der Barmann sagte etwas wie „Uuuuh Lady, I can’t give ya change for that“, worauf sie ihr unbeschreibliches Lächeln aufsetzte und antwortete, „Don’t worry, keep the change.“ Dann drehte sie sich um und ging mit dem Bier zurück zu Janita und Gorl. Irgendwer in der Menge sagte „Damn folks! Naomi Champbell is a shit against that!”

Zurück an Deck gab sie ihren Begleitern je eine Flasche. Gorl setzte an, nahm einen tiefen Schluck der braunen Flüssigkeit und machte ein Gesicht, als ob ihm jemand Schwefelsäure in den Mund gekippt hätte. Janita und Samoka kosteten vorsichtiger und fanden es zwar ungewohnt, aber nicht unangenehm. Die Überfahrt dauerte nur 40 Minuten, machte den Raumfahrern aber nicht nur aufgrund des Bieres zu schaffen. Die Fähre schwankte auf den Wellen des Meeresarmes, was zu einem stetig stärker werdenden Unwohlsein führte. Als sie in Portsmouth von Bord gingen, fühlten sich alle drei ziemlich wackelig auf den Beinen.

„Was glaubt ihr“, fragte Samoka, „sind wir aufgefallen?“

Überfall!

01.09.1939, Wielun, Polen

Das Heulen aus dem Himmel ließ den Menschen am Boden das Blut in den Adern gefrieren. Sturzkampfbomber auf Sturzkampfbomber senkte sich auf die Stadt herab und entlud seine tödliche Fracht. Das Linienschiff Schleswig-Holstein beschoss zur gleichen Zeit Ziele bei Danzig. Aus Pommern, Schlesien und Ostpreußen heraus rückten deutsche Infantrie- und Panzerverbände in Polen ein. Der Angriff erfolgte selbst für diejenigen im Land, die davon wussten mit ungeheurer Wucht. Die Wehrmacht stieß erstaunlich präzise und schnell vor. Nicht umsonst handelte es sich um die beste Armee der Welt.

Die reguläre polnische Armee stemmte sich verzweifelt gegen den übermächtigen Feind, befand sich jedoch von Anfang an in der Defensive. Die Panzerverbände der Wehrmacht waren nicht aufzuhalten.

01.09.1939, Schloss Czartoryski, Polen

Brent wirkte sichtlich angespannt und nervös. Dass es jetzt tatsächlich losging, hatte er zwar genau gewusst, aber jetzt überraschte es ihn doch. Die Kampania wrześniowa hatte angefangen. Andreij Tadicz blickte nicht weniger angespannt auf die große Karte auf dem Tisch. Hoffentlich ging das gut. Was, wenn auch die geheime Armija Krajowa nicht in der Lage sein würde, die Deutschen zu schlagen? Würden dann die Bilder aus Brent’s Filmen Wirklichkeit werden? Würde er selbst von russischen Truppen bei Katyn ermordet werden?

Der Sanacja – Plan sah vor, dass die Armija Krajowa ab dem 3. September, nach der Kriegserklärung von England und Frankreich zuschlagen sollte. Dann musste sich das Blatt einfach zugunsten Polens wenden.

Bis dahin aber wurde in den angegriffenen Landesteilen geblutet, geflüchtet und gestorben.

Die Deutschen rückten auf Danzig vor, standen vor den Außenbezirken von Poznan und Kattowice und kämpften verbissen um die Luftüberlegenheit. Das gestaltete sich schwieriger, als gedacht, weil auch die Standardflugzeuge der polnischen Luftstreitkräfte in den vergangenen Jahren modernisiert worden waren. Alle Jäger waren schneller und besser bewaffnet, als den Deutschen bekannt war. Den Messerschmitt Me 109 waren aber alle Modelle deutlich unterlegen, zumal die deutschen Piloten auch besser ausgebildet waren. Bereits in den ersten beiden Tagen des Krieges erkämpften sie die Lufthoheit und wähnten sich als die neuen Herren am Himmel über Polen.

Schon morgen sollte diese Annahme sich als grobe Fehleinschätzung erweisen. In versteckten Hangars nahe Tarnopol und StanisŁawów wurden 52 Błyskawica Jäger bewaffnet und betankt. Im Morgengrauen des 3. September rollten die ersten Jets zum Start.


31.07.1997, Portsmouth

Die Frau draußen vor dem Fenster studierte nun schon seit 20 Minuten die Haus- und Wohnungsanzeigen von Leaders Immobilien in der Londonstreet. Kevin McGowan beobachtete sie dabei von seinem Schreibtisch aus der Filiale heraus. Er beschloss, kurz hinaus zu gehen und zu fragen, ob er helfen könnte. Manche Kundinnen erwarteten so etwas. Also stand er auf, warf sein Jackett über und spazierte hinaus. „Guten Morgen, kann ich Ihnen behilflich sein, Madame?“, fragte er. Die Frau sah von den Anzeigen im Fenster auf und nickte ihm zu. „Ja, können Sie. Ich kaufe das Haus da, das da in der Torrington Road. Könnten Sie das gleich fertig machen?“ Anstatt eine Antwort abzuwarten, kramte sie in ihrer Bodybag und hielt ihm einige Bündel mit 50ern hin. „Ich zahle es gleich hier. Machen Sie es fertig, ich hole es dann nachher ab.“

Kevin war einigermaßen verblüfft. Er hatte aber am Akzent der, wie er jetzt feststellte, höchst attraktiven Frau schon gehört, dass sie keine Britin war. Aus Frankreich vielleicht oder Deutschland. Deshalb lächelte er und wies mit der Hand auf die Tür. „So einfach können wir es uns leider nicht machen.“, gab er zu bedenken, „Ein wenig Papierkram, gehört schon noch dazu. Aber kommen Sie doch bitte herein.“

‚Ach ja, Papierkram!’, dachte Janita und folgte dem Verkäufer. Diese Leute schrieben ja alles auf Papier. Sicher würde sie auch gleich irgendwo unterschreiben müssen. Hoffentlich ging das gut.
„Bitte, nehmen Sie doch Platz!“, bat der Verkäufer mit einem gewinnenden Lächeln und rückte ihr einen Stuhl vor seinem Schreibtisch zurecht. „Ich bin übrigens Kevin McGowan, mit wem habe ich das Vergnügen?“ Janita antwortete nicht gleich, sondern zog erst ihren Ausweis aus der Tasche und sagte dann „Jana Konings, Utrecht, Niederlande!“ Dabei hielt sie McGowan den Ausweis direkt vors Gesicht. Der drückte ihre Hand herunter, lächelte sie immer noch an und bemerkte „Ihren Ausweis benötigen wir erst später Mrs. Konings. Schauen wir uns das Objekt doch erst einmal an.“ Kevin kramte eine Mappe hervor und griff nach einem Bund mit Schlüsseln. „Wenn Sie mir bitte folgen möchten, Mrs. Konings.“, sagte er und ging zum Hinterausgang der Filiale. Janita tappte einfach hinterher. ‚When you are in Rome, do as the Romans.’ dachte sie bei sich. Einen Augenblick später, saß sie neben McGowan in dessen Auto und schaukelte durch Portsmouth. Der Immobilienverkäufer redete während der Fahrt munter auf sie ein, zeigte ständig weitere Objekte, die seine Agentur betreute und schimpfte über den Verkehr. Janita glaubte währenddessen sterben zu müssen. Das hier war ihre erste Autofahrt unter „Einsatzbedingungen“. Die Übungsfahrten auf Trombur waren dagegen etwas völlig anderes. Endlich erreichten sie ihr Ziel in der Torrington Road.

Sie stiegen aus, wobei sich McGowan sofort zwischen sie und das Haus drängte und zu reden begann. Janita nickte, murmelte „Schönes Haus“, und kramte nach ihrem Kugelschreiber, in der Hoffnung jetzt endlich die Unterschrift los zu werden. Weit gefehlt! McGowan ging zur Tür, hantierte einen Moment mit seinem Schlüsselbund und schloss auf. Er winkte seine holländische und offensichtlich leicht verwirrte Kundin heran und ließ sie eintreten. Janita kam mit noch immer gezücktem Kugelschreiber auf ihn zu. Doch anstatt einer Unterschrift wollte er das Haus von innen zeigen. Wozu? Janita kam die Sache allmählich sehr merkwürdig vor und sie überlegte, ob sie einfach gehen sollte. Vielleicht kam es ja bei einer anderen Agentur schneller zur Unterschrift. McGowan führte sie währenddessen von Raum zu Raum, wobei er ununterbrochen auf bauliche Gegebenheiten, Raumgrößen, kleinere Mängel und wer weiß was noch hinwies. Nachdem er mit ihr den Keller durchquert hatte, kamen sie im Garten hinter dem Haus wieder heraus. „Und“, fragte Kevin, „wie gefällt es Ihnen? Nehmen Sie es?“ Janita war endlich am Ziel! Sie ging, den Kugelschreiber immer noch in der Hand auf McGowan zu und sagte, „Ja! Unterschrift!“ Anstatt die Papiere heraus zu holen reichte der ihr die Hand, schüttelte sie herzlich und wies in Richtung Straße. „Prima, dann fahren wir zurück ins Büro und regeln den Papierkram und das Finanzielle.“ Damit ging er in Richtung Auto. Seine Kundin befand sich derweil nahe an einem totalen Nervenzusammenbruch. Noch mal fahren? Und wie viel ‚Papierkram’ war das noch bis zur Unterschrift? Sie kapitulierte innerlich und schlappte müde hinterher.

Gorl hatte es mit dem Erwerb eines Autos nicht gerade einfacher. Offenbar musste man von so was ‚Ahnung’ haben und ‚sich auskennen’. Der Verkäufer schob ihm jedenfalls fortwährend unter, dass Gorl alias Jakko de Jong sich da ja auskennen würde. Hätte er gleich bemerkt, als dieser geradewegs auf einen Bentley zugesteuert war. Gorl dagegen versuchte irgendwie zu begreifen, was der Typ von ihm wollte und was ein Bentley war. Bevor ihm das gelang, hatte er fünf Unterschriften geleistet, seine Kreditkarte benutzt und den Bentley gekauft. Jetzt stand er mit dem Schlüssel seit ungefähr einer Viertelstunde daneben und fragte sich, wie er das Ding von hier zurück zum Hafen bekommen sollte, wo Samoka auf ihn wartete. Er beschloss, dass er irgendwie eine lächerliche Figur machte. Also schloss er die Tür des Wagens auf und setzte sich hinein. Irgendetwas stimmte aber nicht. In dem Übungswagen auf Trombur gab es ein Lenkrad und verschiedene Pedale. Oh! Falsche Seite! Gorl stieg aus, um die Seiten zu wechseln. Er stieg ein und suchte nach etwas, das ihn beschäftigt aussehen ließ. Schließlich fand er die Bedienungsanleitung und begann darin zu lesen. Anschließend probierte er die Zündung, den Scheibenwischerhebel und die Blinker aus. Offenbar entsprach sein Verhalten nicht unbedingt dem Standard. Die Verkäufer des Autohauses beobachteten ihn durch die Fenster ihres Büros und unterhielten sich lebhaft dabei. Gorl startete den Motor und überlegte, welche Schritte er ausführen musste, um mit dem Wagen vom Hof zu fahren. Der Bentley war riesig, reagierte aber erstaunlich präzise auf die Lenkung und das Pedal für die Energiezufuhr. Gorl schaltete die Automatik bei getretener Bremse auf Rückwärts. Dann ließ er vorsichtig die Bremse los und der Wagen begann langsam zu rollen. Gorl befand, das Autofahren gar nicht so kompliziert sei, lenkte den Wagen in die gewünschte Richtung, wählte die 1. Fahrstufe und gab Gas. 336 KW wuchteten den Bentley Arnage auf die Ausfahrt zu. Die 3 Tonnen schwere Limousine schoss so unerwartet heftig nach vorn, dass Gorl verzweifelt in die Bremse trat. Die 3 Tonnen schwere Limousine hielt auch genauso abrupt wieder an. Er nahm die schmerzende Brust vom Lenkrad zurück und versuchte Luft zu holen. Als er durch die Windschutzscheibe nach draußen schaute, sah er einen Mann, der wie in seiner letzten Bewegung eingefroren etwa 10 Zentimeter vor dem Kühlergrill stand und hektisch atmete. Offensichtlich hatte Gorl keine Sekunde zu früh gebremst. Der Mann vor dem Auto stellte sein noch zum Schritt erhobenes rechtes Bein vorsichtig auf den Boden. Dann sah er an sich herunter, machte eine merkwüdige, himmelwärts gerichtete Geste mit den Händen und ging davon.

