Teil 4
Revolution und Paradoxon
05.09.1939, 07:15h, Ostsee vor Danzig
Das deutsche Linienschiff Schleswig-Holstein beschoss seit Kriegsbeginn Ziele um Danzig herum. Die polnischen Befestigungen auf der Westerplatte zählten zu den bevorzugten Zielen. Die Polen verteidigten die stark verbunkerte Position hartnäckig. Ein Landungsversuch musste unter erheblichen Verlusten für die deutsche Marineinfanterie abgebrochen werden. Jetzt lag es an dem mächtigen Schiff mit seinen 28 Zentimeter Geschützen, die polnischen Bunker sturmreif zu schießen.
Gegen Mittag sollte erneut versucht werden, die Festung zu stürmen. Gerade regnete eine weitere Salve schwerer Granaten auf die Bunker hinab. Kapitän zur See Gustav Kleikamp beobachtete die Einschläge durch sein Fernglas. Das Ziel lag hinter einer Wand aus Rauch und Feuer verborgen. Ein Funkmelder unterbrach den Kapitän und überreichte einen Spruch vom OKM in Berlin. Kleikamp nahm das Blatt und überflog es, aber was dort stand verblüffte ihn. Großadmiral Raeders Befehl lautete, dass die Schleswig Holstein umgehend nach Kiel zurückkehren sollte. Der Kapitän las den Befehl erneut. Die Weisung war eindeutig. Er reichte das Blatt an seinen 1. Offizier weiter, damit die entsprechenden Befehle gegeben wurden. Wenige Augenblicke später schwiegen die Geschütze und das Linienschiff drehte in Richtung Westen ab.
Das deutsche Schiff fuhr nicht alleine. Zwanzig Meter unter der Wasseroberfläche nahm ein zigarrenförmiges, etwa 8 Meter langes Objekt Fahrt auf und folgte der Schleswig-Holstein. Sonarsignale verrieten den beiden Besatzungsmitgliedern Kurs und Entfernung zum Ziel. An den Seiten der Zigarre befanden sich Stummelflügel, an deren Rückseiten sich Tiefenruder, ähnlich den Landeklappen eines Flugzeuges bewegten. Unter jedem Flügel hing ein Torpedo. Die Schallechos des deutschen Schiffes wiesen den Waffen den Weg. Vollkommen lautlos folgte das Miniunterseeboot mit seinem Wasserstoffsuperoxid – Antrieb dem feindlichen Schiff.
Kapitän Kleikamp verstand den Befehl aus Berlin nicht. Gerade hatte der Feldzug gegen Polen begonnen, nur um nach 5 Tagen wieder zu enden? Was war in Berlin los? Kleikamp fragte in Kiel nach, ob der Befehl vom Führer bewilligt wäre. Die Antwort, die er erhielt verwirrte den Eisernen Gustav, wie Kleikamp in Marinekreisen genannt wurde, noch mehr. Nicht Hitler hatte den Befehl gegeben, sondern der neue Reichsführer von Ribbentrop. Hitler sei nicht mehr im Amt, da er sich nicht im Deutschen Reich befinde. Gustav Kleikamp beschlich das Gefühl, dass im Reich etwas Ungeheuerliches geschehen sein musste.
Zwei Blasenspuren jagten durch das trübe Wasser der Ostsee auf das Heck der Schleswig-Holstein zu. Die Torpedowache am Heck des im Einsatz befindlichen Linienschiffes entdeckte die heranrasenden Sprengkörper und gab Alarm. Zu spät – die Torpedos schlugen 30 Sekunden später in die Ruderanlage und neben der linken Schraubenwelle ein. Das mächtige Schiff war plötzlich nicht mehr steuerbar. Der linke Wellentunnel wies ein mannsgroßes Loch auf, durch den Wasser in den Maschinenraum schoss. Noch immer von der rechten Schraube angetrieben, begann der angeschlagene Riese sich langsam im Kreis zu drehen. Alarmglocken schrillten, Männer stürzten durch die Gänge zu ihren Gefechtsstationen und etliche Augenpaare hielten Ausschau nach weiteren Torpedos. Es kamen aber keine. Stattdessen lief der Maschinenraum weiter voll. Die mächtigen Maschinen fielen aus, wodurch das Kriegsschiff endgültig bewgungsunfähig war. Jetzt schlug die Stunde der polnischen Küstenatillerie, die das gegenerische Schiff unter Feuer nahm. Obwohl die Deutschen sich nicht mehr rühren konnten, waren sie trotzdem noch dazu fähig, das Feuer zu erwidern. Es entwickelte sich ein heftiges Artilleriegefecht, das Stunden andauerte. Das Gefecht war noch im Gange, als das polnische U-Boot neu bewaffnet aus Gdynia zurück kam und der Schleswig-Holstein den Rest gab.
08.09.1997, Isle of Wight
Gorl stellte den Bentley in Blackgang ab. Er holte seinen Spezialanzug aus dem Kofferraum. Ohne sich um die Leute auf der Dorfstraße zu kümmern, zog er ihn an und lief auf das Wasser zu. Die Menschen sahen ihm verwundert hinterher. Als sie sahen, dass Gorl in den Wellen verschwand, verständigte jemand die Coast Guard.
Gorl bewegte sich auf dem Meeresgrund geradewegs auf die Chronos zu. Er sah auf die Uhr – 119 Stunden. Ein Sender im Anzug aktivierte das schlafende Raumschiff. Die Schleuse öffnete sich und Minuten später durchbrach die Chronos die Wasseroberfläche. Die See vor der Isle of Wight verwandelte sich in ein kochendes Inferno. Mehrere kleine Schiffe gerieten in den Strudel und gingen unter. Gorl war das völlig egal. Er riss die Chronos nach oben, rammte fast eine Linienmaschine, hielt aber stur seinen Kurs. Im Orbit angekommen nahm er Kurs auf den Stern Mizar. Die Chronos beschleunigte, raste auf den Mond zu, erreichte in doppelter Mondentfernung die Eintrittsgeschwindigkeit für den Hyperraum. Gorl unterband den Eintritt und beschleunigte weiter bis auf 99% der Lichtgeschwindigkeit. Die Chronos raste von der Erde aus betrachtet in die Zukunft. Die mit der irrsinnigen Geschwindigkeit einhergehende extreme Massezunahme löste eine Gravitationswelle aus, die im Jahr 2007 auf den GEO 600 – Detektor bei Hannover in Deutschland traf. In der Nähe des Doppelsterns Mizar übernahm Gorl die Handsteuerung. Er führte das Schiff auf die Korona des Sterns zu, bremste ab, was durch die ungeheure Gravitation des gigantischen Himmelskörpers begünstigt wurde. Nur noch 24 Millionen Kilometer von Mizar entfernt erreichte die Chronos erneut die Eintrittsgeschwindigkeit. Die Hülle des Zeitschiffes glühte, in der Kabine stieg die Temperatur auf 70°C an. Diesmal löste Gorl den Eintritt aus. Die Chronos wurde in die fünfte Dimension gerissen. Dabei raste sie durch den Stern, wurde in die Vergangenheit geschleudert und fiel 400 Millionen Kilometer hinter Mizar wieder in den Normalraum zurück. Gorl prüfte Funksignale von der Erde. Er empfing nach längerer Zeit einen Funkspruch des deutschen Hilfskreuzers Emden, der im Jahr 1915 vor Australien operierte. Er rechnete kurz. Mizar war 78 Lichtjahre von der Erde entfernt. Das 1915 abgesandte Signal musste hier also im Jahr 1993 eintreffen. Die Chronos führte einen kurzen Hyperraumsprung durch, um an einer Position nahe dem Sonnensystem herauszukommen. Hier kamen weit mehr Funkbotschaften von der Erde an. Daraus konnte Gorl auf die Mikrosekunde genau seine Position in der Zeit berechnen. Von hier aus konnte er mit einem zweiten Flug nahe an der Lichtgeschwindigkeit eine Zeitdilatation erreichen, mit der er am 08.09.1997 um 14:12h vor der Halle in Gosport landen würde, in der Janita und Samoka Minuten später starben.
05.09.1939, 05:15h, Neue Reichskanzlei, Berlin
Canaris war es, der dem kommisarischen Reichsführer die Tür zum Senderaum öffnete. Von Ribbentrop trat ein, wobei er den dort sitzenden Rundfunksprecher Alfred-Ingemar Berndt zunächst misstraurisch musterte, dann aber doch kurz begrüßte, als dieser aufstand und den Arm zum Hitlergruß erhob. Joachim von Ribbentrop trat an das Mikrofon, welches der Rundfukmann ihm zuwies. Ein Soldat in SS-Uniform reichte ihm sein Manuskript. Der Sprecher erklärte noch kurz den technischen Ablauf. Berndt rief die Anwesenden zur Ruhe auf. An der Frontseite des Studios leuchtete der Schriftzug „Auf Sendung“ auf. Ribbentrop spürte, wie sich sein Magen zusammen zog. Sobald Berndt zu sprechen begann, würde alle Welt von dem Machtwechsel in Berlin erfahren. Danach gab es zwei Möglichkeiten: Entweder stürmten die Gestapo oder die SS den Senderaum und erstickten den Putsch im Keime oder die Sache ging gut und alle bewaffneten Verbände standen hinter den neuen Machthabern. Von Ribbentrop hörte Berndts markante Stimme wie aus weiter Ferne.
„Hier spricht der Großdeutsche Rundfunk Berlin……..“
Der Machtwechsel hatte begonnen.
Die Rede des neuen Reichsführers dauerte etwa 30 Minuten. Von Ribbentrop sprach über die letzten Vorgänge in Berlin, die Verschleppung des Führers und die prekäre Lage der Wehrmacht in Polen. Er kündigte an, die deutschen Streitkräfte schnellstmöglich aus Polen zurück zu holen. Den Kriegsgegnern bot er sofortige Friedensverhandlungen an und bezeichnete den von seinem Vorgänger Adolf Hitler ausgelösten Konflikt als bedauerlichen Fehler. Rückzugsbefehle seien bereits an alle Teilstreitkräfte auf gegnerischem Gebiet ergangen.
Die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts schien vorerst abgewendet.
05.09.1939, 09:30h, Warschau, Bunker unter dem Königschloss
Adolf Hitler nahm mit verkniffenem Gesicht die Forderungen der Konferenzteilnehmer entgegen. Einstellung sämtlicher Kampfhandlungen, Rückzug aller Truppenverbände auf die Vorkriegspositionen, Rückzug aller Kampfschiffe in deutsche Hoheitsgewässer…. Dabei war nichts, das er nicht erwartet hätte.
Dann kam es allerdings richtig heftig!
Die Konferenz stellte die Bedingung, dass seine Regierung in Deutschland zurücktreten musste und demokratische Neuwahlen einen Neuanfang im Nazireich einleiten sollten. Die Wahlen sollten nicht nur unter Aufsicht des Völkerbundes stattfinden, sondern von der Gemeinschaft durchgeführt, kontrolliert und ausgezählt werden.
Hitler explodierte! Er tobte durch den Raum, bis Marek Bronikowski ihn packte, den Arm umdrehte und damit stoppte. Das Telefon schrillte in die groteske Szenerie hinein. Edward Rydz-Śmigły nahm den Hörer ab und hörte eine Weile lang zu. Er beendete das Gespräch mit einem knappen Satz und knallte den Hörer so laut zurück auf die Gabel, dass alle Köpfe automatisch in seine Richtung flogen. „Tadicz, das Radio einschalten, schnell! Suchen Sie den Großdeutschen Rundfunk!“
Wenig später hallte die Stimme des deutschen Außenministers durch den Saal, der sich als neuer Führer des Deutschen Reiches bezeichnete und Hitler für abgesetzt erklärte.
Marek Bronikowski, der den Gefangenen noch immer festhielt, spürte wie der Mann in sich zusammen sackte. Er ließ ihn los. Hitler schleppte sich scheinbar mühsam zu seinem Platz, wo er kraftlos auf den Stuhl sank. Er legte den Kopf in die Hände und begann zu weinen. Der furchtbarste Diktator dieser Erde saß da und weinte!
Die Köpfe Europas saßen um ihn herum. Fassungslos und beinahe mitleidig. Die erste Reaktion kam von Thorvald Stauning. Der dänische Sozialdemokrat erhob sich, griff nach seiner Mappe und bemerkte: „Damit wäre wohl klar, dass Herr Hitler nicht mehr der legitime Vertreter des Deutschen Volkes ist. Ich denke, wir können die Konferenz hier abbrechen.“ Stauning drehte den Kopf und horchte gen Himmel. „Wie es scheint, hat das Bombardement ebenfalls aufgehört.“, fügte er lächelnd hinzu.
Auch die anderen Teilnehmer der Warschauer Konferenz erhoben sich. Hitler dagegen blieb sitzen und fand seine Fassung nicht wieder.
Sein Spiel war endgültig aus, was ihm seit einigen Augenblicken unwidersprüchlich klar wurde. Alles war schief gelaufen. So perfekt gegen ihn, als ob es nach einem Plan geschehen war.
Noch jemand war am Tisch sitzen geblieben. Der Mann, der ihn bereits beim Eintreten wie ein Studienobjekt fixiert hatte, saß da und blickte mit einer Mischung aus Genugtuung und Unglauben zu ihm herüber. So, wie ein Forscher, dem ein Experiment mit ungewissem Ausgang geglückt war. „Ich habe das Monster tatsächlich gestoppt.“, hörte Hitler ihn fast unhörbar sagen. Dann stand der Mann einfach auf und ging, ohne Adolf Hitler eines weiteren Blickes zu würdigen.
08.09.1997, 14:10h , über Gosport
Ein glühender Meteor raste durch die Erdatmosphäre auf den Nordosten von Gosport zu. Die Menschen auf den Straßen wurden durch ein dumpfes Grollen auf das Schauspiel über ihren Köpfen aufmerksam. Panik brach aus, als der Eindringling aus dem All immer näher kam. Dann, Augenblicke vor dem Enschlag, stoppte der Meteor etwa einhundert Meter über dem Boden. Ein Sturm erhitzter und komprimierter Luft fegte durch die Straßen rund um den Jervis Drive. Der so abrupt gestoppte Himmelskörper sank langsam vor dem alten Austattungswerk zu Boden. Der heiße Sturm, der den Menschen die Haut versengte und vereinzelt Kleidung in Brand setzte, trieb die wenigen Passanten in der Gegend zur schnellen Flucht.
Gorl setzte die Chronos unsanft vor dem Werk auf. Es war 14:10h. Als er ausstieg, fiel ihm auf, dass die Umgebung anders aussah, als bei seinem Abflug. Sie war irgendwie unvollständig. Die Welt schien in einem Umkreis von etwa 100 Metern um Gorl herum in einem stumpfen Grau zu enden. Gorl begriff, dass er sich in einer eigenen, sehr eng bemessenen Zeitblase befand. Er sollte hier nicht sein. Gorl riß seinen Strahler aus der Tasche und rannte auf die einzige Halle zu, die er halbwegs klar erkennen konnte. Die Konturen schienen klarer zu werden und die Umgebung schien an Struktur zu gewinnen, je länger Gorl sich in dieser Zeitblase aufhielt.
14:11h! Die Tür zur Halle lag vor ihm, halboffen, mit kaputten Scheiben. Gorl stürmte hinein. Die Treppe, 12 Stufen, der erste Stock.
14:11:30h: Zwanzig Meter vor der Abstrahlöffnung seiner Waffe gewahrte der Neuankömmling Nicolas McEwan, der sich gerade aufrichtete und einen Schuss abfeuerte. Gorl verfolgte den Strahl und sah Janita, aus dieser Perspektive praktisch ohne Deckung am anderen Ende der Halle. Er sah Samoka und sich selbst, ebenfalls in jämmerlich unprofessioneller Deckung. Für einen Profi wie McEwan gaben die Möchtegern – Spione dort drüben blendende Ziele ab.