Beim nächsten Versuch ging Gorl mit sehr viel mehr Gefühl und vor allem sehr viel mehr Respekt vor der Kraft des Wagens zu Werke, was ihn nicht nur auf die Straße brachte, sondern auch bis auf den Parkplatz am Hafen. Als Samoka, die in einem Cafe auf ihn gewartet hatte, ihn erblickte, lächelte sie zunächst, rümpfte dann aber die Nase. „Wo warst du? Hast du dieses Ding hierher geschoben? Du bist ja völlig verschwitzt!“ Gorl beschloss, ihr zu erklären, was echtes Abenteuer und echter Angstschweiß bedeuteten. Wenig später kam Janita in nicht weniger erbärmlichem Zustand an. „Ihr glaubt nicht, was ich erlebt habe!“, sprudelte sie los, um dann gleich wieder inne zu halten. „Jakko, wie siehst du denn aus. Musstest du das Auto selbst bauen?“



03.09.1939, am Himmel über Wizna, Polen

Major Jan-Peter Grünhagen riss den Steuerknüppel seiner Me 109 nach hinten. Er musste um jeden Preis Höhe gewinnen, um dieses Ding zu erwischen. Im Anflug auf Wizna waren 3 oder 4 davon aufgetaucht. Sie kamen aus dem Nichts und waren irrsinnig schnell. Mit ihrem Auftauchen einher ging die Explosion von zwei Me 110 Zerstörern mitten im Flug. Grünhagen versuchte hektisch eins dieser Dinger zu finden. Der Motor des Jägers lief auf Hochtouren und Grünhagen zog die 109er in einen Looping. Da! Unmittelbar bevor die Messerschmitt auf dem Rücken lag, hatte er links oben einen Schatten wahrgenommen. Der deutsche Major flog ein Immelmann-Mannöver, eine Rolle im Anschluss an den Looping, um wieder in Bauchlage zu fliegen. Für einen kurzen Augenblick sah er das Ding genauer. Es handelte sich um ein Flugzeug, allerdings mit Turbinen- oder Raketenantrieb. In Deutschland liefen intensive Forschungen, um Düsenflugzeuge zu bauen, aber ein einsatztaugliches Muster existierte Grünhagens Wissen nach nicht. Die Polen dagegen flogen bereits damit. Der Major löste die Bordwaffen aus, aber der polnische Jäger befand sich längst außerhalb der Reichweite. Schräg unter ihm ging eine andere 109 brennend nieder. Im Funk hörte er die Stimme seines Staffelkameraden, Oberleutnant Hartmann. Er sah, wie die Kanzelabdeckung des brennenden Jägers wegflog und der Pilot ausstieg. In wenigen Minuten würden hier zwei Staffeln Ju 87 Sturzkampfbomber über Wizna eintreffen, um gegnerische Stellungen vor der Stadt anzugreifen. Für diese polnischen Dinger stellten die relativ langsamen Maschinen ein gefundenes Fressen dar. Im Augenblick war allerdings er selbst zur Beute geworden. An der Kanzel zischten Leuchtspurgeschosse vorbei. Eines davon schlug in den Motor ein, der schlagartig seinen Klang veränderte. Die Drehzahl ging runter und Öl spritzte auf die Windschutzscheibe. Grünhagen stieg aus. Der Fahrtwind riss seinen Körper vom Flugzeug weg. Er überschlug sich mehrmals in der Luft, wodurch er ziemlich die Orientierung verlor. Als er meinte, dass seine Füße etwa in Richtung Boden zeigten, löste er den Fallschirm aus.

03.09.1939, 10 Kilometer weiter westlich

Vom Boden aus war der Luftkampf gut zu verfolgen. Die polnischen Düsenjäger ließen sich gut an den Abgasfahnen und ihrer hohen Geschwindigkeit erkennen. Die Soldaten am Boden verfolgten von ihren Mysz-Radpanzern aus begeistert, wie eine gegnerische Maschine nach der anderen vom Himmel geholt wurde. Władysław Raginis, seines Zeichens Hauptmann und Führer einer Schützenpanzerkompanie hörte derweil den Funkverkehr der Piloten und des Gefechtstandes bei Zambrów ab. Seine Einheit wartete hier eigentlich, um gegen deutsche Panzerverbände in der Gegend von Łomza vorzugehen. Die Mysz Panzer waren dafür gebaut und ausgerüstet worden. Bewaffnet mit einer panzerbrechenden 25 mm Maschinenkanone, einem Zwillings – Maschinengewehr am Heck sowie 4 am Hauptturm montierten Panzerfäusten, stellte der 70 Stundenkilometer schnelle Mysz für jeden gegnerischen Panzer eine tödliche Bedrohung dar. Neben 3 Mann Besatzung bot der Panzer Platz für 8 Infanteristen mit voller Bewaffnung. Geschützt wurden die Insassen durch eine mehrschichtige Wurstbrotpanzerung, bei der eine energieverzehrende Keramik zwischen 2 Schichten Stahl eingesetzt war. Keine bekannte deutsche Waffe vermochte diese Panzerung zu durchschlagen. Mit diesem Kampffahrzeug verfügte die Armija Krajowa über die beste Beweglichkeit und Flexibilität aller Einheiten in diesem Krieg.

Im Augenblick fesselte allerdings eine andere Nachricht die Aufmerksamkeit des Hauptmannes. Von Łomza her näherte sich eine große Anzahl deutscher Sturzkampfbomber seiner Position. Raginis gab die Information sofort weiter und brüllte „Flakstellung bilden!“ Dann sprang er auf seinen Führungspanzer, dessen Kanone bereits in den Himmel wies. 11 weitere Richtschützen schwenkten ebenfalls die Geschütze ihrer Panzer himmelwärts und aktivierten die Infrarotvisiere. Keine Minute später ließ sich ein leises Grummeln vernehmen, das schnell zum Dröhnen zahlreicher Flugzeugmotoren anschwoll. Schwarze Punkte näherten sich vom Horizont her und wurden schnell größer. Hauptmann Raginis gab den Feuerbefehl. Die Richtschützen visierten jeweils eine feindliche Maschine an und führten die pneumatisch gelagerten Kanonen nach. Den Rest erledigte der IR – Sensor, der automatisch das Feuer eröffnete, solange sich ein Ziel vor der Mündung befand. Raginis Panzer begann zu beben, als die erste Salve abgefeuert wurde. Leuchtspurgeschosse rasten den deutschen Maschinen entgegen und trafen präzise die Motoren. Von 18 anfliegenden Maschinen holten Raginis Männer 10 sofort vom Himmel. Die 8 verbleibenden schwenkten zum Sturzangriff auf die Panzerkompanie ein, was 5 weiteren Stukas nicht gut bekam. Die verbleibenden Bomber warfen zwar ihre Bomben ab, trafen aber nur den Wald in mehr als 200 Metern Entfernung.

03.09.1939, bei Oppeln, Schlesien

Am Morgen war die Brücke über die die Bahnstrecke nach Brieg führte in die Luft geflogen. Den Weichen entlang der Strecke erging es nicht besser. Bei Polizei und Wehrmacht vermutete man von Anfang an polnische Sabotageakte. Nur die Saboteure fehlten in allen Fällen. Noch während die deutschen Sicherheitsorgane sich die Köpfe zerbrachen, flog entlang der Grenze zu Polen praktisch alles in die Luft, was verkehrstechnisch von Bedeutung war. Erst im Laufe des Tages wurde das ganze Ausmaß der Sabotage klar. Für den Moment waren alle Verkehrsverbindungen zu den in Polen kämpfenden Truppen unterbrochen.

Dieser Aspekt brachte der polnischen Armee einen unschätzbaren Vorteil. Ein Gegner ohne Nachschub verlor seine Kampfkraft innerhalb kürzester Zeit. Am Nachmittag des 3. September ging den ersten deutschen Panzerspitzen der Treibstoff aus. Die ohnehin durch überall vergrabene Minen stark angeschlagenen Verbände, standen der mit Panzerfäusten gut ausgerüsteten Infanterie des Gegners relativ wehrlos gegenüber. Zu allem Überfluss tauchten auch noch diese rasenden Monster mit Maschinenkanonen und Raketen auf und schossen Guderians ganzen Stolz innerhalb einer halben Stunde zu Klump.

Trotzdem rückte die Wehrmacht vor. Die Deutschen waren zwar überrascht, dass sie mit überlegenen Waffen angegriffen wurden, setzten ihren Vormarsch aber umso entschlossener fort.

03.09.1939, Flugplatz Ławica, Posen

220 Kilometer Luftlinie trennen den Posener Flugplatz Ławica vom Zentrum Berlins. Deutsche Verbänden hatten bereits am späten Vormittag das Dorf Dabrowa erreicht, dass nur 6 Kilometer von Ławica entfernt lag. Von dort wehte heftiger Kampflärm herüber. Gelegentlich schlug eine Artillerie- oder Panzergranate in der Nähe des Flugplatzes ein. Die Soldaten der Spezialeinheit, die in einem Hangar nahe dem Flugfeld ihre Ausrüstung in zwei Komar – Helikopter verluden schienen davon unbeeindruckt zu sein. Sie warteten auf die Dunkelheit.

Kurz vor Sonnenuntergang stiegen jeweils 10 Soldaten in eine Maschine. Das Komenda Wódz machte sich auf die Reise. Als die Hubschrauber aus der abgedunkelten Halle rollten, tobten am Westende der Rollbahn bereits schwere Gefechte. Die Deutschen waren da und für die Spezialeinheit wurde es höchste Zeit von hier weg zu kommen. Weder die Hubschrauber, noch Soldaten des Komenda Wódz durften in die Hände der Wehrmacht fallen. Der Start verlief trotz der Kämpfe reibungslos. Die beiden Maschinen machten einen weiten Bogen noch Nordosten und drehten dann in westlicher Richtung ab.

03.09.1939, Neue Reichskanzlei, Berlin

„Bin ich denn nur von Verrätern und unfähigen Idioten umgeben? Das Land, das wir angreifen heißt Polen! Polen, hören Sie Bormann, Polen, nicht England. Göring, was macht ihre sogenannte Luftwaffe da? Den Polen direkt vor die ausgeleierten Flinten fliegen? Die holen ihre unbesiegbaren Helden vom Himmel, wie Fliegendreck!“

Der Chef der deutschen Luftwaffe wollte zu einer Antwort ansetzen, aber sein Führer schnitt ihm mit einer eindeutigen Geste das Wort ab, bevor der Hermann Göring auch nur einen Ton herausbrachte.

Der Einmarsch in Polen gestaltete sich zum völligen Desaster. Die polnische Armee, die man in Berlin für einen slawischen Trachtenverein hielt, schlug mit Waffen zurück, die moderner waren, als alles, was die Welt bisher gesehen hatte. Zudem schienen alle Pläne der Wehrmacht in Polen bekannt zu sein. Überall wo die deutschen Truppen auftauchten, trafen sie auf Minen, Panzersperren und bestens vorbereitete Gegner.

Und so schäumte Adolf Hitler, dass es nur so krachte.

Erst einige Stunden später, als von der Front einige Erfolgsmeldungen eintrafen, beruhigte sich der größte Feldherr aller Zeiten ein wenig. Die Wehrmacht hatte Kattowitz, Lodz und Kraukau besetzt und marschierte in das hart umkämpfte Posen ein.

Währenddessen vernahmen die Menschen in Berlin ein unbekanntes Knattern in der Luft, was dazu führte, dass die Luftverteidigung Alarm gab. Die Sirenen jaulten los, überall in der Stadt ging die Straßenbeleuchtung aus und in der Reichskanzlei flüchtete man in den Keller. In dem ganzen Lärm und in der Dunkelheit hörte und sah niemand mehr die beiden Hubschrauber, die sich aus großer Höhe senkrecht auf das Dach der Reichskanzlei herab senkten. In Erwartung der polnischen Luftwaffe waren alle Augen nach Osten gerichtet.

03.08.1997, Portsmouth, Torrington Road

Samoka wurde vom lauten Klang gequälten Metalls aus dem Schlaf gerissen. Irgendwo, ganz in der schlugen Nähe immer wieder und wieder große Mengen davon aneinander. Es dauerte eine Weile, bis sie den Lärm als Glocken identifizierte. Sie sah auf den Radiowecker neben dem Bett, sah das Sonntag war und ihr fiel ein, dass die Menschen dieser Zeit heute in Kirchen gingen, um dort Götter, von denen sie glaubten beherrscht zu werden, anzubeten. In ihrer Zeit wurde dieser Unsinn einerseits belächelt, andererseits waren seine mörderischen Folgen Thema des Geschichtsunterrichtes. Samoka stieg vorsichtig über Gorl und Janita hinweg, die scheinbar weniger anfällig für die Götzenhuldigung dort draußen waren. Beide schliefen tief.
Sie ging in die Küche ihres neuen Heims und setzte sich auf einen der Stühle. Diese Möbel waren immer noch sehr ungewohnt, da sie sich nicht, wie richtige Sitzmöbel an ihre Körperform und ihr Gewicht anpassten. Die Aussicht, hier die nächsten zwei Jahre zu verbringen, erschien ihr nicht gerade verheißungsvoll. Sie nahm ein Nahrungspaket aus dem Küchenschrank und stellte ein Fläschchen Flüssigkonzentrat daneben. Das musste erst einmal reichen, bis sich die Körper der Zeitreisenden an die englische Küche des 20. Jahrhunderts gewöhnt hatten. Nach dem „Frühstück“ ging die Zeitreisende ins Bad, machte sich fertig und kleidete sich an. Sie gab eine kurze Nachricht in das Neuronetz, welches sie gleich nach ihrer Ankunft im Haus installiert hatten und verließ das Haus. Auf der Straße aktivierte die Samoka den Nanocomputer in ihrer Kleidung. Als Sichtgerät diente eine ganz im Stil der Zeit gehaltene Sonnenbrille. So präpariert stand sie in Verbindung mit dem Hausnetz und den Datenbanken der Chronos. Ein virtuelles Auswahlmenü, das durch die Bewegung der Pupillen bedient werden konnte, tauchte dreidimensional vor Samoka und nur für sie sichtbar auf. Die Frau aus der Zukunft wählte „Orientierung, Aktueller Standort, Kirche“ aus, woraufhin sich eine Reihe virtueller Pfeile vor ihr aufbaute, die den Weg zum nächsten Gotteshaus wiesen.

Nach ein paar Minuten Fußweg stand Samoka vor einem Gebäude dessen Türschild es als Methodistenkirche auswies. Der Test für das Navi hatte schon mal geklappt. Da sie nichts Besseres vorhatte, griff sie nach der Türklinke, öffnete die schwere Holztür und betrat einen Vorraum. Hier gab es eine Gadrobe, eine Reihe von Stühlen, einen Metallbehälter, in dessen Oberfläche ein breiter Schlitz eingelassen war und dessen Bedeutung Samoka nicht zuordnen konnte und eine große Wandmalerei, die in alberner Naivität einen Viehstall mit einer völlig unpassenden Schar von Menschen darin zeigte. Die Zeitreisende ging weiter in den Innenraum, dessen Bankreihen etwa zur Hälfte mit Kunden besetzt war, die mit gefalteten Händen undeutlich vor sich hinmurmelten. Vor ihnen stand auf einem Podest ein absolut lächerlich gekleideter Mann und sprach mit ebenfalls gefalteten Händen kaum deutlicher.

Samoka beschloss höflich zu sein und sagte erst einmal laut und vernehmlich „Guten Morgen!“

03.09.1939, 800 Meter über der Neuen Reichskanzlei, Berlin

Die Piloten der Komar - Helikopter änderten den Anstellwinkel der Rotorblätter, bis kaum noch ein Geräusch zu vernehmen war und gaben ihren Passagieren ein Handzeichen. Die Führer der Kommandotrupps setzten Nachtsichtbrillen auf und öffneten die Seitentüren der Hubschrauber. Durch die Rotorverstellung sanken die Maschinen jetzt schnell ab. Das flache Dach der Reichskanzlei schien auf den Beobachter zuzufallen. Einer der Kommandosoldaten lud eine Armbrust mit einem Stahlpfeil und setzte ein Zielfernrohr auf die Waffe. Der Komandoführer in der ersten Komar tippte seinen Armbrustschützen an, zeigte nach unter und sagte „Flakposten!“ Auch im zweiten Hubschrauber war die Besatzung auf die deutschen Luftraumbeobachter auf dem Dach aufmerksam geworden. Drei deutsche Soldaten starrten angestrengt durch ihre Feldstecher nach Osten. Ein Vierter schwenkte ein Horchgerät von Nordosten nach Südosten. Das war gefährlich, denn irgendwann würden die Deutschen auf die Hubschrauber hinter ihnen aufmerksam werden. Jetzt musste alles schnell gehen. Auf 100 Meter Höhe schossen die Armbrustschützen die hinteren beiden Deutschen ab. Bevor die anderen realisiert hatten, was eigentlich los war, wurden sie mit schallgedämpften Pistolen erledigt. Die Landung verlief ohne weitere Zwischenfälle. Jetzt hieß es warten. Der Kommandotrupp schaffte die Leichen beiseite und vier polnische Soldaten übernahmen den Posten, direkt über Hitlers Ballsaal. Sie würden eventuelle Wachablösungen ausschalten.

Der Rest der Spezialeinheit lief leise und geduckt zu der vorgesehenen Dachluke. Der Zugang war von innen verschlossen, widerstand der angesetzten Brechstange jedoch nicht lange. Die darunter liegende Abstellkammer schien für das Haupersonal gleichzeitig das heimliche Spirituosenlager zu sein. Jedenfalls standen hinter einem Stapel Putzlappen etliche Flaschen Weinbrand. Das interessierte die Eindringlinge jedoch wenig. Von hier ab würden sie es mit der SS zu tun bekommen und jeder war sich darüber im Klaren, dass er diesen Einsatz vielleicht nicht überleben würde.

03.09.1939, Luftschutzbunker unter der Neuen Reichskanzlei, Berlin

„Die polnische Luftwaffe? Göring, ich frage Sie, wie kommt die polnische Luftwaffe nach Berlin? Die haben ja noch nicht mal eine Luftwaffe! Das war ein Fehlalarm, Sie vollkommen unfähiger Laienflieger!“ Der Angebrüllte bekam diesmal tatsächlich einen Halbsatz zustande „Mein Führer, es wurden eindeutig nicht identifizierte Flugzeuggeräusche über Berlin….“ Hitler hob energisch den Zeigefinger, aber anstatt zu brüllen, fragte er leise und beinahe freundlich „Und Göring, hören Sie Bomben fallen? Feuert die Flak? Haben Ihre Jäger, die gerade für tausende von Reichsmark Flugbenzin verbrennen, irgendetwas am Himmel vorgefunden? - Nein, mein lieber Göring, das haben sie nicht. - ES WAR EIN FEHLARLARM, SIE NULL!“ Der Reichsmarschall sah auf den Fußboden und rang um Worte. Hitler gewährte ihm eine knappe Sekunde, bevor er wieder los polterte „Nach oben, die ganze Bande! In den Lagerraum, ich will sofort einen neuen Lagebericht! Und macht das verdammte Licht wieder an!“

Hitler verließ den Keller zuerst und schwadronierte dabei ohne Unterbrechung über die Unfähigkeit des ihm folgenden Häufchen Elends.

Zur selben Zeit im 2. Stock der Reichskanzlei

Bislang stand das Komenda Wódz unter einem guten Stern. Der polnischen Spezialeinheit waren bislang nur zwei SS – Wachen und eine Sekretärin begegnet. Die waren derart überrascht, dass es kein Problem darstellte, sie zu eliminieren. Jetzt trafen die Soldaten aber auf einen Längsflur mit zahlreichen Türen. Mit einem Taschenspiegel verschafften sie sich einen vorsichtigen Überblick, was sich bei der Länge des Flures als sehr schwieriges Unterfangen herausstellte, obwohl die Beleuchtung in der Reichskanzlei gerade wieder eingeschaltet worden war. Hätte sich einer der SS-Posten vor dem Büro des Führers nicht bewegt, wären die Polen ihnen glatt vor die Läufe ihrer Schmeisser Maschinenpistolen gelaufen.

03.08.1997, Portsmouth, Methodistenkirche

Die Stille war für einen Moment absolut. Samoka fühlte die unverholene Empörung aller Anwesenden, wie einen Schlag mit einer Holzlatte. In den Bankreihen drehten sich die Leute zu ihr um und Samoka wusste auf einmal, was dieser zeitgenössische Spruch „Wenn Blicke töten könnten…“ tatsächlich meinte. Der komische Kerl auf dem Podest reagierte als einziger einigermaßen freundlich, indem er ihr mit einer Geste bedeutete Platz zu nehmen. „Willkommen Schwester, bitte nehmen Sie Platz und stören Sie unser Gebet nicht.“ Samoka tat wie ihr geheißen und suchte sich einen Platz. Ein Raunen ging durch den Saal, bis der Typ vorne die Anwesenden wieder zum Gebet rief. Samoka glaubte nicht, was sie dort hörte. Im Vorbereitungstraining kam zwar allerhand Stoff über das merkwürdige Verhalten der Menschen in dieser Epoche vor, aber was sie hier sah, war wirklich eines denkenden Menschen unwürdig. Hier saßen rund 200 erwachsene Menschen und baten ein Wesen, von dem sie glaubten, dass es irgendwo im Himmel über sie herrschen würde, um Hilfe. Das Schlimmste bei der Sache war, dass sie zu diesem Unsinn auch noch Kinder mitschleppten.

Samoka blieb bis zum Ende und die Rituale in der Kirche nahmen an Seltsamkeit zu. Der Knabe in der Robe stieg auf eine kleine, umrandete Plattform und hielt eine Rede, für die er im 22. Jahrhundert auf der Stelle psychologisch betreut worden wäre. Glaubten Menschen, die Flugzeuge bauen, Computer betrieben und Satelliten in den Planetenorbit beförderten wirklich so einen Quatsch? Wenn das in dieser Zeit die Regel war, wunderte es Samoka nicht, dass der Planet Erde 1997 am Rand einer Klimakatastrophe stand. Die glaubten tatsächlich, dass sie und ihr Götze die Bosse auf dieser Welt waren und die Natur des Planeten beherrschen konnten. Mit der Einstellung mussten die einfach alles falsch machen, was man falsch machen konnte.