14:11:40h: Gorl sollte nicht hier sein, weil Gorl schon hier war. Gorl 2 (der gerade eingetroffene) sah, die Halle vor sich plötzlich irgendwie doppelt, als wenn seine Wahrnehmung durch eine andere Realität überlagert wurde. Er hatte keine Zeit, sich über diesen Effekt Gedanken zu machen. McEwans nächster Schuß würde Janita töten. Gorl 2 richtete seinen Strahler auf McEwans Rücken und feuerte. Der Hüne wurde getroffen und kippte einfach zur Seite. Anta-kal-Tep fuhr herum, feuerte instinktiv auf die Stelle, von wo aus ihr Begleiter getötet wurde und erwischte Gorl 2 voll.
Auf der anderen Seite sprang Gorl 1 auf, fassungslos darüber sich selbst sterben zu sehen und schoss seiner Mörderin in den Rücken. Die Tromburianrin brach tot zusammen. Der überlebende Gorl ließ langsam die Waffe sinken. Samoka kam von einem Hustenanfall geschüttelt hoch. Sie schaute ungläubig in Richtung der Toten. „Was war das gerade? Weshalb stehst du hier und bist dort gestorben?“ Gorl zuckte hilflos mit den Schultern. Janita, die noch wie paralysiert im Schutt auf dem Boden saß, murmelte tonlos: „Gorl verschwindet, er löst sich einfach auf.“ Tatsächlich wurde der Tote dort drüben durchsichtig und war schon jetzt nur noch schemenhaft wahrzunehmen. In die Verwunderung drang das entfernte Jaulen einer Polizeisirene. „Schnell!“, rief Gorl und riss Janita vom Boden hoch, „packt alles zusammen. Wir müssen hier weg.“ Dann rannte er zu den drei Toten hinüber. Je näher er kam, desto schneller verblasste seine Leiche, bis sie völlig verschwand. Gorl nahm den beiden anderen Toten hastig alles ab, was auf deren Herkunft hindeuten könnte. Dann stellte er seine Strahler auf höchste Leistung und richtete die Waffe auf die Überreste ihrer Verfolger. Die Energie reichte aus, um sie nahezu einzuäschern. Der anschließende Schwelbrand würde Gorls Zerstörungswerk fortführen bis nichts mehr identifizierbar sein würde.
Janita und Samoka kamen heran, sichtbar angewidert, vom Anblick und vom Gestank der brennenden Leichname. Samoka hielt sich schlagartig die Hand vor den Mund und stürzte zur Tür. Sie wollte sich übergeben, blieb aber vor der Halle wie angewurzelt stehen. Zwischen Würgen und Husten brachte sie ein paar Worte hervor. Es klang wie ‚Chronos’ und es klang verzweifelt. Janita und Gorl rannten zu ihr und sahen, was sie meinte. Vor der Halle stand die Chronos. Sie wurde schnell durchscheinend und verschwand wenige Sekunden später. Der Schock ließ die Gruppe fast die inzwischen deutlich wahrnehmbaren Polizeisirenen überhören. Samoka reagierte zuerst und rannte in Richtung des Bentleys. Janita rannte hinterher. Diesmal war sie es, die Gorl hinter sich her zog. Sie erreichten die Mill Lane, wo ihnen klar wurde, dass der Bentley ebenfalls in der anderen Zeitblase verschwunden war. Also gingen sie bis zur nächsten Bushaltestelle, um einen Bus nach Porstmouth zu erwischen. Niederschgeschlagen bestiegen sie den Wagen, der über die Eastern Way nach Port Solent und die M27 nach Portsmouth fuhr. Niemand sagte etwas. Irgendwann murmelte Gorl: „Die Chronos ist weg. Sie befindet sich in einer anderen Zeitblase, zu der wir keinen Zutritt mehr haben.“ Janita nickte: „Damit ist unser Ticket nach Hause im Eimer. Aber warum bist du mit dem Schiff plötzlich aus dieser Zeitblase aufgetaucht?“
Samoka sprach zwar mit Janita, starrte aber Gorl dabei an: „Ganz einfach, weil wir in der Realzeit vermutlich kurze Zeit später tot waren. Gorl hat als einziger überlebt und hat mit der Chronos die Zeitdillatation genutzt, um unseren Tod ungeschehen zu machen. Er ist bedingungslos für uns gestorben, denn Gorl 2 konnte nicht wissen, ob Gorl 1 das Gefecht bei seinem Eintreffen überleben würde. Du hast voll auf Risiko gespielt, um uns zu retten.“
„Ja, “ gab der Retter zurück, „und ich hab unser Schiff dabei versiebt.“
Abgeschnitten
Ihr Weg in das 22. Jahrhundert steckte in einer anderen Zeit, während in dieser die britische Polizei nach Ihnen suchte. Zwei Menschen lagen zu Asche verbrannt in einer alten Fabrik. Insgesamt keine guten Aussichten. Mit der Chronos waren auch alle Ressourcen verschwunden. Beispielsweise die Möglichkeit Bargeld zu produzieren oder an Informationen zu gelangen. Natürlich war allen klar, dass auch die Toten in Gosport mit einem ganz ähnlichen Raumschiff zur Erde gekommen sein mussten, aber das konnte genauso gut irgendwo in Sibirien oder unter dem Eis der Antarktis versteckt sein. Vielleicht lag es auch direkt vor ihrer Nase. Solange keine Möglichkeit bestand es anzupeilen und zu aktivieren, war es ohne Wert. Zum Glück verfügten sie noch über reichlich Bargeld und Schecks diverser Banken. Gorl besorgte einen neuen Wagen, dieses Mal allerdings einen weit weniger aufälligen Honda Accord.
„Wir müssen unauffällig in die Wohnung der beiden zurück. Dort muss es Hinweise auf das zweite Schiff geben.“, schlug Samoka vor. Janita winkte ab. „Da dreht die Polizei vielleicht schon jedes Stäubchen um.“ Gorl stimmte Samoka zu. „Wahrscheinlich haben die überhaupt noch keinen Zusammenhang zwischen unseren gegrillten Freunden und der Wohnung hergestellt. Also, auf nach Gosport. Vielleicht können wir an unserer misslichen Lage irgendetwas verbessern.“
09.09.1939, 23:30h, Warschau, Ogrod Saski Park
Brent verließ die Bühne vor der die Siegesfeier stattfand. Er fühlte sich merkwürdig und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Eigentlich sollte er sich freuen und es in dieser Nacht richtig krachen lassen. Aber er konnte es nicht. Der Mann, der die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts verhindert und die beste Armee ihrer Zeit geschlagen hatte, konnte seinen Sieg nicht genießen. Brent Spiner verspürte ein schwer zu definierendes Gefühl. Einsamkeit, Heimweh und die Ahnung, dass irgendetwas nicht stimmte. Die ganze Situation erschien im jetzt, da alles vorbei war genau so irrelevant, wie sie tatsächlich war. Er gehörte nicht hierher und dieses Gefühl legte sich wie Blei auf Brents Schultern. Das Jahr 1999, Kathleen, Portsmouth und der Geruch des brackigen Wassers, das im Solent schwappte brachen sich brutal in seinem Gedächtnis Bahn und griffen nach seinem Bewusstsein. Im Augenblick des Triumphes in seinem neuen Leben, wünschte er sich nichts mehr, als sein altes. Stattdessen saß er im Warschau des Jahres 1939, war mit einer 25 Jahre jüngeren Frau verheiratet, war seit einem Jahr Vater einer Tochter und galt in dieser Epoche als Heiland, Erlöser und Wundermacher in einem. Er liebte Alla Spiner und seine Tochter Lena und wäre doch am liebsten ganz woanders. In seiner Beklemmung fielen ihm die Leute aus dem 22. Jahrhundert wieder ein, von denen er schon seit Jahren nichts mehr gehört hatte. Vermutlich hatten sie seine Rettung ohnehin längst aufgegeben. Sie hatten wahrscheinlich herausgefunden, dass es völlig egal war, dass ein armer Irrer in ihrer Vergangenheit herum pfuschte. Also ließen sie ihn hier verrotten.
Brent empfand seine Situation in allen Punkten zum Kotzen!
08.09.1997, Gosport, Jervis Drive
„Keine Polizei zu sehen!“, murmelte Gorl, als sie sich dem Haus im Jervis Drive näherten. Im Augenblick gab es massenhaft Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen auf dem Werksgelände. Die Anwohner des Jervis Drive verfolgten das Spektakel von der Straße aus. So fielen die Neuankömmlinge überhaupt gar nicht auf. Gorl betrachtete die Schlüssel, die er dem toten Nicolas McEwan abgenommen hatte. Der augenscheinliche Wohnungsschlüssel entpuppte sich tatsächlich als solcher, als Gorl ihn an der Eingangstür ausprobierte. Die Gestrandeten schlüpften in den Hausflur und fanden problemlos die gesuchte Wohnung. Es war ein komisches Gefühl in einer fremden Behausung herum zu schnüffeln. Samoka fand nach einigem Stöbern einen Nanospeicher. Der war jedoch verschlüsselt, wie ihr Armbandrechner sie umgehend wissen ließ. Janita versuchte es mit einem Codeknacker, der aber kläglich versagte. Wahrscheinlich handelte es sich um einen militärischen Code. Sowas zählte auch im 22. Jahrhundert noch zu den sichersten Dingen des Universums. Sie beschlossen den Speicher und ein paar weitere Dinge mitzunehmen. Besser, sie verschwanden von hier, bevor die Nachbarn aufmerksam wurden.
Zurück in Portsmouth untersuchte Janita den Nanospeicher ein weiteres Mal. Der Code schien mehrfach gesichert und selbstmodifizierend zu sein, ein verflucht harter Brocken. Irgendwann im Laufe des Abends gingen Samoka und Gorl schlafen. Janita beschäftigte sich derweil mit dem Code, der sich nicht knacken lassen wollte. „Ich komme später nach!“, winkte sie ab. Völlig zerschlagen von den Erlebnissen des Tages schliefen Gorl und Samoka ein. Es war aber kein ruhiger Schlaf. Seltsame Träume waberten durch Samokas Geist. Immer wieder sah sie sich sterben, getroffen von einem Energiestrahl. Sie fiel, unerträgliche Schmerzen rasten durch ihren Körper. Auch Gorl quälten die Träume aus der anderen Zeitblase. Irgendwann am Morgen wachten sie auf. Sie fühlten sich schwach und verwirrt. Im Wohnzimmer fanden die Janita tief schlafend am Tisch vor. Gorl stubbste sie an, woraufhin Janita lahm einen Arm hob und etwas brummelte das wie „3zet5alpha667be90“ klang. Dann fiel ihr Arm kraftlos auf die Tischplatte zurück und sie schnarchte wie ein balzendes Walroß.
Der Speicher entpuppte sich als wahrer Schatz. Nicht nur die Position des zweiten Zeitschiffes war verzeichnet, sondern auch der Zugangscode. Die Timeless lag ganz in der Nähe der Chronos im Meer. Auch die Konstruktionsdaten und der Flugverlauf befanden sich in den Speicherzellen. Samoka schüttelte immer wieder den Kopf, als sie las, mit welcher Gerissenheit sich Anta-kal-Tep und McEwan das Wissen zum Bau der Timeless beschafft hatten. Gorl kam mit zwei Tassen Tee aus der Küche und reichte eine davon Samoka. Gemeinsam gingen sie die Daten durch und suchten nach dem Aktivierungscode für den Bordcomputer ihres neuen Transportmittels. Der ließ sich aber nirgendwo entdecken.
09.09.1939, 23:40h, Warschau, Ogrod Saski Park
„Was tust du hier? Geht es dir nicht gut?“
Die Stimme hinter Brent gehörte Alla Spiner. Brent’s Frau setzte sich zu ihm auf das Untergestell der Bühne, von der aus Józef Beck gerade eine glühende Rede an die Menschen hielt, die im Park den „Sieg“ über Hitler. Der Naziführer und Göbbels hatten sich am Vortag in ihren Zellen das Leben genommen und hatten die Bühne des Weltgeschehens endgültig verlassen. Die Welt dieser Tage erschien Brent wackelig und unentschlossen. Der Krieg hatte drohend seine Faust gehoben, aber die Katastrophe, die den Frieden zu etwas unsagbar Wertvollem werden ließ, hatte nicht stattgefunden. Brent musste erkennen, dass er keinen Tag länger fähig sein würde, den Lauf der Geschichte im Voraus zu kennen. Er war ein genauso blindes Schaf geworden, wie alle anderen Mitglieder dieser Herde.
„Mir ist nicht nach Feiern zumute“, entgegnete er und streckte seine Hand nach Alla aus. „Jetzt, wo das alles vorbei ist, sehne ich mich so sehr nach England und in meine Zeit zurück. Ich….“, er stockte, weil er der Frau an seiner Seite nicht sagen wollte, dass er sich auch nach der Frau in seiner Zeit sehnte. Musste er auch nicht, denn das wusste Alla auch so. Sie erlebte ihn oft abwesend, in sich versunken und in Gedanken in einer Zeit, die sie nicht kannte. Und immer sagte sie sich, dass sich wohl jeder Mensch so verhalten würde, der völlig unverhofft in einer anderen Zeit und in einem fremden Land zurechtkommen musste. ‚Er ist aber nicht jeder Mensch.’, dachte sie, ‚Er ist der einzige seiner Art und ausgerechnet ich musste ihn heiraten.’
Alla Spiner lag mit ihren Gedanken nicht ganz richtig. Es gab noch jemanden seiner Art!
Während Brent mit sich und der Welt haderte, machten sich überall auf der Welt führende Köpfe darüber Gedanken, wie man den Polen ihre Waffentechnologie entreißen könnte. Vor allem in Washington und Moskau liefen die Geheimdienste auf Hochtouren. Während die amerikanische Absicht dahin zielte, dass Japan, der potentielle Gegner der U.S.A. im Pazifik, auf keinem Fall vor den Amerikanern aufrüsten dürfte, hegte Stalin in Moskau Pläne für ein kommunistisches Europa. In Berlin gingen die Gedanken in die genau entgegengesetzte Richtung. Hier war der Drang, die Waffen zu besitzen, mit der ein Volk von slawischen Untermenschen die Wehrmacht der Herrenrasse besiegt hatte am stärksten. Und Joachim von Ribbentrop stand mit Hitler ideologisch in einer Reihe. Nur war er ungleich intelligenter, als der dahingeschiedene Führer.
Brent Spiner begann daran zu zweifeln, dass er dieser Welt, in die er nicht gehörte, wirklich etwas Gutes gebracht hatte. Ohne die weltumspannende Katastrophe von Hitler’s Krieg, pochte der dumpfe Nationalismus in allen Staaten Europas weiter. Die offenen Rechnungen aus dem letzten Weltkrieg waren nach wie vor offen. In den vergangenen Wochen waren weitere dazu gekommen. Brent’s Wirken in Polen hatte die Katastrophe nur verschoben, nicht aber verhindert. Jetzt würde sie vielleicht zehn oder zwanzig Jahre später kommen, aber auf einem technologisch weit fortgeschrittenen Niveau. Brent schauderte bei dem Gedanken an den nächsten Krieg. Die Leute aus der Zukunft hatten Recht; er musste hier schnellstmöglich verschwinden.
Alla zog ihn zu sich und sagte leise, „Ich kann nicht sagen, ob es für dich ein Trost wäre, aber wenn du willst, würde ich mit dir nach England gehen. Dann wärst du zwar nicht in deiner Zeit, aber doch in deinem Land! Was denkst du?“
Brent nickte, ohne groß über den Vorschlag seiner Frau nachdenken zu müssen. Nach England! Das wäre schon ein Schritt. Ein Haus in Cornwall oder auf der Isle of Man, Pubs, Ham-on-Eggs und kauzige Nachbarn. Das klang auch 1939 paradiesisch für ihn. Auch wenn er Andreij Tadicz, Marek Bronikowski, den alten Urbanski und viele weitere Weggefährten vermissen würde.