Samoka verließ die Kirche und ging zurück nach Hause. Wieder verwendete sie ihre Navigationsbrille, was ganz wunderbar funktionierte. Verlaufen würden sie sich damit jedenfalls nicht. Samoka bog gerade in die Torrington Road ein, als die Darstellung des Navis kurz flackerte. Das war beunruhigend, weil ein Systemcheck, den sie sofort durchführte keinen Defekt anzeigte. Die Alternative zu einem Defekt bestand darin, dass Gorl am Sender herumspielte. Oder dass eine dritte Person die Verbindung geortet hatte, was mit der Technik dieser Zeit allerdings vollkommen unmöglich war. Niemand auf der Erde konnte eine Hyperspektralverbindung orten. Also ging Samoka weiter und beschloss der Sache daheim auf den Grund zu gehen. Als sie in die Küche kam, saßen Janita und Gorl am Frühstückstisch. „Ihr glaubt nicht, was ich gerade erlebt habe, ihr Schlafmützen.“, rief sie vom Flur aus, „Wie wir hier zwei Jahre ohne bleibende Schäden überstehen sollen, ist mir wirklich schleierhaft.“

03.09.1939, 2. Stock in der Neuen Reichskanzlei, Berlin

„Die Leiche der Sekretärin“, zischte der Führer des Kommandotrupps nach hinten. Zwei Soldaten schafften die tote Frau heran. Der Unterleutnant richtete die Leiche der Frau hinter der Ecke auf und schubste sie dann kräftig auf den Längsflur. Dazu imitierte er eine Frauenstimme und stieß einen hellen Schrei aus. Das wirkte zwar keinesfalls echt, was den SS-Wachen auf der anderen Seite jedoch nicht auffiel. Sie sahen nur eine Frau, die offenbar am Ende des Flures in Ohnmacht gefallen war. Die beiden rannten los, um der Frau zu helfen. Als die Schwarzuniformierten die „Bewusstlose“ erreichten, ertönte das kurze „Plopp“ aus schallgedämpften Pistolen. Die drei Leichen verschwanden in der Abstellkammer.

Wenige Minuten später verließen zwei andere Wachen in SS-Uniform die Abstellkammer und bezogen Position vor Hitler’s Büro. Keine Sekunde zu früh, denn aus dem Treppenhaus ließ sich bereits die nicht enden wollende Flucherei des größten Feldherrn aller Zeiten vernehmen.

Dann bog die Elite des Dritten Reiches um die Ecke. Hitler vorneweg, gefolgt von Hermann Göring und Martin Bormann, die hektisch bemüht waren, den Führer zu beruhigen. Dahinter stelzte Goebbels, der mit scheinbar ausdrucksloser Miene genau sondierte, ob er irgendeine Äußerung des Führers in einen persönlichen Vorteil ummünzen konnte. Heinrich Himmler und Rudolf Hess folgten in einigem Abstand. Den Abschluss bildeten zwei weitere SS-Offiziere und zwei Sekretärinnen.

Die Gruppe steuerte auf das Führerbüro zu, woraufhin die Wachen vor der Tür Haltung annahmen. Anstatt jedoch die Tür zu öffnen, richteten die SS-Männer ihre Maschinenpistolen auf Hitler. Der nahm im Gegensatz zu Bormann die Wachen überhaupt gar nicht wahr und ging fluchend weiter, in der Erwartung, dass ihm die Tür geöffnet wurde. Stattdessen schrie der Schwarzuniformierte auf der rechten Seite der Tür „Ruhe! Hände hoch!“ und feuerte in die Decke. In der Gruppe vor ihm spielte sich eine merkwürdige Szenerie ab:

Hitler sah zu dem vermeintlichen Wachmann auf, sah ihn an und sagte schneidend, aber scheinbar völlig ruhig „Das überlebst du nicht, Drecksjude!“ Bormann und Göring taten, was ihnen gesagt worden war und nahmen die Hände hoch, während Himmler und Hess noch versuchten die neue Lage zu begreifen. Die Sekretärinnen begannen hysterisch zu schreien. Die SS-Offiziere rissen dagegen ihre Luger08 Pistolen aus den Holstern, um die Verräter zu erschießen. Besser gesagt, sie versuchten das zu tun, denn nach dem Schuss in die Decke kam der Rest der Kommandoeinheit um die Ecke und schoss sofort auf die Schwarzen, wobei auch die Sekretärinnen getötet wurden. Der polnische Unterleutnant trat mit vorgehaltener Waffe vor die Gruppe und sagte „Gestatten Sie, Unterleutnant Pawel Walesa von der polnischen Armija Krajowa. Betrachten Sie sich als Gäste meiner Regierung und leisten sie keinen Widerstand, sonst werden wir Sie sofort erschießen. Und jetzt nach links, den Flur runter, aber schnell.“ Bevor eine der Nazigrößen protestieren konnte, trieben die Polen die Gruppe den Flur herunter in Richtung der Dachluke, durch die sie in die Reichskanzlei eingedrungen waren. Dabei gingen sie nicht gerade zimperlich mit den Gefangenen um, denn jetzt hieß es schnell sein. Die Hubschrauber mussten weg sein, bevor ein Alarm ausgelöst wurde. Andernfalls würden zwei deutsche Luftflotten alles versuchen, um eine Flucht nach Polen zu unterbinden.

Auf dem Dach angekommen ging es im Laufschritt zu den Hubschraubern. Hitlers Paladine japsten nach Luft, vor allem Göring und Bormann, was auf deren Fettleibigkeit zurückzuführen war. Hitler selbst verhielt sich merkwürdig diszipliniert. Scheinbar war er sicher, dass die SS ihn hier umgehend rausholen würde. Also versuchte er einen kühlen Kopf zu bewahren, um im entscheidenden Augenblick das Richtige zu tun. Himmler, Goebbels und Hess wirkten irgendwie paralysiert. Walesa verteilte Gefangene und Soldaten auf die beiden Maschinen, sprang selbst mit an Bord und gab dem Piloten das Startzeichen. Die Motoren heulten auf, die Komar Helikopter lösten sich vom Dach der Reichskanzlei und stiegen rasend schnell senkrecht in die Höhe. Berlin fiel unter den Maschinen zurück, die 800 Meter über der Stadt nach Osten schwenkten.

03.08.1997, Portsmouth, Torrington Road
„Das Gerät ist vollkommen in Ordnung“, bemerkte Janita als sie Samoka die Navigationsbrille zurückgab. „Allerdings hat es die Störung, die du beobachtet hast registriert und gespeichert. Als Fehlercode ist ‚Fremdsignal’ angegeben!“ Die Angesprochene nahm die Brille, schien aber mit Janitas Feststellung nicht zufrieden zu sein. „Das ist doch gar nicht möglich“, erwiderte Samoka und sah zu Gorl hinüber, in der Hoffung, dass der eine weniger besorgniserregende Erklärung hätte. Der schüttelte den Kopf. „Niemand kann in dieser Epoche ein Hyperspektralsignal erzeugen. Es sei denn… “, Gorl vollendete den Satz nicht, was bei den Frauen zu einem zeitgleichen „Was?“ führte. „Es sei denn, der Erzeuger stammt gar nicht aus dieser Zeit!“

Janita stieß hörbar Luft durch die Nase aus. „Du glaubst, es ist noch jemand aus unserer Zeit hier?“ Gorl nickte, „Wenn wir das können, kriegen andere das auch hin. Zumal wir ja vorgemacht haben, wie es geht.“ Samoka stand am Fenster und sah suchend hinaus, als ob sie die Unbekannten irgendwo auf der Straße entdecken konnte. „Warum sollte jemand aus unserer Zeit hierher kommen? Vielleicht hat es Entwicklungen gegeben, von denen wir nichts wissen.“

Gorl schüttelte den Kopf: „Warum kommen sie dann nicht einfach vorbei, sondern messen uns heimlich an? Sie hätten sich stattdessen bei dir melden können. Wenn ihr mich fragt, ist jemand hier, der es nicht gut mit uns meint.“




03.09.1939, nahe Lódz, Polen
Hitler sah Göring durchdringend an. Der versuchte dem Blick auszuweichen, was in der engen Kabine des Helikopters aber vollkommen aussichtslos war. „Göring, wo ist ihre Luftwaffe und warum haben diese Untermenschen Hubschrauber, die wir nicht haben?“
Der polnische Soldat neben ihm stieß kurz und hart mit dem Lauf seiner Waffe in seine Nierengegend, was Hitler sofort verstummen ließ. „Herr Hitler, ich mache sie darauf aufmerksam, dass wir uns derartige Äußerungen auch von unseren Gästen nicht bieten lassen.“ Unterleutnant Walesa nickte dem Soldaten neben Hitler zu und drückte damit seine Zustimmung zu der Reaktion seines Untergebenen aus. Göring fing daraufhin lautstark an zu verlangen, dass man die Gefangenen sofort an eine Einheit der Wehrmacht übergeben und dass das polnische Kommando sich umgehend in deutsche Gefangenschaft begeben müsse. Hitler selbst nahm den Polen die Antwort ab, indem er Göring stechend ansah und sagte: „Sind sie übergeschnappt, Göring? Im Moment haben diese U….., Leute alle Trümpfe in der Hand. Warum sollten die an so einen Blödsinn auch nur denken? Und ihre Luftwaffe weiss vermutlich noch nicht einmal, wo wir uns befinden.“

Der Pilot des Komar sagte in diesem Moment etwas auf Polnisch, was Walesa mit einem besorgten Gesichtsausdruck quittierte. Der Kraftstoff wurde knapp und die Deutschen hatten den Flughafen von Posen bereits besetzt. Sie mussten Lódz erreichen, was bei der verbleibenden Kraftstoffmenge fraglich war. Zudem standen die Deutschen nur 10 Kilometer vor der Stadt und beschossen die Außenbezirke bereits mit schwerer Artillerie. Wenigstens tauchten einige Minuten später drei Błyskawica Jäger auf und eskortierten die Hubschrauber. Als die Maschinen in Lódz zur Landung ansetzten, befand sich in den Tanks kaum noch ein Tropfen Kraftstoff. Die Helikopter wurden umgehend betankt. Verbände der Wehrmacht bewegten sich zügig auf Lódz zu. Trotz der polnischen Jets, die ihre Gegner gleich geschwaderweise vom Himmel holten, griff die Luftwaffe die Stadt an. Brand- und Sprengbomben fielen auch nahe dem Flugfeld. Jeder Einschlag ließ die Gefangenen an Bord der Hubschrauber zusammen zucken. Bei Bormann und Goebbels war die Angst deutlich sichtbar. Aber auch Hitler atmete erleichtert auf, als sich die Maschine in die Luft erhob und sich aus dem Bombenhagel entfernte. Unterleutnant Walesa sah ihn an und schrie gegen den Lärm des Triebwerkes: „Wenn Sie schon Angst haben, was glauben die, wie es den Kindern in den Kellern von Lódz jetzt geht?“ Hitler erwiderte nichts, sondern starrte an Walesa vorbei aus dem Fenster.

Die Maschinen näherten sich Warschau. Der Himmel über der Stadt wurde von den Bränden der letzten Bombenangriffe in gespenstisches Orange getaucht. Über den Komars tobten Luftkämpfe, die an den Feuerbahnen der Leuchtspurgeschosse und brennenden Flugzeugen zu erkennen waren. Der angreifenden Luftwaffe schlug heftiges Flakfeuer vom Boden entgegen. Die Helikopter wurden im Anflug auf ein abgedunkeltes Areal mehrmals heftig geschüttelt, wenn Druckwelle einer Explosion nach den Maschinen griff. Dann trat plötzlich Ruhe ein. Das Komenda Wódz hatte seine Aufgabe erfüllt und stand mit der Führung des 3. Reiches auf dem Hof des Biuro 5. Die Gefangenen wurden in das Gebäude getrieben, bevor eine verirrte Bombe das kostbarste Faustpfand der Zweiten Republik vielleicht doch noch ausradierte. Die Gefangenen gelangten in einen verbunkerten Kellerraum mit kahlen Wänden und trüber Beleuchtung. Entlang der Wände standen Holzbänke, in der Mitte gab es einen Tisch mit vier Stühlen und einem vollen Aschenbecher, der einen muffigen Gestank verbreitete. Pawel Walesa drehte sich noch einmal kurz um und verließ kargen Raum. Draußen wartete ein Geheimdienstmann, der die Tür hinter dem Unterleutnant abschloss.