Nur eine Woche später stieg die Familie Spiner in Hull von der Gangway der Baltic Star herunter, um in England ein neues Leben zu beginnen. Der britische Geheimdienst sorgte für ein angemessenes Heim in Newton Abbot in der Grafschaft Devon. Dort betrieb Brent von nun an ein Ingenieurbüro im Dienste der Royal Navy. Das Leben der Spiners entwickelte in den kommenden Jahren eine Normalität, die Brent fast vergessen ließ, dass er auch hier nicht hingehörte. Seine Firma wuchs relativ zügig. Nach 5 Jahren verfügte Brent über 20 hervorragend ausgebildete Mitarbeiter und betrieb als zweites Standbein die Future Academy, eine Schule in der er Absolventen aus Oxford oder Camebridge mit Technologien wie der Sonnenergie und anderen Wundern aus dem beginnenden 21. Jahrhundert vertraut machte. Ohne, dass irgendwer ahnte, dass er tatsächlich aus der Zukunft kam. Seit 1945 besuchte Lena Spiner, deren Bruder William ein Jahr zuvor das Licht der Welt erblickt hatte, die Newton Primary School. Ihren Lehrer fiel sie sofort durch eine überdurchschnittlich hohe Auffassungsgabe und ein sehr ernsthaftes, fast erwachsen zu nennendes Verhalten auf.
Allen Unkenrufen zum Trotz und einem faschistischem Deutschland in seiner Mitte, erlebte Europa eine Ära des Friedens. 1954 entstand eine auf Betreiben Englands, Frankreichs und Polens ein europäischer Wirtschaftsverband, die ETC (Europaen Trade Community). Brent Spiner begann langsam über seinen Ruhestand nachzudenken. Irgendwann würde er die Firma an seine Tochter übergeben, nachdem Lena mit dem College fertig war. Zurzeit weilte sie an der Universität in Lwòw, wo sie ein Gastsemester lang Mathematik studierte. Andreij Tadicz, seit 1951 Polens Bildungsminister hatte die Tochter seines alten Freundes gern bei sich zu Gast. Für Lena gehörte Onkel Andreij zur Familie und Schloß Czartoryski bedeutete ein Stück Heimat für sie. Schon als Kind war ihr bewusst geworden, dass in den Gängen dieses Gebäudes etwas mit ihr passierte. Bilder tauchten vor ihr auf, wenn sie sich dort aufhielt. Sie zeigten fremde, unwirkliche Welten, schienen dennoch auf eine merkwürdige Weise real zu sein. Nicht wie Bilder, sondern wie Türen, durch die man in eine andere Welt wechseln konnte.
24.05.1998, Portsmouth
Für Janita, Samoka und Gorl ging das Leben ebenfalls weiter. Irgendwann hatten sie es aufgegeben, nach dem Aktivierungscode für das zweite Zeitschiff zu suchen. Wahrscheinlich befand er sich in irgendeiner Form bei Anta-kal-Tep und Nicolas McEwan und war mit den beiden verbrannt. Gorl war mehrmals zur Timeless gefahren, ohne das Schiff irgendwie aktivieren zu können. Der Zentralcomputer tat schlichtweg gar nichts, außer mit der Selbstzerstörung des Schiffes zu drohen. Ohne den dritten Code erwies sich jeder weitere Versuch die Timeless zu aktivieren als sinnlos. Sie mussten sich erst einmal damit abfinden, dass sie hier gefangen waren. Die Rückreise war ein Problem, dass zu einem späteren Zeitpunkt gelöst werden konnte. Zunächst einmal musste das eigentliche Ziel ihrer Reise erreicht werden. So konzentrierten sie sich darauf, nicht aufzufallen und ein Auge auf Brent Spiner zu halten.
Epochenspringer
10.07.1956, Schloss Czartoryski, Polen
Das Bild vor Lenas Augen erschien heute in brillanter Klarheit. Sie sah Menschen in merkwürdiger Kleidung, die sich in einer Art Labor oder Schaltzentrale oder so etwas aufhielten. ‚Wenn ich nur will’, dachte sie sich, ‚kann ich zu diesen Menschen gehen.’ Der Gedanke elektrisierte sie, denn ihr war irgendwie bewusst, dass der Ort vor ihr unendlich weit entfernt war und in der Zukunft lag. Sie konnte die zeitliche und räumliche Entfernung fühlen. Wenn sie bewusst in das Bild eintrat, anstatt es wie üblich nur zu betrachten, würde sie in die andere Welt wechseln.
Aber käme sie auch wieder zurück?
02.04.2174, Raumstation Camp Tschao
Wenn Gedro-Won Mang etwas gut konnte, war das die schnelle Beurteilung von Menschen Dingen, ob ihrer historischen oder kulturellen Herkunft. Als Kosmohistoriker befasste er sich ständig mit der Vergangenheit der Menschheit. Die junge Frau, die plötzlich aus dem Nichts vor ihm im Kontrollraum auftauchte hatte er einklassifiziert, bevor er sich bewusst erschreckte. Erde, zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, Kontinent Europa, ethnische Herkunft vermutlich britisch. Erst im nächsten Moment zuckte er sichtbar zusammen und stieß einen überraschten Schrei aus.
Die Frau nickte kurz, drehte sich um und verschwand mit einem einzigen Schritt in dem Nichts, aus dem sie gekommen war.
Gedro ging zu der Stelle, an der die merkwürdige Erscheinung aufgetaucht war, hielt kurz vorher an und machte einen Schritt. Nichts! Er war immer noch da. Der Historiker legte die Handflächen gegen die Luft, als wenn er eine Wand berühren würde, aber da war nur Luft.
Von der Tür her vernahm er ein Räuspern und hielt in seiner Bewegung inne. Jeff Tschao-Zel lehnte grinsend in der Öffnung und sah Gedro bei seinem seltsamen Ballett zu. „Sie war da, mein Freund. Ich habe sie auch gesehen.“, sagte er und trat ein.
10.07.1956, Schloss Czartoryski, Polen
Lena trat an genau der Stelle wieder in ihre Zeit ein, an der sie diese eine Sekunde zuvor verlassen hatte. Sie war überwältigt und belustigt zugleich, dann das Ganze entpuppte sich als herrlicher Spaß. Wie blöd dieser Zukunftsmensch sie angestarrt hatte! Sie verspürte eine unbändige Lust dazu, diesen Spaß zu wiederholen. Also ging sie wieder auf die andere Seite des Flures und konzentrierte sich kurz, bis das Bild aus der Zukunft wieder klar vor ihr stand. Sie sah jetzt einen zweiten Mann, der gemeinsam mit dem anderen die Stelle untersuchte, an der sie aufgetaucht war. Offenbar konnten sie Lena nicht sehen, obwohl sie nur einen halben Meter entfernt waren. Lena wartete, bis die Männer sich abwandten und irgendwelche Aufzeichnungen kontrollierten. Sie überlegte, ob von den Fremden eine Gefahr ausging. Sie hatte plötzlich die Idee, dass diese Typen dort in ihr so eine Art Fossil sehen könnten, dass man erst einmal töten und in Formalin einlegen musste, um es richtig untersuchen zu können. Aber nein, die nahmen sicher kein Formalin mehr dafür, dachte sie und stand mit einem Schritt im Rücken der Fremden. Die standen da und sahen Zahlen und Diagramme an, die faszinierender Weise hell leuchtend im Raum zu schweben schienen. Dabei unterhielten sie sich in einem melodischen Singsang, der Lena irgendwie indisch vorkam. Davon überzeugt, dass sie nur einen Schritt zurück in ihre Zeit machen musste, sagte sie laut und vernehmlich „Hi Jungs, was läuft denn so bei euch!“
02.04.2175, Raumstation Camp Tschao
Jeff krachte mit dem Kopf voll gegen Gedros Schulter. Der verstärkte den Aufprall noch bei dem Versuch, im selben Moment wie Jeff zu der Stimme hinter ihnen herumzuwirbeln. Jeff’s Schädel nahm schlagartig die Eigenschaften einer Glocke an, die von zwanzig Stößeln im Millisekundentakt angeschlagen wurde. Gedro glaubte, dass ein Meteorit in seine Schulter eingeschlagen sei, während direkt vor ihm das Mädchen stand und lachte, dass man es noch in Andromeda hören musste.
„Ihr seid ja wirklich saukomisch hier!“, gluckste der Überraschungsgast. Gedro richtete sich mühsam auf und rieb seine Schulter. Reflexartig durchzuckte ihn, dass er Alarm auslösen sollte. Wenn jemand in der Lage, einfach aufzutauchen und wieder zu verschwinden, konnte dieser jemand dabei auch Bomben oder sonst was da lassen. Aber vor ihm stand eine unbekümmerte Teenagerin, die wahrscheinlich gerade im Begriff war, sich totzulachen. Jeff schüttelte den Kopf, sah aber immer noch irgendwie verschwommen. Trotzdem sagte er laut, auf English und mit scharfer Betonung auf jeder Silbe: „Das – war – eine –sau - blöde – Idee! – Klar?“
Die so Gemaßregelte hörte abrupt auf zu kichern und schaute betreten zu Boden. Ihr war klar, dass plötzliches Auftauchen aus dem Nichts von den Anwesenden nicht unbedingt als netter Scherz aufgefasst wurde. Ein Medibot kam hereingeschwebt und verabreichte den Opfern von Lenas Auftritt Schmerzmittel. Die Medizinische Zentrale hatte die Veränderung des körperlichen Zustandes registriert und automatisch einen Roboter losgeschickt. Lena beobachtete fasziniert, was vor sich ging, als die schwebende Maschine plötzlich auf sie zukam und direkt vor ihrem Gesicht anhielt. Sonderbarerweise empfand sie keinerlei Angst. Sie konnte schließlich auch nicht wissen, dass ein Medibot im 22. Jahrhundert über Mechanismen verfügte, die einem ohnehin durch Verletzung oder Krankheit eingeschüchterten Menschen das Angstgefühl nahmen. Aus dem Roboter wand sich ein biegsamer Arm hervor, der Lena im Ausschnitt ihrer Bluse zwischen den Brüsten berührte. Sie spürte einen leichten Druck, als ihr die Maschine etwas unter die Haut spritzte. Lena bemerkte, dass unter der halbtransparenten Außenhülle rotes Licht pulsierte, das nach der Injektion auf Grün wechselte. Der Medibot verschwand genau so lautlos, wie er gekommen war.
Gedro, nun schmerzfrei, sah die junge Frau an und hob zwei Finger. „Zwei Fragen, junge Dame: Wer sind Sie und wie machen Sie das?“ Lena, die dem schwebenden Roboter noch immer nachsah, richtete ihren Blick auf den Mann, der die Fragen gestellt hatte. „Ich bin Lena Spiner und….“. Was war das? Der Fremde war deutlich zusammen gezuckt, als sie ihren Namen nannte. So, wie ein Polizist beim Namen eines gesuchten Verbrechers. Kannten diese Leute sie? „…und ich sehe einfach ein Bild von diesem Ort vor mir, durch das ich hierher gehen kann.“ Die Männer sahen sich an, als von der Tür her eine Frauenstimme die Antwort vorweg nahm. „Lena Spiner! Das ist ja sensationell. Weiß ihr Vater, dass Sie hier sind?“ Die Stimme gehörte Sita Myhrre, Gedros Kollegin auf dem Gebiet der kosmischen Geschichte. Lena sah sie vollends verwirrt an. Woher kannten die ihren Vater? In was war sie hier hinein geraten?
Das waren also Sita, Jeff und Gedro und das waren drei unglaublich interessante Menschen aus der Zukunft. Wissenschaftler, faszinierende Leute. Und sie, Lena Spiner saß mitten unter ihnen im 22. Jahrhundert und trank eine blaue Flüssigkeit, die ein aufregendes Prickeln auf der Zunge verursachte und absolut himmlisch schmeckte. Lena konnte nicht ahnen, dass der Medibot ihre Daten an den Zentralrechner der Station übertragen hatte und die Verpflegungseinheit das Getränk exakt auf Lenas Lieblingsgeschmäcker hin gemischt hatte. So saß sie da und plauderte munter, von Sita sehr gezielt danach gefragt, über ihr Leben. Was sich als viel erstaunlicher erwies, war die Geschichte ihres Vaters, die sie hier zum ersten Mal hörte. Lena war immer verwundert darüber, dass ihr Vater seiner Zeit immer weit voraus zu sein schien. Hier erfuhr sie warum. Ihre Eltern redeten nie davon, was sicher damit zusammen hing, dass sie ihre Kinder schützen und ihnen ein normales Leben ermöglichen wollten. Sie konnten ja nicht ahnen, dass ihr Nachwuchs über eine ganz außergewöhnliche Fähigkeit verfügen würde. Lena erfuhr von der Rettungsexpedition in die Echtzeit ihres Vaters und begriff, dass sie hier unter Freunden war. Der behüteten Tochter des ersten Zeitreisenden fiel das nicht schwer, denn sie kannte eigentlich nur Menschen, die ihre Freunde waren. Ihre Eltern, Onkel Andreij, ihre Mitschüler. Eigentlich hatte sie keine Feinde, außer ein paar neidischen Zicken am College.
Irgendwann im Laufe des Gespräches begann Lena sich unruhig umzuschauen. Ihr wurde schlagartig klar, dass sie vermutlich seit Stunden hier saß und ihr Onkel vermutlich schon den halben polnischen Geheimdienst in Marsch gesetzt hatte, um sie zu finden. Sie suchte nach einer Wanduhr oder nach etwas, das verdammt noch mal wie eine aussah. So etwas schien es hier aber nicht zu geben. „Was ist? Stimmt etwas nicht?“, erkundigte sich Gedro besorgt. „Ich muss zurück, glaube ich. Mein Onkel sucht bestimmt schon nach mir. Wie lange bin ich denn schon hier?“ Jeff grinste und sagte in die Luft hinein, „Camp Tschao, Ankunftszeit und Aufenthaltsdauer von Mrs Lena Spiner angeben.“ Vor Lenas Augen tauchten Zahlen in der Luft auf. Gleichzeitig sagte eine weiche Stimme, die von überall zu kommen schien: „Mensch Lena Spiner hat die Station vor exakt 4 Stunden, 23 Minuten, 16 Sekunden betreten.“ Lena sprang auf „So lange? Das Abendessen! Hoffentlich schaffe ich das noch!“ Dann rannte sie zu der Stelle im Nebenraum, an der sie aufgetaucht war. Sita und Jeff folgten ihr. „Lena Spiner, warte noch eine Sekunde!“, rief Sita hastig, worauf das Mädchen tatsächlich stoppte und sich zu ihr umdrehte. „Komm bitte zurück, wann immer es dir möglich ist. Du bist vielleicht der Schlüssel zu diesem Rätsel und wir brauchen dich, um deinem Vater zu helfen.“ Lena grinste sie verschmitzt an. „Ihr braucht mich, um euch selbst zu helfen. Aber ich komme zurück, versprochen.“ Dann drehte sie sich um, machte einen Schritt und verschwand. Einfach so.
Unbekannte Zeit, Kern des Sterns Beta Gruis, zwischen den Dimensionen
Unterschiedliche Zeitblasen berühren einander nicht. Nur so konnte die Eigenzeit neben anderen Zeiten bestehen. Wobei andere Zeitblasen nicht die Regel waren. Wenn, beispielsweise durch kosmische Katastrophen, eine neue entstand, hatte das keinerlei Auswirkungen auf die Hauptzeit. Die parallelen Zeiten blieben nur solange stabil, wie dort irgendwelche physikalischen Aktivitäten stattfanden. Zeit ist ohne Aktivität nicht existent, weil nichts da ist, was sich mit der Zeit verändert. Eine inaktive Zeitblase bricht deshalb zusammen. Brent Spiners Parallelzeit konnte nicht zusammenbrechen, denn sie steckte voller Aktivität. Der Hauptzeit gegenüber war sie klein und jung, aber stabil, was ungewöhnlich war. Ungewöhnlich war auch der Zustand einiger Elementarteilchen, die von der immensen Gravitation des alten Riesensterns Beta Gruis zwischen Raum und Raumzeit festgehalten wurden. Diese Bosonen genannten Teilchen existierten in der Hauptzeit und in der Parallelzeit gleichermaßen. Diese Teilchen bildeten die Brücke zu Brent Spiner, denn er bestand in der Parallelzeit aus ihnen. Genau wie seine Kinder. Im Gegensatz zu Brent waren die temporal verschränkten Teilchen bei Lena und William in der DNA eingebettet. Die Geschwister stellten eine neue Art Mensch dar. Eine Art Mensch, für die Zeit einen Weg darstellte, auf dem man vorwärts und rückwärts gehen konnte. Anders ihr Vater. Er konnte nur teilweise die Zeit wechseln und nur dann, wenn die Bosonen im Kern von Beta Gruis künstlich aktiviert wurden. Lena aktivierte sie ganz natürlich, aus sich selbst heraus. Jede Aktivierung bildete eine winzige, von der Gravitation des Sterns stabil gehaltene Verbindung zwischen den Zeiten. Lena, die ihre Fähigkeit gerade entdeckte, schuf neue Tunnel von Zeit zu Zeit. Mikroskopische Ergeignisfetzen sickerten von einer Zeit in die andere.