Unterleutnant Walesa klopfte an die Tür des Sitzungssaales in der zweiten Etage des Biuro 5. Er hörte von drinnen ein lautes, von einer befehlsgewohnten Stimme gerufenes „Herein“ und öffnete die Tür. Die Stimme gehörte Edward Rydz-Śmigły, der gemeinsam mit mehreren Zivilisten in der Mitte des lang gestreckten Raumes stand. Der Unterleutnant erkannte Brent Spiner, Andreij Tadicz, Marek Bronikowski und einige andere aus der Grupa Przyszłość. An der der Seite warteten Pawels Männer in straffer Haltung auf ihren Kommandanten. Walesa grüßte den Oberbefehlshaber der Streitkräfte und erstattete eine knappe Meldung, über die Erledigung des Auftrages. Der General grüßte zurück, wobei er Pawel lange mit einem rätselhaften Blick ansah. Dann ging er auf den noch immer strammstehenden Soldaten zu und umarmte ihn. Dabei flüsterte er in Pawels Ohr: „Wenn sie weiter in dieser blöden Haltung stehen bleiben, werden sie bald einen Rückenschaden haben.“ Der Oberkommandierende ließ Walesa los und schüttelte ihm lange die Hand. „Haben sie auch nur eine Ahnung davon, was die polnische Nation und ich ganz persönlich ihnen zu verdanken haben? Sie sind ein Held, Pawel Walesa!“ Der General ging zu Pawels Männern, schüttelte jedem die Hand, sagte ein paar Worte und bat danach alle in den Nebenraum, in dem ein reichhaltiges Büffet angerichtet war. „Orden gibt es später!“, rief der General, „jetzt wird gefeiert!“

Das war ein merkwürdiger Anblick, der sich den Bedienungen da bot: Ein General inmitten von Soldaten in Tarnanzügen, zwei Männern in SS-Uniformen und einigen Zivilisten, die feierten während draußen die Bomben krachten. Entweder, die waren völlig verrückt oder es musste etwas wirklich Wichtiges geschehen sein.

Von der Zunkunft eingeholt

04.09.1997, Gosport, Jervis Drive

Der stämmige Mann sah auf den Armbandcomputer an seinem Handgelenk. Er nickte seiner Begleiterin in der gegenüber liegenden Ecke der kleinen Küche zu und sagte „Sie sind hier, drüben in Portsmouth. Sie haben in der Nähe der Torrington Road ein Navigationssystem benutzt. Jetzt ist das Signal allerdings weg.“ Die Frau machte eine wegwerfende Handbewegung und erwiderte: „Irgendwann werden die ihre Spielzeuge wieder einschalten. Die ahnen schließlich nicht, dass wir hier sind und ihnen ein wenig Salz in die Suppe schütten werden.“

Der Hüne am Fenster nickte wieder. Ja, irgendwann würde Moiseyenko ein anmessbares Gerät in Betrieb nehmen. Und beim nächsten Mal konnte er den Standort wesentlich präziser bestimmen.

04.09.1939, Polen, Brzeg
Der See Jezioro Jeziorsko zieht sich zwischen Dabrowa und Warta über eine Länge von 30 Kilometern hin. Das ausgedehnte Gewässer bildet eine natürliche Barriere vor der Ortschaft Brzeg. Nahe der kleinen Stadt reckten sich fünf merkwürdige Gebilde in den Himmel. Auf der anderen Seite des Sees befanden sich die Spitzen der deutschen Armeegruppe Wöhler. Die Panzer III hatten sich seit Beginn der Kämpfe unter härtesten Bedingungen bis hierher durchgeschlagen. Die Polen verteidigten sich außerordentlich geschickt. Alle wichtigen Straßenkreuzungen und Brücken entlang der deutschen Stoßrichtung waren vermint. Überall tauchten polnische Verteidiger mit panzerbrechenden Waffen auf. Und dann diese Radpanzer, die nicht zu knacken waren. Ganz abgesehen von den verfluchten Düsenjägern. Trotzdem sammelten sich jetzt im Raum Maszew immer mehr Panzer und Infanterietruppen. Die erschöpften deutschen Soldaten ahnten nicht, dass auf der anderen Seite des Sees in genau diesem Moment Koordinaten in elektronische Zielrechner eingegeben wurden.

Der Kommandeur der polnischen Raketenwerferbatterie sah auf den Sekundenzeiger seiner Uhr und zählte leise mit. Bei 10 schossen aus 180 Rohren Raketen in Richtung Westen. Die polnischen Raketenwerfer waren exakt den SF-110 Werfern der deutschen Bundeswehr aus dem Jahr 1969 nachempfunden worden. 180 Raketen vom Kaliber 110 mm flogen auf langen Flammenzungen unter infernalischem Heulen davon. Sekunden später hörte die Panzergruppe auf der anderen Seite des Sees auf zu existieren. Der deutsche Vormarsch auf Lódz war vorerst gestoppt.



04.09.1939, Berlin, Außenministerium
Joachim von Ribbentrop schüttelte immer wieder den Kopf. Der Reichsaußenminister sah sich einer ganzen Reihe kaum lösbarer Probleme gegenüber. Nicht nur, dass England und Frankreich dem Reich gestern den Krieg erklärt hatten. Nein, viel schlimmer und völlig unvorbereitet traf ihn die Nachricht, mit der Vizeadmiral Canaris, der Leiter des militärischen Nachrichtendienstes just im Büro des Reichsaußenministers erschienen war.

Hitler entführt!

Und mit ihm die wichtigsten Köpfe des Regimes!

Von Ribbentrop zeigte normalerweise niemals ein Zeichen von Unbeherrschtheit oder Überraschung. Der Weltkriegsveteran und Träger des Eisernen Kreuzes Erster Klasse kam immer kühl und souverän daher.

Heute nicht!

Wenn eine polnische Spezialeinheit das halbe Regime aus der neuen Reichskanzlei holen konnte, dann war diese Einheit erst recht in der Lage ihn aus dem Reichsaußenministerium zu entführen. Von Ribbentrop sah nervös zur Decke, als könne er dort schon seine Häscher auf dem Dach hören.

Auch Vizeadmiral Canaris wirkte alles andere als zuversichtlich. Seit Ausbruch der Kämpfe vor vier Tagen reihte sich eine unangenehme Überraschung an die andere. Der unerwartet heftige und brillant organisierte Widerstand in Polen kam vollkommen unerwartet, ebenso die weit überlegene Bewaffnung von Teilen der polnischen Armee. Der Geheimdienstchef und der Außenminister zählten zu den hellsten Köpfen innerhalb des deutschen Führungskreises. Beiden war auch ohne viele Worte klar, dass das Naziregime in Kürze scheitern würde. Ohne Hitler und Goebbels und bei den schlechten Nachrichten von der Front, zeichnete sich schon jetzt ab, dass in Deutschland ein Umbruch stattfinden musste, bevor England und Frankreich ernsthaft in den Krieg eingriffen und sich die Katastrophe des Weltkrieges wiederholen konnte.

Von Ribbentrop wollte etwas sagen, aber Canaris legte den Zeigefinger auf die Lippen und wies zur Deckenlampe. Klar, das Büro des Ministers wurde abgehört und wer konnte das besser wissen, als der Leiter des Geheimdienstes. „Kommen, Sie mein lieber von Ribbentrop, fahren wir zu Speer und sehen uns seine neuesten Entwürfe für Germania an!“, lud Canaris den Außenminister ein wenig zu laut ein. Aber schließlich sollte der SD - Mann am anderen Ende der Leitung die Botschaft ja auch deutlich verstehen.

Auf der Fahrt bestand die Möglichkeit ungestört über die neue Lage und die nahe Zukunft zu sprechen. Das Nazisystem musste weg und es gab, obwohl Hitler gerade auf dem Höhepunkt seiner Macht stand, durchaus kritische Stimmen. Sie fuhren tatsächlich zu Albert Speer. Der Architekt des Reiches galt als Günstling Hitler’s. Gleichzeitig wurde Speer von ständigen Zweifeln am Regime geplagt. Ihn würde man für einen Putsch gewinnen können, wenn man ihm die Lage erläuterte. Joachim von Ribbentrop konnte sehr überzeugend sein. Seine Position als Ehrenführer der SS verhalf ihm zu viel Einfluss innerhalb der Elite des 3. Reiches. Zudem war von Ribbentrop ein ausgeprägter Machtmensch und hatte bereits seine ganz eigene Architektur der weiteren politischen Ereignisse entworfen. Aber dafür musste er die Wehrmacht, die SS und zumindest einen der Geheimdienste hinter sich wissen.

05.09.1997, Portsmouth, Torrington Road

Pünktlich nach zwei Stunden wiederholte sich das Peilsignal ihrer unbekannten Verfolger. Samoka tippte auf die Anzeige: „Wir sollten versuchen, die Typen an einen Platz zu locken, wo wir sie sehen können. Ich würde zu gern wissen, wer die sind.“

„Du meinst, wir sollten denen einen Köder vorsetzen und sie fallen darauf rein?“ Gorl sah sie zweifelnd an und schüttelte den Kopf. „Das glaubst du nicht wirklich, oder?“ Janita schien ebenfalls nicht recht überzeugt zu sein.

Samoka Lee gehörte aber nicht unbedingt zu den Menschen, die es gut fanden, wenn jemand ihre Vorschläge nicht gut fand. Also begann sie damit, allen Anwesenden ihren Plan verständlich zu machen.

Gorl befand sich zwei Stunden später auf dem Weg zur Chronos. Er brauchte knappe 4 Stunden, um das Schiff auf dem Grund des Ärmelkanals zu erreichen. Dort angekommen tat er mehrere Dinge. Zum einen packte er ein paar Ausrüstungsgegenstände ein. Als nächstes startete er eine Multisonde in einen niedrigen Erdorbit. Alle Instrumente an Bord des kleinen Satelliten blieben im Gegensatz zu üblichen Sondenstarts aber abgeschaltet. Die Fremden aus der Zukunft durften den Start nicht mitbekommen, sonst wäre Samokas Plan von vornherein gescheitert. Als drittes steckte er eine Waffe ein. Zuletzt deaktivierte Gorl sämtliche Geräte an Bord der Chronos. Das Schiff, vom dem bis jetzt eine Ultrahochfrequenzverbindung zu dem Haus in der Torrington Road bestand, fiel in eine Art elektronischen Winterschlaf. Dann kehrte er nach Portsmouth zurück.

05.09.1939, Warschau, Bunker unter dem Königsschloss

„Nun, Herr Hitler, ich darf zwar annehmen, dass sie sich ihre Ankunft in Warschau ein wenig……prunkvoller vorgestellt haben, aber treten sie doch bitte näher.“ Ignacy Mościcki machte eine einladende Handbewegung und versuchte, weder überheblich, noch überlegen zu wirken. Adolf Hitler trat von zwei Bewachern eskortiert in Mościcki’s Büro. Er wirkte fahrig und nervös. Trotzdem herrschte er den polnischen Staatspräsidenten an, als ob er seine Lakaien in Berlin zusammen faltete. „Was fällt ihnen ein, sie slawischer Hund? Wer gibt ihnen das Recht, die Führung des Deutschen Reiches zu verschleppen? Ich verlange, dass wir sofort zurück nach Berlin gebracht werden! Wir sprechen uns wieder, wenn wir über die Kapitulation Polens verhandeln!“

Mościcki lächelte, diesmal deutlich überheblich. „Das Recht, Herr Hitler gibt uns ihre Wehrmacht, die 50 Kilometer tief in unserem Land steht. Einfallen tut uns so was, weil wir es ,im Gegensatz zu ihnen, können und die Bedingungen unseres Gespräches legen wir fest, so wie ich das sehe. Ich habe ihnen einen Vorschlag zu machen.“ Hitler machte eine ungeduldige Geste mit der Hand, als erteile er seinem Gegenspieler widerwillig das Wort.