Was man auf Camp Tschao schon lange befürchtete, begann in Beta Gruis Realität zu werden. Unmerklich und winzig nur – noch. Doch hatte für Gorl und seine Mitstreiter längst der Wettlauf gegen die Zeit begonnen, gegen zwei Zeiten, wenn man es genau nahm.
10.07.1956, Schloss Czartoryski, Polen
Andreij Tadicz hatte den Eindruck, als habe es seine Nichte heute besonders eilig. Sie war spät und außer Atem zum Abendessen gekommen, wirkte unkonzentriert und zappelig. „Was ist los, kleine Prinzessin? Keine Zeit mit deinem Onkel zu Abend zu essen?“ Lena sah irgendwie ertappt aus. „Doch sicher, ich habe nur ein tolles Buch von Dad mitbekommen, das ich unbedingt zu Ende lesen möchte.“ Tadicz nickte verständvoll und fragte „Pferderoman?“ Lena schüttelte den Kopf „Nein, Mrs. Marple von Agahta Christie. Ich muss unbedingt wissen, wie das weitergeht.“
Auf dem Flur ging sie geradewegs zu der Stelle, an der sich der Zugang zur Raumstation befand. Diesmal wartete sie bis jemand von den Leuten dort in ihre Richtung schaute. Dann machte sie den Schritt, der sie 217 Jahre in die Zukunft brachte.
Das Erschrecken, welsches sie beim Auftauchen auf Camp Tschao hervorrief hielt sich diesmal in Grenzen. Es gab auch keine Opfer, die medizinische Versorgung benötigten.
Jeff nahm sie zur Seite und reichte ihr einen blauen Drink. Gedro kam dazu, setzte sich und ließ eine ganze Reihe von Daten vor Lena in der Luft auftauchen, Lena erfuhr alles über die Expedition von Janita, Samoka und Gorl. Mit Lena bestand nun die Möglichkeit, eventuell mit den Verschollenen in Kontakt zu treten. Wenn sie fähig wäre, die Eigenzeit ihres Vaters zu lokalisieren und dorthin zu gelangen…. Gedro schnitt den Gedanken ab und wandte sich wieder an seinen sonderbaren Gast aus einer Welt, die es gar nicht geben sollte.
16.02.1999, Portsmouth
Der Tag durfte durchaus als typisch britisch gelten. Es war kalt, grau und der Nieselregen hatte bis zum frühen Nachmittag keine Pause eingelegt. Samoka, die gerade eine Runde durch die Camden Lane gejoggt war, um zu schauen, ob bei Brent und Kathleen Spiner alles hübsch in Ordnung war, stand frierend und nass bis auf die Haut an der Ampel. Sie sah auf die Uhr und stellte fest, dass sie nur noch eine halbe Stunde Zeit bis Schichtbeginn hatte. Durch den Verlust der Chronos fehlte die Möglichkeit Bargeld herzustellen. Deshalb mussten sie und ihre Gefährten durch Arbeit versuchen, an welches zu gelangen. Samoka Lee stand seither auf einer Tankstelle hinter der Kasse und diese Woche hatte sie Spätschicht. Gorl hatte sich als Programmierer bei Vickers Defense verdingt, wo auch Brent Spiner beschäftigt war. Janita gab den Kindern reicher Schnösel Nachhilfe in Mathe, Physik und Chemie. Alles in allem kam so monatlich eine Summe zusammen, mit der sich durchaus leben ließ. Samoka dachte im Moment aber gerade daran, wie sie vor Schichtbeginn noch zu einer heißen Dusche kam, denn sie fror erbärmlich. Die Ampel schaltete auf Grün und sie lief los. Die nassen Sachen machten jeden Schritt doppelt schwer und sie war heilfroh, als die Haustür in der Torrington Road hinter ihr ins Schloss fiel.
Gedro hatte gesagt, sie sollte es nur versuchen. Einfach nur schauen, ob sie die 90er Jahre und die Erde finden könnte. Mehr nicht. Das war nicht einfach, denn Lena sah viele Zeitbilder. Es gab darunter sehr deutliche und dann auch wieder eher verschwommene oder blasse Bilder. Lena spürte, bei jedem, ob es betretbar war oder in welche Zeit sie gerade hinein sah. Gedro hatte ihr Hologramme der Leute gezeigt, die sie finden sollte. Lena sah ein Zeitbild in dem sie spürte, dass sich diese Menschen dort befanden. Ohne weiter darüber nachzudenken durchschritt sie das Zeitbild. Die junge Frau war von ihrer Fähigkeit so fasziniert, dass sie ihren eigentlichen Auftrag, nämlich die Eigenzeit ihres Vaters nur zu lokalisieren, längst vergessen hatte. Die Aussicht einfach in seine Zeit gelangen zu können war zu verlockend, um lange über mögliche Risiken zu sinnieren. Lena Spiner fand sich in einer Küche wieder, die sehr britisch und genauso wirkte, wie sie es aus ihrer Zeit kannte. Lediglich einige Geräte sahen moderner aus und es gab fast überall Digitalanzeigen. Sonst wirkte es beinahe heimelig. Unerwartet und heftig wurde Lena bewusst, dass sie sich in einer fremden Wohnung befand. Was sie hier tat, kam praktisch einem Einbruch gleich. Und was, wenn sie hier nicht allein war.
Lena lauschte.
Das Haus war still. Niemand schien hier zu sein. Sie drehte sich um, und vergewisserte sich, dass ihr Rückkehrfenster nach Camp Tschao offen und stabil war. Ihr kam die Idee, zu versuchen, ihre Eigenzeit und Schloss Czartoryski zu lokalisieren. Das Zeitbild tauchte sofort und in absoluter Klarheit auf. Sie sah den Flur, auf dem ihr Onkel gerade mit einem der Hausmeister sprach. Sie konnte sogar hören, was besprochen wurde. Diese Verbindung war die stärkste, die sie bislang gesehen hatte. Ihre Beziehung zu der jeweiligen Zeit schien für die Stärke der Verbindung verantwortlich zu sein. Diese Erkenntnis empfand Lena als beruhigend und sie begann damit, die fremde Umgebung näher zu betrachten. Sie ging vorsichtig von Raum zu Raum. Das Haus war tatsächlich leer, nichts rührte sich. Im Flur, in der Nähe der Haustür, hing neben der Gardrobe eine Pinnwand mit Notizen und ein paar Fotos. Die Aufnahmen zeigten ihren Vater. Er sah ein wenig anders aus, jünger und irgendwie lässiger. Auf einem der Bilder war er mit einer Frau zu sehen. Lena betrachtete das Bild näher. Das war eindeutig ihr Vater, aber irgendwie auch wieder nicht. Die Frau sah nett und recht attraktiv aus, auch wenn sie deutlich älter war, als Lenas Mutter Alla. Lena fragte sich, welche der beiden Frauen ihr Vater wohl mehr lieben mochte. Das er ihre Mutter liebte, stand für Lena außer Frage. Die Frau in dieser Zeit würde er auch lieben. Ob er sie in der anderen Zeit sehr vermisste? Während Lena tief in Gedanken vor der Pinnwand stand, knackte das Schloß und die Haustür öffnete sich! Eine durchnässte Frau in Sportsachen stand in der Tür und erschrak genauso heftig wie Lena!
Samoka stand starr in der Tür. Vor der Pinnwand mit den Bildern der Spiners stand eine junge Frau. Die war ebenso erschrocken, wie Samoka und stand einfach da. „Ich denke, wir zwei sollten uns ein wenig unterhalten, oder?“, fragte sie die Einbrecherin mit dem Unterton einer Schlange, die bei unerwünschter Antwort sofort zubeisst. „Wer sind Sie und was tun sie hier?“ Das Mädchen fand keine Worte. Bösartig war sie keinesfalls. Eher absolut verlegen und sowas von ertappt. „Ich…ich, verzeihen Sie, ich wollte nicht, ich bin Lena, Lena Spiner, die Tochter von Brent Spiner. In der… in der anderen Zeit.“ Samoka senkte den Arm, der bestimmend in Richtung Küche zeigte. „Lena Spiner?“ Sie ging einen Schritt auf die Fremde zu und nickte. „Sie haben tatsächlich viel von ihrem Vater.“
Die Frau in der Haustür war zweifellos Samoka Lee. Lena erkannte sie von den Hologrammen auf Camp Tschao. Und auch, wenn sie durchnässt und ein wenig gehetzt wirkte, strahlte sie etwas aus, das keinen Widerspruch duldete. ‚Verdammt, verdammt, verdammt, du bist so unvorsichtig, blöde Kuh!’, dachte Lena, während sie stammelnd und mit gesenktem Kopf vor der Frau aus der Zukunft stand. Die schob sie vor sich her in die Küche, wies auf einen Stuhl und fragte „Sind Sie noch da, wenn ich mir die nassen Klamotten ausgezogen habe oder muss ich sie festbinden?“ Die Frage hatte einen unüberhörbar spöttischen Unterton, aber Lena zweifelte keine Sekunde daran, dass Samoka Lee sie tatsächlich an den Stuhl fesseln würde. Also nickte sie und versuchte ein Lächeln.
Samoka ging ins Bad und warf die nassen Sachen einfach in die Dusche. Dann ging sie nackt in die Küche zurück, drehte einen Stuhl mit der Lehne nach vorn und nahm breitbeinig vor Lena Platz. Das Mädchen aus den sittenstrengen Fünfzigern wich erschrocken zurück. Samoka musste lachen. Sie wurde schnell wieder ernst und griff nach ihrem Mobiltelefon, das auf dem Küchtisch lag. Sie wählte eine Nummer, warf ihr nasses Haar hinter das Ohr und wartete, bis sich jemand meldete. „Sean? Sami hier. Wollt nur sagen, dass ich heute nicht arbeiten kann. Nein, mir ist nicht gut. Was? Ach weißt du, leck mich! Aber das bringst du ja eh nicht.“ Damit beendete sie das Gespräch und legte das Telefon auf den Tisch zurück. „Sean, mein Boss. Hab gerade meine Schicht abgesagt, was dem schwulen Weichei gar nicht gepasst hat. Aber da muss er durch. Wir zwei Hübschen haben also viel Zeit. Dann erzähl mir mal was.“
Je mehr Lena erzählte, desto entspannter wurde ihr Gegenüber. Die Geschichte des Mädchens klang absolut unglaublich und fantastisch. Wenn Lena Spiner die Wahrheit sagte, dann saß hier in der Küche die Rettung für Samoka und ihre Gefährten. Samoka stand auf und forderte Lena auf, ihr zu zeigen, wo das Zeifenster war. „Du kannst es nicht sehen, aber ich kann es. Und ich kann einfach hindurchghen. Ich könnte dir was von Camp Tschao mitbringen. Was willst du haben?“ Samoka überlegte kurz. War das ein Trick? Würde Lena zurückkommen?
Nach allem, was die junge Zeitreisende erzählt hatte, würde sie das bestimmt tun. Was für eine abgefahrene Sache! Das Mädchen, das da vor ihr stand war aus dem Jahr 2175 von einer Lichtjahre entfernten Raustation hierher gekommen, stand jetzt im England des Jahres 1999 und musste in 2 Stunden im Jahr 1956 in einem Schloss in Polen aufstehen und zur Schule gehen!
„Also, was soll ich bringen?“
Samoka schreckte aus ihren Gedanken hoch und sah Lena an, die es für vollkommen selbstverständlich zu halten schien, dass sie gleich 176 Jahre in die Zukunft gehen würde. „In meiner Kabine müsste ein Schmuckstück in einem Wandfach liegen. Frag einfach Sita, sie weiß, welches ich meine. Es ist sehr alt und stammt vom Planeten Taa. Ich habe es bei unserem Abflug dort vergessen und vermisse es sehr. Und sag allen dort viele Grüße aus der Vergangenheit. Kannst du etwas mitnehmen?“ Das Mädchen nickte. Samoka ging an einen Schrank und holte einen kleinen Speicherkristall heraus, den sie der Zeitreisenden gab. „Das ist ein Speicherkristall mit allen Ereignissen seit unserer Ankunft. Und Lena, “ Samoka legte ihre Hand auf die Schulter des Mädchens und drückte sie so fest, dass es wehtat, „komm wieder, bitte. Du bist eine Hoffnung, die wir schon fast verloren glaubten.“ Das Mädchen nickte, nahm die Hand von ihrer Schulter, drehte sich um und verschwand.
02.04.2174, Raumstation Camp Tschao
Gedro hielt den Speicher in der Hand, den Lena ihm gerade gegeben hatte, als wenn er etwas unglaublich Wertvolles in der bekommen hätte und nicht einen einfachen Speicher. Brent Spiner’s Tochter war ein unerwartetes Geschenk. Und was für eines. Lena sprach währenddessen mit Sita, die eifrig nickte, wegging und mit Samokas Taa – Amulett zurückkam. Lena nahm es und verschwand ohne weitere Kommentare.
Als sie im nächsten Augenblick wieder in Portsmouth auftauchte, stand Samoka noch immer an derselben Stelle und versuchte irgendwie zu ertasten, wohin ihre seltsame Besucherin verschwunden war. Lena musste lachen, als sie die nackte Frau in der Luft herumtasten sah. Samoka erschrak zunächst, sah dann an sich herunter und lachte, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatte. Sie nahm Lena impulsiv in die Arme. Die drückte ihr etwas in die Hand: Das Taa – Amulett. Sie kam tatsächlich von Camp Tschao und die Expedition verfügte wieder über eine Verbindung nach Hause. Sie redeten noch eine Weile, bis Lena plötzlich auf ihre Armbanduhr sah und aufsprang „Oh, verdammter Mist! Ich muss in einer Stunde bei meinem Onkel am Frühstückstisch sitzen und einen wachen Eindruck machen. Mist verdammter, muss echt los!“ Sie gab Samoka einen Kuss auf die Wange und bevor die etwas sagen konnte, sprang sie auf und war mit zwei Schritten verschwunden.
Samoka saß da und fragte sich, wie sie das am Abend Janita und Gorl beibringen sollte. Es fiel ihr schwer, das Geschehene zu begreifen, obwohl sie es gerade selbst erlebt hatte. Sie sah das 20 Millionen Jahre alte Schmuckstück vom Ursprungsplaneten der Menschheit an, das schwer und wahrhaftig in ihrer Hand lag. Lena Spiner existierte tatsächlich, aber wie und wo existierte sie genau? Was würde mit ihr geschehen, wenn ihr Vater Brent nicht im Jahr 1935 auftauchte, was er ja effektiv längst war? Samoka hängte sich das Amulett um, ging ins Schlafzimmer und zog sich einen Bademantel an, weil ihr kalt geworden war.
11.07.1956, Schloss Czartoryski, Polen
Andreij Tadicz machte sich heute wirklich Sorgen um Lena. Sie saß blass und übernächtigt am Frühstückstisch und kaute lustlos auf ihrem Brot herum. Es schien, als ob die Tochter seines besten Freundes ganz woanders sei. Er nahm sich vor, nach der Schule ein ernstes Wort über ihr Verhältnis zu Agatha Christie und über lange Lesenächte mit ihr zu reden.
Portsmouth
Gorl kam nach Hause und fand zu seiner Überraschung Samoka im Wohnzimmer vor. „Hi, solltest du nicht dem Hobby des Proletariats frönen und bei der Spätschicht sein?“
Samoka stand auf, ließ den Bademantel fallen und fragte „Fällt dir was auf?“
Was sollte das denn jetzt? Er kam müde aus dem Büro und Samoka ging nicht zur Arbeit, nur weil sie mit ihm vögeln wollte? Gorl kannte sie zu gut, als dass er nicht ahnte, dass etwas ganz anderes hinter Samokas Auftritt steckte. Also betrachtete er ihren makellosen Körper genauer, zunächst ohne ein Ergebnis, außer das Samoka eben schön und makellos war. Es musste also etwas sein, dass mit ihrem Körper nichts zu tun hatte.