„Ich habe hier ein Zusatzprotokoll zu ihrem Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion“, begann der schmale Pole und reichte Hitler einen Stapel Papier, „das sollten sie kennen, es trägt immerhin die Unterschrift ihres Außenministers, der sich bedauerlicherweise in Deutschland aufhält und - noch - nicht zu unseren Gästen zählt.“

Hitler schien eine Spur blasser geworden zu sein. Was Mościcki ihm gerade gegeben hatte, zählte zu den geheimsten Dokumenten des Reichsaußenministeriums. Es handelte sich tatsächlich um das streng geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin Pakt, in dem der Einmarsch der Sowjetunion in die baltischen Länder Litauen, Estland und Lettland sowie die Teilung Polens zwischen der UdSSR und dem Dritten Reich vereinbart worden war. Wie konnte das ausgerechnet in die Hände der Polen gelangt sein? Er kam nicht zum Nachdenken, denn der polnische Präsident sprach leise, aber sehr deutlich weiter.

„Wir haben dieses Abkommen heute an die Regierungen der Baltischen Republiken sowie an die Botschaften Englands und Frankreichs weiter gegeben. An die sowjetische Führung in Moskau ist eine Note ergangen, in der wir vor jeder Verletzung polnischen Territoriums durch die Rote Armee ausdrücklich warnen.“

„Das hier“, Mościcki reichte einen weiteren Stapel Papier an Hitler, bevor dieser das Gehörte richtig verarbeiten konnte, „das hier sind Befehle, welche wir an die Regierung Dänemarks übergeben haben. Sie befehlen darin den Einmarsch am 9. April nächsten Jahres. Wir wissen auch von Ihren Angriffsplänen gegen Norwegen, die Niederlande, Belgien und Frankreich, aber dazu gibt es leider noch keine unterschriebenen Befehle.“

Mościcki schwieg und wartete die Wirkung seiner Worte ab. Adolf Hitler blätterte mit zusammen gekniffenen Lippen die Papiere durch. Er schwitzte und begann unmerklich zu zittern. Langsam begann er die ungeheure Katastrophe hinter Mościcki’s Ausführungen zu erahnen. Seine Gegner kannten seine Absichten und Pläne. Irgendwo gab es einen Verräter im engsten Kreis, einen Maulwurf oder besser eine Ratte.

Hitler explodierte! Er warf die Unterlagen wütend zu Boden und brüllte „Verrat! Hinterhältiger, hundsgemeiner Verrat!“ Er starrte Mościcki aus roten Augen an, seine Nasenflügel bebten. „Wer? Wer ist es? Himmler, dieser gelackte Crétin? Göring? Oder Bormann, dieser heuchlerische Dilettant? Ich werde den Verräter auf der Stelle erschießen lassen! Wer?“ Der Deutsche stürmte auf den polnischen Präsidenten zu, was ihm nicht gut bekam. Einer der Wachsoldaten sprang Hitler in den Weg und rammte ihm die Maschinenpistole in den Bauch.

„Sie sind nicht in der Position, irgendwelche Anweisungen zu erteilen, Herr Hitler.“ Diesmal war die Kälte in Mościcki’s Stimme nicht zu überhören. „Sie zerstören mein Land, sie töten mein Volk, sie überziehen ganz Europa mit Krieg und Leid und sie glauben noch immer ein respektabler Staatsmann und Verhandlungspartner zu sein? Das sind sie nicht, sie sind nur ein gewöhnlicher Verbrecher.“ Der Präsident schnaubte verächtlich. „Und genau so werden wir sie ab jetzt auch behandeln.“

Hitler stand noch immer, von Schmerzen gekrümmt, inmitten des Büros und sah sein Gegenüber mit kalten, ausdruckslosen Augen an. „Es mag wohl sein, dass sie für den Augenblick alle Trümpfe in der Hand haben. Aber in wenigen Tagen wird die Wehrmacht in Warschau eintreffen und ihr lächerliches Regime hier ein für allemal beenden.“

Mościcki lächelte „Sehen sie, Herr Hitler, all ihre Pläne sind schon jetzt gescheitert. Die Welt kennt ihre nächsten Absichten und ihre Maske haben sie ja ohnehin längst fallen lassen. Zudem sind sie Gefangener eines Landes, das von ihren Truppen überfallen wurde. Ich denke, mein eingangs erwähnter Vorschlag heißt von jetzt an ‚Bedingung’ und ist nicht verhandelbar.“

Hitler antwortete nicht. Er sah Mościcki auch nicht mehr an, sondern blickte starr auf den Boden. Er zitterte am ganzen Körper, die Schultern hingen herunter und seine Hände schienen ein nervöses Eigenleben zu entwickeln. Der größte Feldherr aller Zeiten verwandelte sich in ein Häufchen Elend. „Reden sie“, forderte er tonlos und kaum hörbar.

Mościcki nickte einem der Wachleute zu, woraufhin dieser durch eine Tür in ein Nebenzimmer ging. Der andere Soldat trat hinter den Führer und der Präsident ging ebenfalls in Richtung Tür. „Folgen sie mir - bitte!“, forderte er seinen Gefangenen auf. Hitler tappte unsicher und lahm durch die Tür. Der Raum, den er betrat war deutlich größer. Es handelte sich um ein langes Gewölbe, in dessen Mitte ein langer Tisch stand. An der Stirnseite befand sich eine Leinwand und unter der Decke war ein Filmprojektor montiert. Neben der Leinwand hing eine Wandkarte, die den aktuellen Frontverlauf widerspiegelte. Ein Lagezentrum offenbar. Was Hitlers Aufmerksamkeit jedoch weit mehr fesselte, waren die anwesenden Personen. Auf den ersten Blick erkannte er den Staatsminister Thorvald Stauning aus Dänemark, den französischen Ministerratspräsidenten Édouard Daladier, den englischen Premierminister Albert Neville Chamberlain, Ministerpräsident Dirk Jan de Geer aus den Niederlanden und den polnischen Ministerpräsidenten Felicjan Sławoj Składkowski sowie dessen Außenminister Jósef Beck. Dazu kamen der polnische General Rydz-Śmigły und ein paar Leute, die Hitler nicht kannte. Einer der Unbekannten musterte den Deutschen mit einer merkwürdigen Mischung aus Schaudern und Faszination. ‚Wie ein Museumsstück’, schoss es durch Hitlers Kopf. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er sich im Kreise der führenden Köpfe seiner Kriegsgegner aufhielt und das der Auftritt, den Mościcki ihm hier beschert hatte ihn unwürdig und lächerlich erscheinen ließ.

Gorl's Flucht

07.09.1997, Portsmouth, Torrington Road

Was Janita gerade tat, sah absolut nicht nach etwas aus, dass ihr in die Wiege gelegt worden war. Die tromburianische Zeitreisende hantierte mit einem Bleistift und einem Lineal herum und versuchte gerade Linien in eine Landkarte der Grafschaft Hampshire einzuzeichnen. Da ihr der Umgang mit antiken Schreib- und Zeichenwerkzeugen noch immer erhebliche Probleme bereitete, sah das ganze aus, als ob ein Säugling mit dem Löffel in die Suppenschüssel schlägt. Dabei sollte sie auch noch schnell zeichnen und zwar immer dann, wenn Samoka ihr Zahlen zurief, die mit Planquadraten auf der riesigen Landkarte identisch waren.

Gorl stand am Fenster und schwenkte eine grünlich schimmernde Scheibe von der Größe eines Dollarscheines langsam hin und her. Seit gestern waren die Unbekannten aus der Zukunft weit weniger vorsichtig als bisher. Da Gorl alle anmessbaren Gerätschaften ausgeschaltet hatte, gingen weder von der Torrington Road, noch von der Chronos irgendwelche Signale aus. Das hatte die Unbekannte veranlasst ihre Suche zu intensivieren und ihre Peiler auf Dauerbetrieb einzustellen. Sie taten exakt das, was Samoka vor drei Tagen vermutet hatte. Für Gorl war es ein leichtes, dieses Signal mit einer passiven Antenne aufzufangen.
Besser gesagt zwei Signale, von denen sich eins durch Gosport auf der gegenüberliegenden Seite des Solent bewegte, während das andere auf der Isle of Wight unterwegs war. Es gab also mindestens zwei Unbekannte. Seit ungefähr einer Stunde bewegten sich beide Signale nach Norden. Das erste blieb nach kurzer Zeit im Nordosten Gosports stehen. Das machte Janitas Job, die heftig Linien zeichnete, ein wenig entspannter. Das andere Signal bewegte sich zügig auf das erste zu. Wahrscheinlich fuhr die oder der Unbekannte ein Fahrzeug. Dann blieb es genau auf der Position des ersten Signals stehen. Wenige Minuten später verschwanden beide Signale.

07.09.1997, Gosport, Jervis Drive

„Moiseyenko und die beiden Schlampen sind nicht mehr hier. Weder in Gosport, noch auf Wight und auch nicht in Portsmouth. Die befinden sich irgendwo außerhalb der Ortungsreichweite.“ Der bullige Mann trat wütend gegen einen Stuhl, der ihm am nächsten stand. Die Frau stand vor einem Bild, das bereits bei ihrem Einzug in diese Wohnung in der Küche hing und musterte die Landschaft darauf. „Sie sind hier!“, antwortete sie scharf, „weil sie nämlich keinen Grund hätten, weg zu sein. Sie benutzen nur keine Geräte aus unserer Zeit. Vielleicht haben sie registriert, dass wir nach ihnen suchen.“

Der Riese schien anderer Auffassung zu sein. „Ich habe eine militärische Quanttooth-Frequenz verwendet, die kann keiner orten.“, behauptete er brummig. Die Frau zuckte wenig beeindruckt mit den Schultern und entgegnete: „In unserer Zeit ist die vielleicht geschützt, aber hier? Und vergiss nicht, dass wir es mit drei absolut brillanten Köpfen zu tun haben. Ich wette, die haben was gemerkt.“

Der Hüne setzte etwas auf, das wahrscheinlich ein Lächeln darstellen sollte. Bei ihm wirkte das eher, wie ein Dobermann, kurz bevor er zubeißt. „Brillant vielleicht, aber nicht brutal. Irgendwann machen die einen Fehler. Wenn sie uns tatsächlich entdeckt haben, dann ändern sie irgendwann ihr Verhalten. Das ist unsere einzige, hauchdünne Chance.“

07.09.1997, Creech Wood, Denmead

Die Fau am Steuer des Bentleys stammte ganz sicher nicht von hier. Genauso wenig wie der Bentley selbst. Der Wagen stand seid knapp 20 Minuten am Bunkers Hill, kurz vor dem Creech Wood. Unmittelbar nach der Ankunft hatte der Beifahrer das Auto verlassen, um auf der schmalen Strasse ein Stückchen in den Wald zu gehen. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück. Wahrscheinlich hatte er nur einen Platz gesucht, an dem er ein dringendes Bedürfnis erledigen konnte.

Hatte Gorl aber nicht. Er marschierte in den Wald und suchte dort nach einem Baum, an dem sich der winzige Sender, den Janita und er bei sich hatten, unsichtbar anbringen konnte. Er wurde schnell fündig. Das Gerät mit dem Abmaßen einer Streichholzschachtel war schnell in einem Astloch verschwunden. Gorl ging zum Auto zurück, nickte Janita kurz zu und stieg ein. Die betätigte den Anlasser und setzte den Bentley auf der schmalen Straße bis zur nächsten Einfahrt, um zu wenden.

Zurück in Portsmouth aktivierte Gorl den Sender im Creech Wood. Der schickte ein aufwärts gerichtetes und extrem gerafftes Signal ins All, wo es von der deaktivierten Multisonde, die Gorl von der Chronos aus gestartet hatte aufgefangen wurde. Die Sonde verlangsamte die empfangene Botschaft und entnahm ihr die Koordinaten des Jervis Drive in Gosport. Eine Klappe öffnete sich und eine hochauflösende Infrarot – Kamera wurde freigelegt. Eine weitere Klappe gab eine optische Kamera frei, die ebenfalls die Straße in Gosport ins Visier nahm. Für die nächsten fünf Stunden beobachtete die Sonde ihr Zielgebiet. Dann gingen die Daten komprimiert an den Sender im Creech Wood. Dort wurde das Paket gespeichert. Weiter geschah nichts.

Eine Stunde später stand der Bentley wieder vor der Einfahrt zum Wald. Gorl ging zu dem Baum, nahm den Sender heraus und stieg wieder in den Wagen und die Fahrt ging zurück nach Portsmouth. Dort übertrug Samoka die Aufnahmen auf eine antike Magnetbandkassette. Dabei lag das von Gorl geborgene Gerät unter einer Abdeckung, die Quantenfrequenzen größtenteils abschirmte. Samoka schob die fertige Kassette in den Videorekorder, der diese kreischend und ächzend aufnahm. Den Zeitreisenden aus dem 22. Jahrhundert kam der Lärm, den technische Geräte in dieser Epoche entwickelten, wie ein akustisches Inferno vor. Aber das Ding tat seinen Dienst und zeigte eine kleine Sackgasse in Gosport. Immer, wenn sich etwas bewegte, zoomte die Kamera das Objekt heran. Es war, als ob man aus dem fünften Stock aus dem Fenster sah. Zwei Stunden lang geschah nichts Aufregendes. Ein paar Autos, Kinder, die Fußball spielten, ein paar Leute, die offenbar von ihrer Arbeit nach Hause kamen. Keiner von denen machte den Eindruck, als würde er aus dem Jahr 2175 stammen. Dann kam jemand aus einem Haus, ein stämmiger, großer Mann, der durch und durch wie ein Soldat wirkte. Samoka streckte den Arm aus, murmelte „Ach du Scheiße!“ und dachte an ihre letzte Begegnung mit diesem Menschen……..

…………‚Und Commander, was ich noch sagen wollte: Schicke Jäger!’

Bei dem Mann auf dem Bild handelte es sich um Nicolas-Ber-McEwan, den ehemaligen Geschwaderführer der Talniri Polizei!

Keine halbe Minute später verließ eine Frau das Haus, die alle auf Anhieb erkannten: Anta-kal-Tep, die gescheiterte Ministerin für Katastophenschutz des Sternenbundes.

In dieser Kombination konnte dieses erlesene Paar nur eines bedeuten: Ziemlich viel Ärger!

„Ich wette, die sind nicht in offiziellem Auftrag hier.“, vermutete Janita. „Sonst hätten die sich wohl kaum wie ein Geheimkommando hier eingeschlichen.“ Gorl begann nervös auf und ab zu laufen. „Was haben die vor? Die können doch nur auf Rache aus sein.“ Samoka starrte immer noch auf das Videobild. „Der da bestimmt! Dem habe ich damals auf Camp Tschao verbal praktisch den Schwanz abgedreht.“ Gorl sah seine Gefährtinnen an. Er wirkte plötzlich besorgt, tief besorgt. „Von jetzt an müssen wir mehr als vorsichtig sein. Tep und McEwan müssen einen unglaublichen Aufwand betrieben haben, um hierher zu kommen. Sie haben fünf Jahre lang an ihrer Vergeltung gearbeitet, sie haben die längste aller Reisen auf sich genommen, sie versuchen uns aufzuspüren, ohne dass wir etwas davon merken. Ich sage euch, die schrecken vor nichts zurück.“

05.09.1939, Warschau, Bunker unter dem Königsschloss

Mit Hitler ging eine merkwürdige Wandlung vor. Eben noch resigniert und kraftlos, sah er sich plötzlich wieder auf der Bühne des Weltgeschehens. Er dachte an die Münchener Konferenz vor einem Jahr zurück, als er diesen Haufen Weichlinge schon einmal an der Nase herum geführt hatte. Und so schlecht war seine Lage nicht. Der Diktator des Deutschen Reiches glaubte noch immer fest daran, dass seine Wehrmacht in wenigen Tagen in Warschau einmarschieren würde. Dafür sprach auch der Lärm der Bomben, die gerade von der Luftwaffe auf Warschau abgeworfen wurden. Adolf Hitler hatte keine Ahnung von dem verzweifelten Kampf, den die Bomberpiloten über der polnischen Hauptstadt gerade erlebten.

05.09.1939, Warschau, Gdanska Bahnhof

Auf dem Dach des Gdanska – Bahnhofs drehte sich eine Radarantenne der Flugabwehr. Im Batteriegefechtsstand liefen die Ortungen ein und wurden an die Flak-Geschütze vor der Stadt weiter geleitet. Und an die Padlina – Lenkraketen. Den deutschen Junkers- und Heinkel- Bombern stiegen vom Boden plötzlich zahlreiche weiße Rauchfahnen entgegen. Die schwarzen Punkte vor den Rauchfahnen hefteten sich an die deutschen Bomber und Sekunden später brach am Himmel über Warschau die Hölle los. Die Padlina-Rakete war ein exakter Nachbau der britischen Bloodhound Mk.1 Lenkwaffe, die eigentlich erst 1958 existieren sollte. Die Wirkung auf die Propellermaschinen, die Warschau angriffen war katastrophal. Die deutsche Luftwaffe griff Warschau mit 346 Maschinen der Typen He-111, Me-110 und Ju-87 an. Die Raketen der polnischen Luftabwehr holten über 150 gegnerische Maschinen in der ersten Welle vom Himmel. Der zweite Abwehrgürtel bestand aus radargelenkten 75 mm – Flakgeschützen, die in kürzester Zeit noch einmal mehr als 100 Bomber abschossen. Die Explosionen, die im Bunker unter dem Königsschloss zu hören waren, stammten von Notabwürfen, oft die letzte Chance, um ein beschädigtes Flugzeug in der Luft zu halten. Für die Besatzungen hatte sich der Himmel über der polnischen Hauptstadt in den Vorhof der Hölle verwandelt. Das Flakfeuer war nicht einmal besonders heftig, aber unglaublich präzise.

Die verbleibenden deutschen Bomber versuchten nur noch zu entkommen und gerieten wieder in das Feuer der Skysweeper – Geschütze. Zu allem Überfluss tauchten auch noch polnische Jäger auf. Über Warschau hingen zahlreiche Fallschirme in der Luft. Fast 700 deutsche Flieger gingen an diesem Tag in Gefangenschaft, mehr als 400 kamen um. Von den 346 Angreifern schafften es 38 zurück nach Deutschland. Unbeschädigt landete kein Flugzeug.

05.09.1939, Warschau, Bunker unter dem Königsschloss

Die durch die dumpfen Explosionen bei Hitler aufsteigende Zuversicht gab ihm sein Selbstvertrauen zum Teil zurück. Er blieb stehen und musterte die Anwesenden kurz. Chamberlain und Daladier war deutlich anzusehen, dass sie nervös waren, nein, Angst hatten. Ganz anders einer der Unbekannten, der ihn schon die ganze Zeit mit der Faszination eines Wissenschaftlers ansah, der den Schatz der Pharaonen entdeckt hatte. Auch dessen Sitznachbar sah ihn fortwährend an. Diesen Mann kannte Hitler ebenfalls nicht, dennoch ordnete er ihn irgendwie dem Geheimdienst zu. Der Mann stand auf und wandte sich direkt an Hitler. Sein Deutsch war ausgesprochen gut, als er sich als Marek Bronikowski vorstellte, dem prominentesten Gefangenen in Polen einen Platz anbot und mit einem undurchsichtigen Lächeln hinzufügte: „Ihre Bomber sind da, hören Sie? Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass davon die wenigsten nach Deutschland zurückkehren werden.“ Hitler sah den Polen kalt an und wollte zu einer Antwort ansetzen. Bronikowski drehte sich jedoch einfach weg und zog eines der Feldtelefone auf dem Tisch zu sich heran. Er kurbelte, wartete, bis sich am anderen Ende jemand meldete und sprach kurz auf Polnisch. Dann hörte er zu, nickte ein paar Mal und gab offenbar einige Anweisungen. Bronikowski legte auf und nickte Hitler zu. Der antwortete ihm jedoch nicht, sondern stand auf und sprach in die Runde. „Obwohl ich gegen meinen Willen hierher verschleppt wurde, darf ich sicher eine kurze Begrüßung an sie richten.“ Der deutsche Diktator wirkte beinahe freundlich, ganz so als hätte er zu diesem Treffen eingeladen. „Ich möchte ihnen den guten Rat geben, diesen Ort schnellstmöglich im Interesse ihrer eigenen Sicherheit zu verlassen. Sie sehen, dass ich, obwohl einige von ihnen mir einen Krieg aufgezwungen haben und jetzt meine Gegner sind, ihnen Gelegenheit geben möchte, sicher wieder in ihre Heimatländer zu gelangen. Hierzu biete ich ihnen auch die Passage über deutsches Reichsgebiet an. Anders, als die polnischen Verbrecher bin ich Staatsmann!“ Hitler holte bedeutungsvoll Luft und sah Édouard Daladier, den er als charakterlich Schwächsten hier ausgemacht hatte, scharf an. Der französische Premier schien in seinem Stuhl kleiner zu werden. Kurz bevor er Hitlers stechendem Blick nicht mehr standzuhalten vermochte, wandte der sich von dem Franzosen ab und sah wieder in die Runde. „In zwei oder drei Tagen wird die deutsche Wehrmacht in Warschau sein und dann sollten sich besser nur noch meine Verbündeten hier aufhalten!“

Weiter kam er nicht, denn Marek Bronikowski unterbrach ihn ziemlich rüde. „Das sind leider Ammenmärchen, an die sie vielleicht noch glauben mögen.“ Der polnische Geheimagent beugte sich zu Hitler herüber, bis sein Gesicht nur wenige Zentimeter von dessen Gesicht entfernt. Dann flüsterte er „Wenn ich ihnen einen guten Rat geben darf: Hoffen sie nicht zu sehr auf ihre Wehrmacht. Die existiert nämlich in Teilen nicht mehr und der Rest dürfte ziemliche Probleme haben, aus Polen lebend wieder raus zu kommen.“

Hitler starrte ihn schweigend an.