Das Amulett an ihrem Hals. Das war neu, oder? Es kam Gorl so verdammt bekannt vor, als hätte er es schon oft gesehen. Hatte er auch, aber nicht hier, sondern auf Camp Tschao.
Die Tür ging und Janita kam herein. Auch sie war durchnässt, stellte sich aber neben Gorl und beteiligte sich daran ihre Liebste zu begaffen. Schien irgendwie toll zu sein. Beiläufig sagte sie „Oh, du hast dein Taa-Amulett nachmachen lassen. Haben wir eigentlich Kohle für solchen Krempel?“ Samoka nahm das Schmuckstück ab und warf es ihrer Freundin zu. Die fing es auf und betrachte es näher. Dann schüttelte sie den Kopf und hielt es gegen das Licht. Die Grundplatte glitzerte in einem dunklen Blau. Das tat nur ein bestimmtes Gestein von der Ahnenwelt. „Das ist das Amulett. Du hast es also doch nicht vergessen. Wo hast du das Ding nach all den Jahren ausgegraben?“ Samoka lächelte ihr ganz berühmtes Lächeln „Ja, das ist das Amulett. Das ich übrigens tatsächlich auf Camp Tschao vergessen habe.“ Gorl nahm Janita das Schmuckstück aus der Hand und ließ es am Finger baumeln. „Könnte uns Madame Mimikry dann eventuell gütigst darlegen, wie ihr Geschmeide in unser bescheidenes Heim gelangt ist? Oder sollen wir jetzt Holmes und Dr. Watson für euer Zweideutigkeit spielen und nach einem scheißverregneten Arbeitstag lustig raten?“ Samoka ließ sich davon nicht wirklich beeindrucken. Sie schwebte mit ein paar seichten Schritten auf Janita und Gorl zu, strich ihm sanft mit der Hand unter dem Kinn entlang und wechselte dann mit ausgestreckte Zeigefinger zu Janitas Hals, setzte ihn dort auf die nasse Haut und fuhr an ihr hinunter, bis zwischen ihre Brüste, wo sie hin tippte, als ob dort die Antwort stand. „Es ist mir gebracht worden!“ Dann küsste sie zuerst Janita und dann Gorl, dass beiden die Luft wegblieb. „Jemand hat es von Camp Tschao geholt und hierher gebracht. Ihr werdet nicht glauben wer!“
„WER?“, fragten die beiden anderen laut und von Samokas Show deutlich genervt.
„Okay, okay, okay!“, Samoka beschloss die Sache aufzuklären und begann von Lena Spiner und deren Fähigkeiten zu erzählen.
12.07.1956, Berlin, Neue Reichskanzlei
Die Pläne, die Heisenberg und von Braun unterbreiteten übertrafen die höchsten Erwartungen der Führung des Reiches. Arthur Axmann, Heydrich, Eichmann und von Ribbentrop hätten sich nie träumen lassen, was sie hier sahen. Das Deutsche Reich würde den arroganten Schnöseln in London und Paris die Schmach von Warschau zurückzahlen. Nicht auf Heller und Pfennig, sondern mit der totalen Vernichtung. Washington, Moskau und selbst Sydney würden die deutsche Faust zu spüren bekommen. Seit dem Krieg in Polen wurde Deutschland von der Welt wie ein Aussätziger behandelt. Die Wirtschaft lahmte, weil niemand mit den Deutschen Handel trieb. Rohstoffe kosteten in Deutschland deutlich mehr, als in den Staaten der ETC, wodurch sich das Kernland Europas in einer permanenten Krise befand. Not allerdings macht erfinderisch. Und gerade die Deutschen waren besonders gut darin, Dinge zu erfinden. Von den Siegern unbemerkt, entwickelte sich das Nazireich technologisch an ihnen vorbei. Längst fuhren Autos in Deutschland mit Wasserstoff, statt Benzin zu verbrennen. Deutsche U-Boote durchpflügten mit Wasserstoffsuperoxid – Antrieb lautlos und unbemerkt die Weltmeere. Und just in diesem Moment verkündete von Braun die Einsatzbereitschaft von land- und seegestützten Raketen, die jeden Punkt der Welt erreichen konnten. Was Heisenberg bekannt gab, setzte dem Ganzen noch die Krone auf. Die Operation Ragnarök konnte beginnen.
18.02.1999, Portsmouth
Obwohl Gorl und Janita wussten und, hofften dass Samokas seltsamer Gast irgendwann auf dem Nichts auftauchen würde, fuhr ihnen ein gehöriger Schreck in die Glieder, als plötzlich jemand hinter ihnen fragte „Hallo, ist Samoka auch da?“ Gorl verschüttete seinen Tee, der heiss und präzise den Weg auf seine Hände fand. Janita stieß beim Aufspringen mit dem Knie an die Tischkante, was den Tisch glatt umwarf. Beide sahen zu Brüllen komisch aus, aber Lena hatte schnell gelernt, nach ihrem Auftauchen nicht mehr laut loszulachen. „Hallo Lena“, brummelte Gorl, während er missmutig nach einem Tuch suchte, um seine Hände abzuwischen. „Das ist ja wirklich eine tolle Nummer, die du da drauf hast.“, begrüßte Janita die Zeitreisende und massierte ihr schmerzenden Knie. Hier kam kein Medibot herangeschwebt. Lena zuckte die Schultern und machte eine bedauernde Geste. „Ich kann leider nicht anders auftauchen. Tut mir wirklich leid.“ Sie winkte verlegen und fügte hinzu „Hallo Janita, hallo Gorl, ich bin wieder da.“
Ragnarök
20.07.1956, Strausberg, Deutsches Reich
Albert Speer nahm von Ernst Stuhlinger einen Schlüssel entgegen. Speer hielt den Schlüssel in die Luft und drehte sich zu den versammelten Nazigrößen um, die für diesen Augenblick aus allen Teilen des Reiches in das neue Führerhauptquatier bei Strausberg gekommen waren. Es war still, obwohl mehr als 300 Menschen unter höchster Anspannung auf den Moment warteten, der das Deutsche Reich ein für allemal über die Welt erheben würde. Nachdem Speer den Schlüssel in die Runde gezeigt hatte, drehte er sich in Richtung des Saaleinganges und nahm Haltung an. Das war das Zeichen für das Musikkorps die Tannhäuser Overtüre von Richard Wagner anzustimmen. In dem düsteren, von zahlreichen Fackeln nur schwach erleuchteten Bunkersaal kroch gespenstische Stimmung einem jedem unter die Haut. Die Musik erreichte das erste Staccato, als Joachim von Ribbentrop den Saal betrat. 300 Arme flogen zum Hiltergruß nach oben, während der Naziführer langsam auf Speer zuschritt. Der hielt ihm seine ineinander verschränkten Hände entgegen, in denen der Schlüssel lag. Der Reichsführer nahm ihn, wandte sich mit militärisch exakter Geste nach links und ging langsam auf ein Podest zu, dessen Stufen er erklomm, um dann zur Elite des Reiches zu sprechen.
„….halte ich den Schlüssel in der Hand, der das Gesicht der Welt, wie wir sie kannten für immer verändern wird!“ Von Ribbentrop steckte den Schlüssel in einen Kasten aus schwarzem Metall, der neben ihm am Rednerpult angebracht war. „Von heute an wird sich das deutsche Volk für immer und alle Zeiten über das Gewürm erheben, welches diese Welt mit seiner Existenz besudelt!“ Die Stimme des Reichsführers wurde lauter als er rief:
„Fallen wird Warschau!“
Die Menge wiederholte laut: „WARSCHAU!“
„Fallen wird Paris!“ – „PARIS!“
„Fallen wird London!“ – „LONDON!“
„Fallen wird Moskau!“ – „MOSKAU!“
„Fallen wird Washington!“ – „WASHINGTON!“
„UND ERSTRAHLEN WIRD?“ – „BERLIN!“, brüllten 300 Kehlen heiser zurück.
Joachim von Ribbentrop drehte den Schlüssel. Es war plötzlich wieder vollkommen still. Einige atemlose Sekunden geschah nichts. Dann flammten an der Wand hinter dem Reichsführer ein Dutzend Fernsehschirme auf. Die Schwarzweissbilder zeigten grimmig dreinblickende Offiziere verschiedener Waffengattungen, die in strammer Haltung vor den Kameras standen. Das Podest mit dem Rednerpult und dem Reichsführer darauf, wurde zu den Bildschirmen umgeschwenkt. Mehrere Fernsehkameras zeichneten von Ribbentrop auf.
„Ich rufe Bunker Hocheifel!“ Ein massiger Heeresgeneral rührte sich auf einem der Fernsehschirme und seine Stimme krächzte über Lautsprecher: „Bunker Hocheifel hat Ragnarök Startbefehl erhalten und ist zum Abschuss bereit.“
Von Ribbentrop rief 10 weitere Bunker im Reichsgebiet, ein U-Boot vor Australien und eine Staffel Fernbomber über dem Westatlantik. Von überall her bekam er Klarmeldungen.
„Abschuss nach Plan Ragnarök durchführen!“, befahl der Reichsführer und heftete seinen Blick auf den ersten Monitor. Dort wechselte das Bild auf eine Außkamera. Zunächst war nur ein Hochwald mit einigen Sandsackbarrikaden erkennbar, bis sich eine Luke im Boden öffnete und Rauch aus der Öffnung schoss. Langsam schob sich die Spitze einer Rakete durch den Rauch. Als das Projektil höher stieg und schließlich aus dem Blickfeld der Kamera verschwand, rief die Menge „FÜR WARSCHAU!“
Diese Prozedur wiederholte sich bei jedem Start. Aus dem Bauch des U-Bootes erhoben sich drei Raketen, die auf Sydney, Melbourne und Perth zuhielten. Die Bomberbsatzungen klinkten ihre Last über Washington, New York, Boston, Norfolk, Philadelphia und Ottawa aus.
Das Ende der Welt nahm seinen Anfang.
20.07.1956, Schloss Czartoryski, Polen
Das Beben war so heftig, dass jahrhunderte alte Geschirrsammlungen aus den Schränken geschleudert wurden. Im Norden überstrahlte ein bleiches Licht die Sonne. Die Temperatur stieg schlagartig um 10°C an. Andreij Tadicz war klar, dass etwas geschehen sein musste, das verlangte Lena sofort in Sicherheit zu bringen. Er telefonierte, rannte zu seinem Wagen und raste in Richtung Lwòw davon. Nach ca. 10 Minuten Fahrt hörte er einen dumpfen Knall, der ihm die Überlkeit in den Magen trieb. ‚Infraschallwelle’, dachte er und zwang sich dazu, sich nicht zu übergeben, sondern weiter zu fahren. In Lwòw angekommen musste er sich vor der Universität durch eine Menge kämpfen, die nach Nordwesten starrte. Andreij drehte sich um und traute seinen Augen nicht. In Richtung Warschau stand eine riesige Halbkugel, die aus Feuer zu bestehen schien. Das Ding musste wohl an die 10 Kilometer hoch sein. Andreij rannte weiter. Er musste Lena finden. Er fand sie auf den Stufen vor dem Haupteingang. Sie hielt sich den Magen, vor ihr lag Erbrochenes. Der Knall musste Augenblicke vorher über die Stadt hinweg gefegt sein. „Onkel Andreij? Was geschieht hier gerade?“ Tadicz antwortete nicht, sondern riss dass verängstigte Mädchen mit sich in Richtung seines Wagens. „Wir müssen hier weg! Schnell, da lang!“ Sie drängten sich durch die Menge zum Auto und rasten in Richtung des Militätflugplatzes davon. Dort angekommen fanden sie die Basis in höchstem Alarmzustand vor. Als Mitglied der Regierung wurde Andreij Tadicz sofort eingelassen. Ein Leutnant in voller Kampfausrüstung kam mit einem Geländewagen und brachte Lena und den Minister zu einem Überschallflugzeug, das startbereit in einem Schutzbau stand. Andreij Tadicz nahm sein Patenkind noch einmal in den Arm und sagte unter Tränen „Lena, du musst zurück nach England. Keine Zeit für Fragen. Leb wohl, mein Kind.“ Bevor Lena etwas sagen konnte, wandte sich ihr Onkel ab und ging zurück zu dem Leutnant. Wie aus dem Nichts tauchten zwei Soldaten mit einer Fliegerkombination und einem Druckhelm neben ihr auf und halfen ihr beim anziehen. Einer stieg die Leiter zum Cockpit hinauf und streckte dem Mädchen seine Hand entgegen. Der Soldat zog sie hinauf, erklärte kurz, wie sie sitzen musste und gurtete Lena an. Der Pilot vor ihr zögerte keine Sekunde. Noch während sich die Glaskanzel schloss, startete er die Triebwerke. Die Maschine rollte an, bewegte sich schneller, bis die Startbahn auftauchte. Lena blieb keine Zeit, sich auf den Start einzustellen. Die Triebwerke des Jets brüllten auf, woraufhin die schlanke Maschine losjagte. Lena glaubte, dass ihr Magen endgültig zerdrückt, zerrissen oder sonst was wurde. Ihr erster Alarmstart entpuppte sich als pure Folter. Sie wurde ohnmächtig, als der Boden unter ihr wegfiel, während der Jet mit eingeschaltetem Nachbrenner fast senkrecht nach oben stieg.
20.07.1956, Strausberg, Deutsches Reich
Ragnarök war anglaufen. Es gab kein zurück, keine Notbremse und nichts, was noch zu tun wäre. Jeder der Anwesenden im Bunker zog seine Dienstwaffe, setzte sie an die Schläfe und drückte ab. Fast zeitgleich starben mehr als 300 Menschen. Zur Sicherheit ließ eine Automatik das Nervengas Tabun in den Bunker strömen. Wer nicht fanatisch den Freitod gewählt oder den Schläfenschuss überlebt hatte, den tötete jetzt das Gas. In den Bunkern, aus denen die Raketen mit Silizium-Sprengköpfen gestartet worden waren, verriegelten sich automatisch alle Ausgänge und Lüftungsschächte. Auch hier beendete Nervengas das Leben der Insassen. Eine Gnade, die dem Rest der Menscheit nicht zuteil wurde.
Joachim von Ribbentrop hatte das Ziel des Nationalsozialismus erreicht. Deutschland stand über der Welt, weil es die Welt vernichtete. Hitler hatte die Tragweite seiner eigenen Gedanken nie ganz erfasst. Der intellektuell weit fortgeschrittenere von Ribbentrop dachte viel weiter, als sein Vorgänger. Menschen waren ihm völlig egal und der Idee unterzuordnen. Nur die Idee war das Ziel, welches er umfassend erreichen musste. In den Anfangsjahren der nationalen Bewegung entwickelte von Ribbentrop einen quasireligiösen Ansatz. Für ihn war klar, dass die Herrschaft der arischen Rasse unter den Bedingungen, die auf der Welt herrschten, nicht zu realisieren war. Nur, wenn diese Welt vernichtet war, würde der Vernichter in der kommenden über die Vernichteten herrschen. Der eigene Tod war nur ein kleiner Schritt auf dem Weg zur absoluten Macht. Niemand hätte den Führer des Deutschen Reiches jemals für derart wahnsinnig gehalten. Bis heute jedenfalls nicht.
Die Welt hatte weggesehen. Die Nazis waren 1939 in Polen geschlagen worden. Gründlich sogar! Der von Brent Spiner bescherte technologische Vorsprung der ETC – Staaten würde die Deutschen schon in Schach halten. Und nach den Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg, wollte nach dem Polenkrieg kaum noch jemand auf der Welt etwas mit Deutschland zu tun haben.
Besser, man hätte Deutschland zugeschaut. Besser, man hätte die Demokratie, selbst mit Gewalt nach Deutschland gebracht, anstatt das Land in der Hand der Nazis und ihres dämonischen Irrsinns zu belassen.
Der Großdeutsche Rund- und Fernsehfunk strahlte seine letzte Sendung aus. Der Film verkündete in zehn Sprachen das Schicksal der Überlebenden von ~ Ragnarök – der Endsieg der arischen Rasse ~ lautete der Titel der letzten Sendung aus Berlin.
Als die Menschheit begriff, was die Endsiegfanatiker aus Berlin über die Welt gebracht hatten, brach das blanke Chaos aus.
Zur gleichen Zeit am Himmel über Polen
Lena öffnete die Augen. Nur langsam wollte sich ein klarer Blick einstellen. Sie erinnerte sich daran, dass sie in einem Flugzeug saß. Inzwischen flog die Maschine in der Waagerechten, was Lena die Möglichkeit gab, aus der Kanzel zu schauen. Der Ausblick konnte schlimmer nicht sein. Wo einmal Warschau gewesen war, stieg eine riesige, schwarzgraue Pilzwolke in den Himmel. Rund herum breitete sich ein Kreis aus Feuer aus, der rasch zu wachsen schien. Eine Flammenfront raste vom Ort der Katastrophe kreisformig davon. Innerhalb des Kreises schien die Erdkruste selbst zu brennen. Lena wendete den Blick ab. Die Flammen würden Schloss Czartoryski, Lublin und Lwòw innerhalb weniger Stunden erreichen. Ihr wurde klar, dass sie ihren Onkel vor ihrem Abflug zum letzten Mal gesehen hatte.
Und jetzt saß sie einsam in der Kanzel eines Flugzeuges, das hoch über der Katastrophe seine Bahn zog und konnte nicht einmal weinen.
19.02.1999, Portsmouth
An diesem Tag wartete man in Portsmouth vergeblich auf die Rückkehr von Lena Spiner. Janita hatte eine Liste mit Dingen zusammengestellt, die Lena von Camp Tschao holen sollte. Samoka und Gorl schlossen gerade eine Zusammenfassung der aktuellen Situation ab, die Lena mit in die Zukunft nehmen sollte. Nur, Lena Spiner tauchte nicht auf.
03.04.2175, Raumstation Camp Tschao
Auch bei Hinds veränderlichem Nebel wartete man darauf, dass Brent Spiners Tochter zurückkam. Auch hier tauchte das Mädchen nicht auf. Gedro und Jeff sahen sich gerade die Daten auf Samokas Speicherchip an. Im Moment lief Gorls Hologramm aufgeregt vor ihnen auf und ab und sprach über den Kampf mit Anta-kal-Tep und Nicolas McEwan. Sie erfuhren zum ersten Mal davon, dass ein zweites Zeitschiff existierte, das in die Vergangenheit aufgebrochen war. Diese Neuigkeiten waren schockierend und beängstigend zugleich. Die Frage, wie es zwei Leuten gelungen war, in Besitz des technischen und wissenschaftlichen Knowhows zum Bau eines bis dahin einmaligen Zeitschiffes zu gelangen, würde die Regierung des Sternenbundes sicher eine Weile beschäftigen.
Jeff Tschao-Zel erprobte ein Verfahren, mit dem anhand bestimmter Veränderungen in der Bosonenkonzentration zwischen der 4. und 5. Dimension feststellen ließ, ob Lena Spiner unterwegs war. Unbegreifliche quantenphysikalische Effekte sorgten für einen Bosonenpeak an verschiedenen Positionen zwischen Camp Tschao und der Erde, sobald das Mädchen ein Zeitfenster betrat. Sita Myhrre entwarf parallel dazu ein Psychogramm der Epochenspringerin, das eine bessere Einschätzung ihres Charakters und ihrer Handlungsweisen möglich machte. Heute allerdings tappten Sita und Jeff vollkommen blind herum, denn weder die Bosonen rührten sich, noch ließ sich Lena’s Fernbleiben erklären.
20.07.1956, Fliegerhorst Brandis, Deutsches Reich
Ein Suchradar bei Guben ortete eine hochfliegende Maschine, die aus dem polnischen in den deutschen Luftraum eingedrungen war. Die Ortung ging umgehend an die Luftleitzentrale in Königswusterhausen, von wo aus Zielradars angewiesen wurden, den Kurs des unbekannten Jets zu verfolgen. Beim Raketenjägergeschwader 511 in Brandis ging der Befehl zum Abfangen des Eindringlings ein. Nur ein Raketenjäger vom Typ Me-563 konnte schnell genug steigen, um einen Jet in einer Höhe von 18 Kilometern vom Himmel zu pflücken. Die Alarmrotte aus zwei Jägern raste zwei Minuten später über die Startbahn und stieg nach dem Abheben senkrecht in den Himmel. Die Piloten folgten den Anweisungen der Radarleitstelle, die sie zu einem Abfangpunkt in 19.000 Metern Höhe führten.
Lena war eingeschlafen und bekam von der näher kommenden Gefahr nichts mit. Der Pilot vor ihr dagegen schon, denn ein neuartiges Warngerät meldetete ihm die Ortung durch das deutsche Radar. Der erfahrene Flieger straffte sich und schaltete einen Wärmeorter ein. Ein kleiner Monitor, der in fahlem Grün leuchtete, zeigte den Luftraum unter dem Jet. Zwei weiße Punkte, die gerade noch die Größe eines Stecknadelkopfes hatten, wurden langsam größer. Sie kamen sehr schnell auf Abfangkurs herein und waren für Raketen zu groß, für Flugzeuge aber zu klein. Mit wenigen Handgriffen machte Lena’s Pilot die Abwehrbewaffnung scharf und peilte die heranrasenden Ziele an.
In den Cockpits der beiden Raketenjäger liefen weitere Radarmeldungen ein. Die Flugzeugführer ahnten nicht, dass ihr Anflug bereits registriert worden war. Sie aktivierten ihre eigenen Suchradare zur Erfassung des über ihnen fliegenden Gegners. Die deutschen Piloten waren ebenfalls Profis und verfuhren so, wie sie es gelernt hatten.
Die Radarsignale wurden in der polnischen Maschine aufgefangen. Ein Rechner bestimmte Richtung, Geschwindigkeit und Entfernung und speiste die Daten in zwei Obrońca – Raketen ein, die sich daraufhin vom Rumpf der polnischen Überschallmaschine lösten. Mehr geschah zunächst nicht. Die Raketen zündeten ihre Triebwerke nicht, sondern entfalteten jeweils einen Fallschirm, der sie inetwa auf Abwurfhöhe und an der Abwurfposition hielt. Die Obrońcas lauschten auf das statische Wispern der deutschen Suchradars, das schon sehr deutlich war. Sobald es eine bestimmte Schwelle überschritt, sprengten die polnischen Raketen ihre Fallschirme ab und zündeten die Triebwerke.
Die Jagd hatte begonnen!
Die deutschen Me-563 stiegen den Abwehrraketen mit Höchstgeschwindigkeit entgegen. Die Obrońcas schwenkten exakt auf die Radarsignale der Jäger ein. Zwei Explosionen erhellten den Himmel über der Magdeburger Börde. Die deutchen Piloten hatten keine Chance, die frontal einschlagenden Raketen zu überleben. In Brandis und Königswusterhausen wurden die Abschüsse gemeldet. Ein paar Minuten später starten zwei weitere Raketenjäger von Wunstorf bei Hannover aus, um dem mysteriösen Eindringling zu stellen. Auch die zweite Abfangrotte tauchte auf dem Infrarotorter auf und fiel den anderen beiden Abwehrraketen zum Opfer.
Jetzt wurden die Deutschen wirklich sauer. Von Wittmund und Jever und Rheine aus starteten drei komplette Staffeln aus je 9 Jägern. Der Pilot des polnischen Jets warf die Zusatztanks ab, die fast leer waren und Geschwindigkeit kosteten. Der Nachbrenner beschleunigte den Sokót Jäger auf Mach 2 und eingespritztes Hydrazin ließ das modernste Flugzeug der polnischen Luftwaffe auf 21 Kilometer Höhe steigen. Der Pilot zog sein letztes Register. Zwei Kapseln wurden ausgestoßen die in verschiedenen Richtungen davon flogen. Der erste Behälter zündete einen Feststoffbooster und überholte den Jet in einem flachen Abwärtswinkel. Etwa einen Kilometer vor der Nase des Sokót zerplatzte die Kapsel und setzte Störfolien aus Aluminium frei. Die deutschen Radare flackerten für etwa 20 Sekunden. Dann tauchte das Echo des fremden Flugzeuges wieder auf. Der zweite Täuschkörper war ebenfalls zerfallen und entfaltete eine Scheibe aus Aluminiumfolie die ein Signal von der Größe des Jägers erzeugte. Das echte Flugzeug war mehrere Kilometer entfernt und raste auf die niederländische Grenze zu. Die Deutschen schossen den Täuschkörper in den nächsten Minuten ab. Da kein Suchradar in Richtung des Sokót aktiv war, erreichte die Maschine niederländischen Luftraum.
Die deutsche Luftwaffe interessierten Lufträume absolut nicht mehr. Sie befand sich im totalen Kriegszustand gegen den Rest der Welt, solange dieser noch existierte. Sechs Raketenjäger, die noch über genügend Treibstoff verfügten hefteten sich an ihren Gegner. Die Me-563 war dem Sokót an Geschwindigkeit klar überlegen so dass die polnische Maschine schnell eingeholt wurde. Lena war inzwischen aufgewacht und fragte „Wo sind wir?“ Der Pilot sah sie im Rückspiegel an und erwiderte „Über Holland und wahrscheinlich gleich tot, wenn’s schlecht läuft. Die Deutschen sind im Anflug auf uns.“ Lena versuchte nach hinten zu schauen, als ihr wieder eine Faust in die Eingeweide fuhr. Das Flugzeug ging ohne Vorwarnung in den Sturzflug übergegangen und raste dem Erdboden entgegen. Lena wurde schwarz vor Augen. Ihr wurde erneut übel, aber der Sturz schien kein Ende zu nehmen. Erst 2000 Meter über dem Boden fing der Pilot den Sokót ab und hielt in flachem Bogen weiter auf die flache Ebene zu. Lena glaubte sterben zu müssen, tatsächlich aber konnten die Raketenjäger ihrer Gegner dieses Manöver nicht nachfliegen. Dafür waren sie zu schnell. Die deutschen Piloten konnten einen Sturzflug in Bodenähe nicht mehr abfangen. Der Sokót unterflog währenddessen auf 200 Meter Höhe das Radar und entging so der weiteren Verfolgung.
20.07.1956, Lublin, Polen
Zwei Silizumatome verschmelzen zu einem Nickelatom. Allerdings benötigt dieser Vorgang, die Energie eines Riesensterns, um in Gang gesetzt zu werden. Oder die Erfindungsgabe des Menschen. Deutschen Wissenschaftlern gelang es Anfang der fünfziger Jahre, hauchfeine Laserdioden zu entwickeln, die energetisch vollkommen unempfindlich waren. Das war der Schlüssel zur Nutzung der Kernspaltung und der Wasserstoffverschmelzung als Zünder einer Silizium – Bombe. Niemand auf der Welt ahnte, was im gemiedenen Herzen Europas vor sich ging. 1955 kam es zu ersten Sprengversuchen in der Tiefe des Pazifiks. Alle Experimente wurden von U-Booten aus durchgeführt und überwacht. Parallel zu der Waffe, deren Sprengkratft den Gigatonnenberich knapp verfehlte, entwickelten Wernher von Braun und seine Leute in Peenemünde zweistufige Trägerraketen. Die Explosion einer Siliziumbombe war absolut fatal, weil sie eine Kettenreaktion bei benachbarten Atomen des gleichen Elements auslöste. Bei den Versuchen in der Tiefsee war das nicht so gefährlich, da es im Salzwasser nur eine sehr begrenzte Menge Silizium gab. Man musste nur dem Meeresboden fernbleiben. Und dem Erdboden, denn beide bestehen zu mehr als einem Viertel aus diesem Element.
Der Einschlag der Silizium-Bombe in Warschau pulverisierte die Stadt bis in eine Tiefe von 100 Meter innerhalb einer Millisekunde. Nichts und niemand kam mit dem Leben davon, eine unbeschreibliche Katastrophe! Weit unbeschreiblicher waren die Folgen der Explosion. Alle Siliziumatome im Wirkungsbereich der Bombe begannen zu Nickel zu verschmelzen. Unter Millionen Grad Hitze brannten Steine und Sand! Ein Feuerring raste von dem Glutloch, welches gerade noch Warschau gewesen war ringförmig davon. Nichts konnte es stoppen. Verschmelzende Si – Atome regten weitere Kerne an. Mit einer Geschwindigkeit von mehr als 100 Kilometern pro Stunde fraß sich der Brand an der Erdoberfläche entlang und vernichtete alles, was auf seinem Weg lag. Städte und Dörfer loderten kurz auf und verschwanden in einem Meer aus flüssigem Nickel. Flüsse verdampften und Wälder verglühten. Die Menschen vor der Flammenfront bekamen davon schon nichts mehr mit, denn die Kernfusion des Siliziums setzte eine ultraharte Gammastrahlung frei, die der tödlichen Hitze vorauseilte und praktisch alles Lebendige in wenigen Sekunden umbrachte. Als die Flammenfront Schloss Czartoryski verbrannte, war dort schon längst niemand mehr am Leben.
20.07.1956, britischer Luftraum nordöstlich von London
Der Anblick überforderte die Sinne. Sich abzuwenden war genauso unmöglich, wie das Gesehene zu verarbeiten. Wo einmal London mit seinen Millionen von Einwohnern lag, war nichts als Glut und Feuer. Die Themse war als heller Dampfstreifen zu erkennen. Der Fluss verkochte unter der Hitze des atomaren Brandes. Lena begriff immer noch nicht, was sie dort sah und weshalb Warschau und London nur noch brennende Löcher in der Erdkruste waren. Sie hörte den Piloten in hartem Englisch auf einen Funkspruch antworten. Offenbar wurde er von der britischen Luftraumüberwachung angerufen und aufgefordert, sich zu identifizieren. Er fragte mehrfach nach, bevor er das Gespräch beendete. „Das waren die Deutschen!“, hörte Lena seine Stimme in ihren Kopfhörern, „Sie haben überall auf der Welt nukleare Bomben von ungeheurer Zerstörungskraft gezündet. Wo die Dinger explodiert sind, hat die Erdkruste zu brennen begonnen und niemand kann das aufhalten.“ Lena starrte in die Augen, die sie im Rückspiegel über dem Pilotensitz erkennen konnte. „Was bedeutet das? Warum tun die so etwas?“
Der Mann vor ihr zuckte sichtbar die Schultern und erwiderte den Blick im Spiegel. „Warum jemand so etwas tut, kann wohl niemand erklären, der nicht komplett wahnsinnig ist. Was das bedeutet ist aber sehr einfach: Die Welt verbrennt gerade.“ Der Flieger wandte den Blick ab und ging wieder seinem Handwerk nach. Lena Spiner blieb mit den knappen Auskünften über das Ende der Zivilisation allein. Die Epochenspringerin stellte für sich fest, dass sie der vermutliche einzige Mensch war, der diesem Inferno entkommen konnte. Sie musste einfach nur ein Zeitfenster durchschreiten und wäre in Sicherheit. Aber alle, die sie auf dieser Welt kannte, würden sterben oder waren bereits tot. Ihr Bruder William fiel ihr ein. Auch er besaß die Fähigkeit zwischen Zeiten hin und her springen zu können, hatte sie aber noch nicht bewusst entdeckt. Der Junge hielt die Bilder, die er manchmal sah für Tagträume, vermochte ihren wahren Sinn aber nicht zu entschlüsseln. Wenn William noch lebte, konnte sie mit ihm zu Gedro auf die Raumstation entkommen. Aber was würde aus ihren Eltern werden? Ihr Vater lebte noch einmal im Jahr 1999, auch wenn er dort nicht ihr Vater war. Aber ihre Mutter? Die Freunde von der Schule? „Wohin fliegen wir überhaupt?“, fragte sie den Piloten, der sich von London entfernte, so schnell er konnte. „Wir landen gleich in Exeter. Von dort aus wird dich jemand nach Newton Abbot bringen. Und dann…“ Er brach den Satz ab, weil er nicht wusste, was dann geschehen würde. Dem altgedienten Soldaten wurde bewusst, dass dies sein letzter Flug sein würde. Zurück konnte er nicht, denn Polen dürfte zu einem guten Teil verbrannt und verstrahlt sein. England ebenfalls. Die Augen die Lena im Rückspiegel anblickten sahen plötzlich müde aus. „Weißt du Mädchen, das ist alles eine verdammte Scheiße. Ich bringe dich jedenfalls nach Hause, da stirbt es sich vielleicht leichter.“
Der restliche Flug dauerte noch knapp 15 Minuten, dann setzte das polnische Flugzeug auf der Landebahn des Exeter International Airport auf. Der Jet wurde zu einem Hangar auf dem militärischen Teil geleitet und stoppte dort. Lena nahm den Helm ab und löste die Sitzgurte. Über ihr schwang die Glaskanzel des Cockpits nach oben, ein Augenblick, den Lena herbeigesehnt hatte, seit sie über Ostpolen nur mühsam die Übelkeit zurückhalten konnte. Endlich frische Luft! Sie nahm einen tiefen Atemzug und erschrak. Die Luft in ihren Lungen war heiss und auf der Zunge klebte Staub. Ein scharfer Wind traf auf die Haut und schien tausend Nadeln in ihr Gesicht zu bohren. Das hier war definitiv nicht das England, das sie kannte. Der Pilot schob sie auf den Hangar zu und drückte das Rolltor auf. Drinnen war es kühler. Lena hatte zum ersten Mal Gelegenheit, den Piloten näher zu betrachten. Der Mann mochte so um die 35 Jahre alt sein und trug die Rangabzeichen eines Obersts auf seiner Fliegerkombi. „Wie heissen Sie eigentlich?“, fragte Lena, der augefallen war, dass sie seit ihrem Abflug aus Lwòw kaum einen Satz miteinander gewechselt hatten. „Ich bin Oberst Oleg Galinski, der Testpilot von PZL und ein Vertrauter deines Onkels.“ Lena wusste nicht, wie sie sich diesem Mann, den sie nicht kannte, der in den letzten Stunden sein Leben für sie aufs Spiel gesetzt hatte, gegenüber verhalten sollte. Sie nahm ihn spontan in den Arm, nicht so sehr, weil sie diesem scheinbar emotionslosen Krieger dankbar war, sondern vielmehr, weil sie in diesen Sekunden irgendwie Halt brauchte. Nur für den Augenblick, nur bis die Reise weiter ging.