„Noch ein guter Rat:“, fügte Bronikowski diesmal deutlich lauter hinzu, „Gehen sie davon aus, dass wir alle ihre Pläne, Einsatzverbände, Truppenstärken und selbst den Produktionsleiter ihres Herstellers für Armeeunterwäsche mit Sicherheit kennen. Es wird hier kein zweites München geben. Am besten sie hören gut zu und nicken brav. Eine andere Option haben sie nicht!“

Hitler drehte den Kopf weg und starrte einen fiktiven Punkt an der Wand an. Es klopfte an der Tür. Ein Posten öffnete und ein Soldat in voller Tarnkleidung, Ruß im Gesicht und ein Sturmgewehr lässig über die Schulter gehängt kam herein. Er salutierte in Richtung der polnischen Politiker und erstattete Meldung. Edward Rydz-Śmigły, grüßte zurück, nickte und sprach ein paar Sätze mit dem Mann, der daraufhin nach draußen ging und mit drei deutschen Fliegern wieder zurückkam. Als die drei ihren Führer erblickten, rissen sie die Arme zum Hitlergruß nach oben und salutierten. Bei allen handelte es sich um höhere Offiziersdienstgrade, zwei Majore und ein Hauptmann. Einer schien eine notdürftig versorgte Schußwunde zu haben, der Hauptmann trug einen Arm in der Schlinge. Allen dreien stand das Entsetzen der Luftschlacht über Warschau ins Gesicht geschrieben. Bronikowski bat den unverletzten Major, über die Ereignisse zu berichten. Der Angesprochene nannte Name, Einheit und seinen Dienstgrad, wie es ihm für den Fall der Kriegsgefangenschaft befohlen worden war. Der Geheimagent sah Hitler an. Der nickte seinem Piloten zu und wedelte mit der Hand. „Sprechen sie, Herr Major. Die wollen, dass ich Wahrheiten zu hören bekomme. Also erzählen Sie mir welche.“

Der Major begann zu reden. Er berichtete von Raketen, und Jets und davon, dass er sein gesamtes Geschwader verloren hatte. Marek Bronikowski bedankte sich und gab die Abschusszahlen, die Anzahl der Gefangenen und der Toten an. Anschließend las er die aktuellen Meldungen von der Front vor. Die Wehrmacht kam dabei gar nicht gut weg. Adolf Hitler nickte einige Male bevor er müde, an niemanden gerichtet sagte: „Dann fangen sie mal mit ihrem Zirkus an, wenn sie schon alles wissen und sowieso schon siegen.“







08.09.1997, Gosport, Jervis Drive

Der Jervis Drive endet vor einem stillgelegten Austattungswerk einer Werft. Die Werkhallen schienen zwar noch einigermaßen intakt, aber so ziemlich alle Scheiben waren kaputt. Die mit rostigen Vorhängeschlössern gesicherten Tore hatten auch schon bessere Zeiten gesehen. Samoka stieg in der vordersten Halle eine Treppe hinauf. Aus dem oberen Geschoss konnte man die Strasse auf der gesamten Länge einsehen. Sie baute ein Richtmikrofon auf, das Gorl in einem Elektronikshop gekauft hatte. Das Ding war zwar primitiv, fiel aber nicht durch verdächtige Quantensignale auf. Sie richtete die Spitze auf ein Wohnraumfenster des Hauses, aus dem McEwan und Anta-kal-Tep gekommen waren. Sie schloss ein Aufnahmegerät an, einen Kassettenrekorder, der auf Magnetband aufzeichnete. Janita kam zu ihr mit einer Kanne Tee und zwei Bechern. Samoka reichte ihr einen Kopfhörer. „Kannst du die verstehen? Die sprechen Talniri und dieses antike Zeug hier liefert mehr Störgeräusche, als Tonsignale.“ Janita nahm den Kopfhörer und lauschte kurz. Tatsächlich überwog ein statisches Rauschen und viele Fremdgeräusche störten, aber die Stimmen der Belauschten waren deutlich hörbar. Janita drückte die Aufnahmefunktion des Kassettenrekorders, was das Gerät mit einem erbärmlichen Quietschen beantwortete. Irgendwie funktionierte es sonderbarer Weise doch, genau wie das Auto und der ganze andere Gerätekram, mit dem die Menschen dieser Epoche ihr Dasein fristen mussten. Gorl kam die Treppe herauf, wobei er soviel Lärm verursachte, dass Janita den Kopfhörer herunternahm. „Ich versuche hier, irgendwas von denen da drüben aufzuschnappen. Wenn du hier hochtrampelst, wie ein ramanischer Stampfkäfer, höre ich gar nichts!“ Janita sah kurz zu dem Haus im Jervis Drive hinüber, um sich wieder auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. „Siehst du, jetzt habe ich es verpasst! Sie verlassen das Haus!“

McEwan steuerte auf den Supermarkt an der Ecke Mill Lane / Forton Road zu. Anta folgte ihm, mit einer Einkaufstasche in der Hand. Es gab in dieser Zeit durchaus Dinge, die sehr angenehm waren. Anta fand die meisten Süssigkeiten ganz lecker, während McEwan Scotch als gutes Mittel zur Entspannung entdeckt hatte. Nach dem Einkauf beschlossen sie über die Mill Pound Road zurückzugehen, weil sie sich die alte Fabrik am Ende des Jervis Drive schon die ganze Zeit näher ansehen wollten. Mc Ewan war der Auffassung, dass sich dort das Equipment zur Ortung von Moiseyenko weit besser unterbringen ließ, als in der Wohnung. Das relativ weitläufige Gelände eignete sich hervorragend, um dort Messgeräte zu verstecken. Der Spaziergang zur Mill Pound Road dauerte knappe 20 Minuten. Anta zeigte auf einen Bentley, der in dieser tristen Straße irgendwie fehlplaziert wirkte. „Wow, das ist nach den Maßstäben dieser Zeit echter Luxus.“, sagte sie und blieb einen Augenblick vor dem Wagen stehen. Sie sah kurz hinein, musterte die teure Innenausstattung und drehte sich wieder zu McEwan um. Plötzlich zögerte sie. Irgendetwas in dem Auto war merkwürdig. Sie schaute noch einmal hinein und fand, wonach sie suchte.

Auf dem Beifahrersitz lag eine Packung mit Nahrungsmittelkonzentrat, die eindeutig auf dem Planeten Queenox im Raman – System hergestellt worden war! Sie winkte ihren Begleiter heran und zeigte auf das Päckchen.

Moiseyenko war hier!

Wahrscheinlich beobachtete er ihr Haus von der Fabrik aus. Das war dumm, weil es Anta und Nicolas gestattete, das Treiben der Zeitreisenden endgültig zu beenden. McEwan sah zu den Hallen auf der anderen Straßenseite hinüber. Er zeigte auf ein Loch in der Umzäunung und wies Anta an, sich auf der anderen Straßenseite im Sichtschutz des Zaunes zu dem Durchlass zu bewegen. Dann lief er selbst los. Sie schlüpften durch den Zaun auf das Fabrikgelände und gingen im Schatten eines rostigen Gastanks in Deckung. „Wir müssen uns auf die Halle konzentrieren, von der aus man unser Haus sehen kann.“, flüsterte McEwan, „Da stecken die Ratten und beobachten uns.“ Er spähte vorsichtig über den Rand des Tanks hinweg, sah zu Anta hinunter und zeigte auf eine Halle rechts von ihrem Versteck. McEwan lief los und erreichte die Halle. Anta sah, wie er in das verfallene Bauwerk spähte. Sie wartete, bis er ihr das Zeichen gab, ihm zu folgen. Anta und McEwan zogen ihre Hochenergiestrahler.

Gorl ließ sich neben Samoka nieder. Er schien nervös zu sein, was damit zusammen hing, dass er Nicolas McEwan als sehr gefährlich einschätzte. Diesem Mann jetzt so nahe zu sein, machte ihm Angst. Den Frauen erging es nicht besser, was daran zu sehen war, dass Samoka dass Kabel des Kopfhörers immer wieder hastig um ihren Zeigfinger wickelte. Janita sah sich in immer kürzeren Abständen um, was Gorl dazu veranlasste, immer wieder nach dem Strahler in seiner Jacketasche zu tasten. Der Eindruck, dass irgendetwas nicht stimmte, verdichtete sich immer mehr. Etwas war falsch. Samoka hatte plötzlich das Gefühl, nicht mehr die Beobachterin, sondern die Beobachtete zu sein - und die Bedrohte. Alle drei verhielten sich auf einmal sehr still. Gorl konnte sich nicht entscheiden, ob er den Axionen-Strahler aus der Tasche holen sollte oder nicht. Tat er es, würde das kaum beruhigend wirken, tat er es nicht, würden die anderen schneller sein. Gorl sah zur Ablenkung auf seine Uhr, die 14:11h anzeigte. Plötzlich durchbrach ein Geräusch, das von unten aus der Halle zu kommen schien die Stille. Es klang, als wäre jemand gegen in einen Haufen Bauschutt getreten. Alle horchten angestrengt in die Richtung, aus der das Geräusch zu ihnen hinauf schallte, aber es war wieder vollkommen still. Gorl überlegte, ob dort unten tatsächlich Menschen waren, oder ob eventuell eine Katze einen Fehlsprung gemacht hatte.

Er kam nicht mehr dazu, diesen Gedanken zu Ende zu bringen. Der grelle Blitz eines HE-Strahlers fuhr über ihm in die Decke! Brennende Trümmer regneten hinab. Gorl ließ sich fallen und griff nach seiner eigenen Waffe. Zwei Gestalten waren über eine Treppe am hinteren Ende der Halle in den 1. Stock gelangt und schossen von dort auf die Gruppe. Janita blieb vollkommen erstarrt sitzen, unfähig zu begreifen, was hier geschah. Gorl schoss zurück, traf jedoch nur die Rückwand, wo ein ziemliches Loch entstand. Diesen Fehler bezahlte Janita mit ihrem Leben. Der nächste Energieimpuls traf sie in die rechte Seite und tötete die Wissenschaftlerin auf der Stelle. Samoka sprang auf, um ihre fallende Freundin aufzufangen, während Gorl zurück feuerte. Von drüben kamen zwei Schüsse. Einer schlug an der Stelle ein, wo Samoka eben noch gesessen hatte. Der andere Strahl traf ihren Kopf. Ihr Körper hielt mitten im Sprung an und sie fiel dumpf zu Boden. Ihr eben noch schönes Gesicht war nur noch eine verkohlte Fratze ohne Leben darin. Ihre langen Haare schwelten und verbreiteten einen beißenden Gestank.

Dies war der Moment, in dem aus Gorl’s Spiel mit der Zeit tödlicher Ernst wurde. Er hatte das Fehlsignal verursacht, dass all diese Ereignisse in Gang gesetzt hatten. Er hatte Samoka und Janita mit in die Vergangenheit genommen, ohne zu ahnen, dass jemand aus der Zukunft ihn und sein Unternehmen so sehr hasste, dass er dafür mordete.

Er sollte in diesem Augenblick eigentlich Trauer, Rache oder totale Hoffnungslosigkeit empfinden.

Teraschnek–Gorl Moiseyenko empfand jedoch gar nichts!

Stattdessen begann er zu funktionieren. Völlig emotionslos, aber in einer nie gekannten Klarheit. Seine Gefühle lagen verschmort, tot und hässlich im Schutt, sein Geist dagegen entwickelte innerhalb einer Millisekunde einen Plan. Gorl hob seine Waffe und feuerte diesmal gezielt auf einen Deckenbalken.
Unter ohrenbetäubenden Krachen brach das Dach. Ein Haufen brennender Schutt kam direkt vor seinen Gegnern herunter und verursachte eine mächtige Staubwolke. Nicolas McEwan ließ sich davon nur wenig beeindrucken. Er schoss aus dem Gedächtnis durch den Staub auf Gorls Position.

Nur das dort niemand mehr war!

Gorl war sofort nach seinem Schuss auf den Deckenbalken die vordere Treppe hinunter gerannt, um dann so schnell er konnte den Bentley zu erreichen. Bis seine Verfolger merkten, dass er weg war, hatte er fast den Zaun erreicht. Als er durch das Loch auf die Straße trat, hörte er Polizeisirenen, die zügig näher kamen. Klar, dass irgendjemand auf den Kampf in der alten Fabrik aufmerksam geworden war und die Behörden informiert hatte. Gorl interessierte das im Moment kaum. Er hastete zu seinem Wagen, sprang hinein und verließ die Mill Pound Road so schnell er konnte. Sollten die beiden durchgeknallten Arschgeigen sich doch mit der County Police vergnügen. Die Beamten würden angesichts zweier verkohlter Frauenleichen und völlig unbekannter Waffen vermutlich eine Menge Fragen haben.

Für Gorl war alles, was ab jetzt geschah vollkommen bedeutungslos. Er hatte einen Plan, er hatte 121 Stunden und er musste zur Chronos.

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