Ein Landrover der RAF brachte Lena und Oleg nach Newton Abbot. Die Fahrt verlief größtenteils auf Nebenstraßen, teilweise aber auch durch das angrenzende Gelände. Die Hauptstraßen waren völlig verstopft. Der herannahende Feuersturm hatte auch hier eine Massenpanik ausgelöst. Immer wenn die Hauptstraße A38 in ihr Blickfeld geriet, beobachtete Lena erschütternde Szenen. Menschen kämpften um jeden Zentimeter und jede Sekunde, die sie von der Feuerwand wegbrachte. Die gesamte Straße bestand aus ineindaner verkeilten Fahrzeugen, durch die sich ein Strom von Leuten Richtung Nordwesten bewegte. Der einsame Landrover, der in entgegengesetzter Richtung unterwegs war, erweckte allenfalls Verwunderung bei den Flüchtenden. Im Osten war bereits das unheilvolle Glühen des Kernbrandes zu erkennen. Die heisse, stauberfüllte Luft ließ als Vorbotin erahnen, was sich da von London aus näherte. Die Konturen von Newton Abbot schälten sich aus dem Staub und wurden größer. Lena dirigierte den Fahrer zu einem abgelegenen Anwesen, das der Familie Spiner gehörte. Fast schien alles wie immer, aber heute wirkte das Gebäude gespenstisch. Nomalerweise war immer irgendetwas los. Entweder ihre Mutter kümmerte sich um die Blumen im Vorgarten oder William tobte mit seinen Freunden. Heute nicht, nur eine erdrückende Stille schlug den Ankömmlingen entgegen. Der Fahrer stoppte den Wagen und Lena sprang heraus. Sie lief sie Stufen zum Eingang hoch und fand die Haustür offen. Vorsichtig schob sie die Tür auf und rief „Mom? Dad? Ich bin wieder da! William?“ Sie lauschte bis ihr jüngerer Bruder ihr entgegenkam. Er rannte auf sie zu und umklammerte Lenas Taille so fest er konnte. Nach ein paar Begrüßungsworten wurde der Junge plötzlich ernst. „Daddy ist im Büro. Er ist sehr traurig.“ William zeigt in die Richtung, als ob Lena nicht wüsste, wo sich das Büro ihres Vaters befand. „Und Mom?“, fragte sie zögernd. William begann zu weinen und klammerte sich wieder an ihr fest. „Mom ist vorgestern nach London gefahren, um sich dort unsere neuen Büroräume anzusehen. Sie ist nicht wiedergekommen.“ Lena schluckte, atmete tief durch und sah für einen Augenblick ins Nirgendwo.
Niemand würde je wieder aus London zurückkommen.
Sie schickte William nach draußen, um Oberst Galinski und den Fahrer des Landrovers hereinzuholen. Dann ging sie in das Büro ihres Vaters. Als sie eintrat, stand ihr Vater auf und rang sich ein Lächeln ab. „Lena, mein Sonnenschein“, sagte er müde, versuchte dabei aber möglichst augeglichen zu wirken, was der Szene etwas Groteskes verlieh, „du hast es tatsächlich geschafft! Es ist so schön, dich noch einmal zu sehen.“
Brent Spiner setzte sich wieder und Lena fragte nervös „Vater, was geht hier vor? Warum brennt die ganze Welt?“ Brent sah seine Tochter mit klaren Augen an, als er schlicht und deutlich sagte „Meinetwegen. Die Welt verbrennt, weil ich den Brand vor 21 Jahren entfacht habe. Jetzt fällt alles auf mich zurück. Und auf alle anderen Menschen auch.“ Er erwartete, dass seine Tochter überrascht sein würde, aber sie nickte nur. „Ich kenne deine Geschichte. Ich kenne auch Gedro, Gorl, Samoka und die anderen.“ Jetzt war es an Brent, überrascht zu sein. „Woher….?“, setzte er an, aber Lena schnitt ihm das Wort ab „Ich war bei ihnen. Ich kann zwischen den Zeiten hin und her springen. Und ich bin mir sicher, dass William das auch kann. Wir könnten uns in die Zukunft retten. Und dich können wir mit Gedros Hilfe nach Camp Tschao bringen!“ Brent schüttelte den Kopf „Nein Lena, ich muss mit dieser Epoche untergehen, damit sie aufhört zu existieren. Ich habe sie ausgelöst und ich muss sie auch beenden. Wenn ich nicht mit dieser Zeit untergehe, kann niemand sagen, wie sich dass auf die Realzeit auswirken wird“
Lena wusste, was ihr Vater ihr sagen wollte. Sie wusste auch, dass er Recht hatte. Deshalb nickte sie nur und murmelte leise „Ja, ich verstehe.“ In ihr schrie alles, dass es so nicht kommen dürfte. Innerhalb der letzten 24 Stunden hatte sie ihren Onkel und ihre Mutter verloren. Ihr Vater war zwar noch da, aber eigentlich sprach sie schon mit einem Toten. Sie wollte rauslaufen und einfach nur weinen. Stattdessen nickte sie wieder. „Ja, das muss wohl so sein. Ich wünschte, ich könnte das alles wirklich verstehen. Ich gehe jetzt mit William nach Camp Tschao. Ich wünsche dir viel Glück.“ Brent kam auf sie zu und nahm seine Tochter noch einmal in den Arm. „Dir auch viel Glück, Kleines. Aber jetzt musst du gehen.“ Lena löste sich aus der Umarmung und verließ das Büro, ohne sich nocht einmal umzudrehen. Sie ging in die Lounge, wo William seine beiden Gäste mit Tee versorgt hatte. Manchmal war er schon ganz schön groß, der Kleine. Sie nahm ihre verbliebene Kraft zusammen und lächelte. Dann gab sie Oleg Galinski die Hand. „Danke Oberst, Sie waren….sind ein Mensch, den ich nie vergessen werde.“ Der Fliegeroberst sagte nichts, sah sie nur an und nickte ihr kurz zu. Auch von dem Fahrer verabschiedete sie sich. Dann nahm sie Williams Hand und ging ein Stück vom Tisch weg. Es war deutlich wärmer geworden. Auch der Wind nahm immer mehr zu. Die Feuerfront rückte näher. „Du siehst doch manchmal Bilder, nicht wahr?“, fragte sie. Der Kleine bejahte das. Lena konzentrierte sich kurz, bis sich das Bild von Camp Tschao vor ihr aufbaute. Jeff saß im Labor. Offensichtlich berechnete er etwas, denn um ihn herum schwebten viele Zahlen und Diagramm. „Siehst du den Mann in den Zahlen, William?“ Wieder nickte ihr Bruder. „Dann geh mit mir durch das Bild.“
Oleg Galinski sah William und Lena Spiner einfach verschwinden. Der Fahrer sprang verblüfft auf. Galinski dagegen lächelte und sagte mehr zu sich selbst „Ich wusste, dass ich das Mädchen nicht umsonst hergebracht habe.“
30 Minuten später war er tot. Verstrahlt, wie der Fahrer neben ihm und Brent Spiner, der sich in den letzten Minuten zu ihnen gesellt hatte.
20.07.1956, Strausberg, Deutsches Reich
Bevor Deutschland von allen Armeen, die es erreichen konnten angegriffen wurde, löste die automatische Anlage im Führerhauptquatier eine zweite Welle von Raketen aus. Rom, Madrid, Athen, Belgrad, Ankara, Tunis, Marakesch, Nairobi und Dakkar gingen unter. Etwa zeitgleich ereichten Marschflugkörper, die mit der ersten Welle aufgestiegen waren Teheran, Dehli, Kalkutta, und Novosibisrk. Überall auf der Welt breiteten sich Feuerkreise aus, in deren Mitte Millionen von Menschen bereits ihr Ende gefunden hatten, während an den Rändern immer neue Menschen, Tiere und Pflanzen ausgelöscht wurden. Alle Versuche den Glutsturm zu stoppen, erwiesen sich als nutzlos und gefährlich. Wer noch konnte, flüchtete auf Inseln. Die Hoffnung, dass die Ozeane den nuklearen Brand löschen würden, machte weltweit die Runde. Bei der Massenflucht auf Schiffe und Inseln spielten sich Szenen nie gekannter Brutalität und Rücksichtslosigkeit ab. Panik regierte den Planeten. Wo der Siliziumbrand die Küsten erreichte, zeigte sich sehr schnell, dass Meere kein Hindernis darstellten. Das Feuer fraß sich am Kontinentalschelf hinunter, während das Wasser darüber verdampfte. Gigantische Wolkentürme und nie gekannte Stürme waren die Folge. Diejenigen, die sich auf einer Insel in Sicherheit wähnten, wurden von Tsunamis hinwegespült, von Blitzen erschlagen oder unter umstürzenden Bäumen und Gebäuden begraben.
Das Schicksal der allermeisten Menschen verlor sich im Feuer. Niemand konnte eine Erinnerung vor der atomaren Glut, die sich immer weiter ausdehnte, retten.
Zwischenzeitlich
Er starb nicht, denn er war nicht Teil dieser Welt und dieser Zeit. Als die radioaktive Strahlung der Silizium - Bombe Brent Spiners körperliches Leben auslöschte, ging er wieder auf eine Reise. Hatte er eben noch die Hitze und das Kribbeln der Radioaktivität auf der Haut gespürt, befand er sich im nächsten Augenblick in einem schwarzen Nichts. So ganz schwarz war es aber gar nicht. Lichtpunkte unterschiedlicher Größe waren da. Es wurden mehr, wenn man genauer hinsah. Wenn Brent nicht klar gewesen wäre, dass das nicht sein konnte, hätte er angenommen, im Weltraum zu schweben. Das war natürlich Unsinn, schließlich war er tot! Andererseits dachten Tote wohl kaum über ihren Aufenthaltsort nach. Irgendwie hatte er sich das anders vorgestellt, dramatischer, mit mehr Pathos. Stattdessen segelte er jetzt zwischen Lichtpunkten herum. Irgendwo mussten die beiden anderen aus dem Haus sein.Auch sie dürften kaum überlebt haben. Weder der Fahrer des Landrovers, noch der polnische Pilot waren irgendwo zu sehen. Brent rief nach ihnen, seine Stimme erzeugte aber keinen hörbaren Ton. Langsam wurde ihm bewusst, dass er allein war. Er sah die Lichtpunkte wieder an. Es schien sich tatsächlich um Sterne zu handeln. Seine Bewegung beschleunigte sich. Brent versuchte in die Richtung zu schauen, in der vorne sein musste. Dort war ein grosser Lichtpunkt und auf den bewegte er sich zu.
04.04.2175, Raumstation Camp Tschao
Trotz ständiger Änderungen in der Herleitung brachte die Formel zur Berechnung des Bosonenpeaks keine praktischen Ergebnisse. Lena Spiner blieb verwunden und schien auch nicht im Zeitgefüge unterwegs zu sein. Jeff versuchte noch einmal Parameter, die er gestern schon einmal angesetzt hatte. Angestrengt starrte er auf das holgrafische Diagramm, das vor ihm in der Luft schwebte. Auf ein Ergebnis hoffte er auch bei diesem Versuch nicht. Umso überraschter war er, dass aus dem Flächendiagramm plötzlich eine Säule erwuchs. Nein, eigentlich waren es zwei Säulen, die dicht beieinander lagen. „Unsinn“, brabbelte Jeff, „das würde ja heißen, dass zwei Leute springen.“ Er wollte gerade wieder andere Werte verwenden, als hinter ihm jemand „Hi Jeff!“ sagte. Der Astrophysiker stockte mitten in der Bewegung. Jedesmal, wenn Lena unverhofft auftauchte, bekam er einen mächtigen Schreck und diesmal hatte sie sich auch nicht an die Vereinbarung gehalten, erst dann zu springen, wenn derjenige auf der anderen Seite in ihre Richtung sah. Sie war einfach hinter seinem Rücken aufgetaucht. Jeff fuhr herum und wollte, um ihr gehörig die Leviten zu lesen. Lena war nicht allein gekommen und sah verheerend aus. Jahre älter, blass mit grauen Augen, die tief in den Höhlen lagen. Der Junge neben ihr war nicht viel besser dran.
„Hallo Lena und hallo William, wenn ich mich nicht irre. Was ist geschehen? Ihr seht mitgenommen aus.“ Jeff winkte seine Gäste in den Briefingraum, wo man sich setzen und reden konnte. Lena blickte stumpf in seine Richtung. Ihre Stimme klang rau, müde und tonlos. „Die Welt ist gerade untergegangen und alle sind tot. Das ist passiert!“ Sie schlurfte an Jeff vorbei in den Nebenraum und zog ihren Bruder dabei hinter sich her. Zwei Medibots schwebten heran, um die offenbar erkrankten Neuankömmlinge zu untersuchen. William wich verängstigt zurück, aber seine Schwester beruhigte ihn. Eine Minute später verschwanden die Roboter wieder. Jeff sah sich kurz die Befunde seiner Besucher an und erschrak. Die Messungen der Medibots zeigten, dass die Geschwister an schweren Verstrahlungen litten. Das stellte im 22 Jahrhundert kein Problem mehr dar. Die Behandlung von Strahlenschäden galt im Zeitalter der intergalaktischen Raumfahrt als Bagatelle. Viel schlimmer erschien Jeff die Information, dass Lena und William sind in einem schweren Schockzustand befanden. Die Roboter hatte starke Schlaf- und Kreislaufmittel verabreicht. Beide schiefen bereits, als Jeff von seiner Lektüre aufblickte.
Zeit unbekannt, Riesenstern Beta Gruis
Brent hatte die Lichtpunkte inzwischen tatsächlich als Sterne und Galaxien identifiziert. Wenn er sich die Zeit für eine genauere Betrachtung nahm, konnte er die eine oder andere Konstellation erkennen. Also war auch der Punkt auf den er sich zubewegte ein Stern. Das war alles sehr seltsam. Er konnte klar denken und sehen. Er nahm seinen Körper wahr, fühlte seine Hände und schien zu atmen; alles Dinge, die unter den gegebenen Umständen völlig unmöglich waren. Versuchte Lena vielleicht doch, ihn in die Zukunft zu holen? Das wäre ein fataler Irrtum. Oder befand er sich auf dem Weg nach Hause? Zurück in seine Zeit? Die ganze Situation passte nicht. Der Stern, den Brent unfreiwillig ansteuerte, war zwischenzeitlich zur Größe eines Fußballs angewachsen. Irgendwie hatte Brent diesen Stern schon einmal gesehen. Er konnte nicht sagen, wann oder bei welcher Gelegenheit. Trotzdem war er sicher, schon einmal dort gewesen zu sein. Der Stern wuchs weiter an, bis seine Oberfläche den gesamten Himmel einnahm. Hier mussten irrsinnige Temperaturen herrschen, aber Brent spürte davon nichts. Er drang in den die Chronosspähre ein, fand sich von Gasfackeln und Plasmawirbeln umfangen und nahm das teilnahmslos zur Kenntnis. Brent Spiner tauchte in das Meer aus glühendem Heliumgas an der Oberfläche ein. Eine Weile lang schwamm er in den Plasmaströmen in der Konvektionszone, die den Kern umgab. Sein Ziel war der Kern der Riesensonne. Dort würde etwas geschehen.
06.04.2175, Raumstation Camp Tschao
Lena und William wachten nach vierzig Stunden Schlaf wieder auf. Sita saß an ihrem Bett und kümmerte sich um die beiden. Es schien ihnen körperlich besser zu gehen, aber Sita bemerkte an den Gesichtern, dass irgendetwas Grauenhaftes geschehen sein musste. Sie sagte nichts, sondern reichte ein Tablett mit Frühstück darauf an ihre jungen Gäste weiter. Lena fiel plötzlich auf, wie hungrig sie war. Auch William griff sofort zu. Das Essen weckte die Lebensgeister wieder und gab den Flüchtlingen ein Stückchen Geborgenheit. „Danke“, brummelte Lena kauend vor sich hin, „das hat mir echt gefehlt. Wenn ich dir erzähle, was wir erlebt haben, glaubst du es nicht!“ William, der ebenfalls wieder zu Kräften kam, sah sich um und zupfte Lena am Ärmel. „Wo sind wir denn hier? Ist das hier Metaluna 4?“ Sita verstand die zweite Frage des Jungen nicht, aber Lena musste plötzlich lachen. „Nein Will, das hier ist Camp Tschao. Das ist eine Station im Weltraum und die Leute hier sind unsere Freunde.“ William sah einem der schwebenden Medibots hinterher und gab sich überraschend schnell mit der Antwort seiner Schwester zufrieden. „Wenigstens sind die Roboter viel cooler. Sind Mom und Dad auch hier?“ Lena wurde plötzlich ernst. Wie sollte sie dem Kleinen erklären, das seine Eltern verbrannt und verdampft waren und nie mehr wieder kommen würden? William nahm die Antwort vorweg, als er sah, dass Lena mühsam um Beherrschung kämpfte. „Sie sind beide tot, nicht wahr?“ Seine Schwester nickte nur, dann konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sita nahm das Mädchen in den Arm und versuchte sie zu beruhigen. „Was ist euch nur geschehen?“, fragte sie, während sie Lena festhielt. Die löste sich aus der Umarmung und begann mit tränenerstickter Stimme zu erzählen.
29.07.1956, irgendwo im Pazifischen Becken
Die letzen Feuer des Weltenbrandes trafen aufeinander. Der ehemals blaue Planet lag in stumpfem Grau da. Nur dort, wo noch Silizium vorhanden war, brach helle Glut durch das Grau. Der Himmel hing in düsterem Fastschwarz über der toten Oberfläche, denn was an Wasser nicht ins All verdampft war, hing fett in schwer in der Kohlendioxid-gesättigten Atmosphäre. Wo und wann der letzte Mensch dem nuklearen Untergang zum Opfer fiel, konnte niemand mehr sagen. Auch alles andere Leben, das noch vor wenigen Tagen die Erde bevölkerte, war verschwunden. Stattdessen bedeckte eine harte, löcherige Nickelkruste die Oberfläche des Planeten. Der Wahnsinn, der für wenige Tage über die Vernunft triumphierte, verbrannte sich am Ende selbst.
06.04.2175, Raumstation Camp Tschao
Sita hörte ruhig und konzentriert zu, während Lena und ihr Bruder über die Ereignisse der vergangenen Tage berichteten. Was sie hörte, klang streckenweise vollkommen unglaubwürdig, aber der Zustand, in dem die beiden hier angekommen und die Strahlenerkrankungen zeigten, dass die Erzählungen stimmten. Nachdem Lena fertig war, nahm sich Jeff ihrer an und führte sie und ihren durch die Station. Sita begab sich umgehend zu Gedro. Gemeinsam mit ihm und einigen weiteren Wissenschaftlern sah sie sich noch einmal die Aufzeichnung des gerade geführten Gespräches an. Nach kurzer Diskussion war klar, dass Gorl unverzüglich informiert werden musste. Zwar mochte Brent Spiner in der Vergangenheit ums Leben gekommen sein, aber seine Spuren existierten zwischen den Zeiten weiter. Niemand vermochte vorher zu sagen, was das für die Vorgänge im Jahr 1999 bedeuten könnte.
Die Henri Poincare brachte Lena und William nach Trombur, wo sie einige Tage ausspannen und über ihre Zukunft nachdenken sollten. Sita blieb bei ihnen und freute sich, endlich wieder festen Boden unter den Füßen und freien Himmel über dem Kopf zu haben. Sie reiste mit den Kindern nach Kelamnapa. Für William und Lena erfüllte sich eine ganze Reihe von Träumen auf einmal. Für sie zeigte sich das 22. Jahrhundert als Wunderwelt, was sie von der Trauer ein wenig ablenkte.
Nach zwei Wochen fühlte sich Lena in der Lage, die Verbindung zu Gorl wieder aufzunehmen.
23.04.1999, Portsmouth
Lena tauchte wieder mal völlig unverhofft auf. Sie hatte als Zeitbild das Wohnzimmer in der Torrington Street vor Augen und sprang dorthin. Niemand war da, aber aus dem oberen Geschoss drangen Geräusche, die der anglikanisch erzogenenen Camebridge Absolventin eine gewisse Röte ins Gesicht trieb. Die Epochenspringerin beschloss, sich solange vor den Fernseher zu setzen, bis die dort oben mit ihren Verrichtungen fertig waren. Sie nahm auf der Couch Platz, schaltete den Fernseher aber nicht ein, sondern lauschte auf die Geräusche von oben. Dort schien man mächtig Spaß zu haben. Die Epochenspringerin beschloss nach Camp Tschao zurückzuspringen, um eine peinliche Situation zu vermeiden. Peinlich eher für sie, denn den Leuten aus der Zunkunft war in sexueller Hinsicht gar nichts mehr peinlich. Sie wollte gerade aufstehen, als Gorl splitterfasernackt die Treppe herunterkam. Als er sie sah sagte er einfach „Hi Lena, das ist ja super, dass du zurück bist. Erzähl, wo hast du solange gesteckt?“ Lena versuchte ihn nicht anzusehen, als sie antwortete. Ganz bestimmt würde sie dahin gucken, wohin man nun mal nicht guckt. Leider verfügten die Tromburianer über keinerlei Schamgefühl, so das Gorl sich einfach auf den Stuhl gegenüber setzte, ohne sich zu bedecken. Kurz darauf kamen Janita und Samoka, ebenfalls ohne jegliche Bekleidung ins Wohnzimmer. Es gab ein großes Hallo, aber Lena schien sich nicht recht wohl zu fühlen. „Stimmt was nicht?“ Janita sah ihren Gast fragend an. Lena wirkte bei genauerem Hinsehen viel ernster, als bei ihren vergangenen Besuchen. „Ich fände es einfach höflicher, wenn ihr irgendwas an hättet.“ Die Antwort kam in einem genervten Unterton. Überhaupt war das eine andere Lena Spiner. Also trabten die Angsprochenen davon und kehrten wenig später in mehr oder weniger große modische Fehltritte gehüllt zurück.
Eine Stunde später konnte jeder nachvollziehen, weshalb Lena so verändert wirkte. Was sie durchgemacht hatte, ging über alle Vorstellungen hinaus. Vor allem Gorl schien tief betroffen zu sein, war er doch der Auslöser für die grausigen Ereignisse. Trotzdem versuchte er, das Gehörte möglichst sachlich zu bewerten und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Er stellte Lena eine Reihe von Fragen nach dem Verbleib ihres Vaters. Brent Spiner gehörte materiell betrachtet nicht in die untergegangene Epoche. Tatsächlich war er auch gar nicht wirklich dort, sondern eine quantenphysikalische Kopie von ihm, was für die Menschen, denen er begegnete keinen Unterschied machte. Der Tod der Kopie bedeutete aber nicht das Ende der Existenz Brent Spiners. Gorl wusste im Augenblick noch nicht, wo sich Spiner befand oder in welcher Form er existieren mochte, aber tot war er nicht. Er teilte seine Gedanken mit, worauf zwischen Janita, Samoka und Gorl eine Diskussion stattfand, von der Lena nicht das Geringste verstand. Irgendwann zeichnete Samoka ein paar Anweisungen auf und gab Lena den Speicherkristall. „Bring das bitte zu Jeff. Er soll die Messungen durchführen und dich mit den Ergebnissen möglichst schnell wieder zu uns schicken. Es wäre gut, wenn er uns seine Einschätzungen mitteilen würde, damit wir hier nichts Falsches anstellen.“ Samoka strich ihr über das Haar und fügte hinzu „Und danke, dass du nach allem, was du durchgemacht hast wieder zu uns gekommen bist. Das bedeutet sehr viel für uns.“
Jeff sah sich die Aufzeichnung aus der Vergangenheit immer wieder an. Wenn die Vermutungen aus Portsmouth richtig sein sollten, müsste Brent Spiner noch irgendwie existieren. Was aber geschah mit ihm, wenn der echte Brent nicht in fünf Monaten in das Jahr 1935 zurückgeschleudert wurde? Die Frage erwies sich als ungeheuer kniffelig, denn es gab keinerlei Präzedenzfälle dazu.
Gorl plagte sich mit einem ganz anderen Problem herum. Wenn die ganze Sache hier abgeschlossen war, mussten sie wieder in ihre Zeit zurück. Ihr eigenes Raumschiff, das zum so einem Flug fähig gewesen wäre, war unrettbar in einer nicht mehr existenten Parallelzeit gefangen. Das zweite Schiff dieser Art lag, durch einen unbekannten Code gesichert, vor der Isle of Wight auf dem Meeresboden. Ein anderes Transportmittel musste her. Aber wie? Wie kam man in einer Zeit, in der Menschen mit chemisch angetrieben Konservendosen potentielle Selbstmordkandidaten in niedrige Erdorbits schickte, an ein überlichschnelles Raumschiff?
In 14 Monaten startete von Deutschland aus das erste Raumschiff mit Mandelbrotantrieb zum Mars. Das Datum und die Geschichte kannte jeder Mensch auf den 83 bewohnten Planeten. Gorl war ein direkter Nachfahre der Pilotin des ersten Marsfluges der Erdenmenschen. Auch Janitas und Samokas Urahnen waren damals mit dabei. Gorl dachte einen Augenblick daran, so lange mit der Rückkehr zu warten und die Mars Discovery zu stehlen, um damit den Rückflug anzutreten. Die Idee machte ihm auf einen Schlag die einfache aber zwingende Logik von temporären Spielereien klar. Klaute er dass Schiff, mit dem die interstellare Raumfahrt eingeleitet wurde, würden er, Janita, Samoka, die Raumstation und der gesamte Sternenbund niemals existieren. Die Mars Discovery zu stehlen bedeutete, die eigene Zukunft zu verhindern. ‚Was für ein Irrsinn!’, dachte er, ‚und wir stecken mittendrin.’
Trotzdem brachte ihn die schlechte Idee auf eine gute Idee. Ein kleines Raumschiff, das von einem Mandelbrotgenerator angetrieben wurde, müsste sich im England des Jahres 1999 durchaus bauen lassen. Das Gerät musste nur einen Flug absolvieren und seine Insassen für drei Tage am Leben erhalten. Das sollte gehen. Wenn Lena auf Camp Tschao Kontruktionspläne und Materiallisten erstellen ließ und in die Vergangenheit zurück brachte, ließ sich sicher etwas daraus machen.
Janita kam herein und riss Gorl aus seinen Gedanken. Bevor sie an das Rückkehrschiff denken konnten, stand das eigentliche Ziel dieser Reise noch vor ihnen. Dummerweise war aber seit heute absolut nicht mehr klar, was das Ziel war. Sollten sie verhindern, dass Brent Spiner durch ein fehlerhaftes Hyperfunksignal aus der Zukunft in die Zeit zurück geschleudert wurde oder musste genau das geschehen, damit der Brent Spiner, der sich bereits in der Vergangenheit befunden hatte nicht irgendwo als Doppelgänger des Brent Spiner auftauchte, der jetzt in der Gegenwart lebte?
Das ganze Gedankengebilde besaß zu viele Unwägbarkeiten und bestand fast ausschließlich aus Annahmen. Gorl wurde einmal mehr bewusst, dass die Schuhe in denen er steckte zwei Nummern zu groß für ihn waren.
Zeit unbekannt, Riesenstern Beta Gruis
Brent Spiner bewegte sich scheinbar langsam durch den Kern der sterbenden Sonne. Er konnte „sehen“, was geschah, spürte aber nichts. Und das, obwohl er sich an einem Ort der Extreme befand. Druck und Hitze erzeugten ein waberndes Plasma, das zugleich flüssig und fest zu schien. In einiger Entfernung erkannte Brent eine Stelle, die sich von der brodelnden Masse dadurch unterschied, dass es dort ruhig war. Es schien, als ob sich dort eine Art Loch befand; ein Hohlraum im Kern des Sterns. Brent bewegte sich langsam darauf zu. Um die Stelle herum lagen weitere Löcher unregelmäßig verteilt, die viel kleiner als Brents Zielort waren. Als Brent näher kam, fiel ihm auf, dass der große Hohlraum völlig schwarz war, während die kleineren ihre Farbe wechselten. Wenn er ganz genau hinsah, schienen in den kleineren Löchern Filme zu laufen. Ein intrastellarer Fernseher? Das Merkwürdige daran war, dass ihm die Bilder sehr bekannt vorkamen. Da waren die komischen Zukunftsvögel in ihrer Raumstation, daneben ein Panzergefecht vor Danzig, darunter die Camden Lane in Portsmouth und weitere Ereignisse aus verschiedenen Epochen.
Warum liefen im millionen Grad heißen Kern einer Sonne Filme aus seinem Leben ab?
Brent kam näher und erkannte immer neue Details. Irgendwann vernahm er Geräusche. Stimmen, Abschüsse von Kanonen, das Brummen von Automotoren. Je nachdem, wohin er schaute, konnte er die Klangkulisse dazu deutlich hören. Allmählich bekam er ein Gefühl für die Größe der Gebilde. Das große, leere Loch vor ihm schätzte er auf 200 Meter im Durchmesser. Die kleineren Objekte erschienen in Originalgröße. Was er sah, waren auch keine Filme, sondern es waren unterschiedliche Realitäten. Aus der Nähe wirkte alles absolut plastisch und real. Brent sah Ereignisse aus den unterschiedlichen Epochen, die er während seiner Reise besucht hatte.
Das hier war ein Tor!
Sollte er von hier aus wieder nach Hause kommen? Fand seine Reise hier und jetzt ein Ende? Brent versuchte mit verzweifelten Bewegungen das Fenster nach Portsmouth zu erreichen, aber was er auch tat, übte keinerlei Einfluss auf seinen Weg aus. Er steuerte weiterhin auf die leere Stelle zu. Dort angekommen hörte jede Fortbewegung auf. Von hier aus konnte er die anderen Epochen ganz aus der Nähe sehen. Er sah Kathleen, hörte sie reden. Sie sprach mit jemandem außerhalb des Bildes. Brent erinnerte sich an das Gespräch, denn sie sprach mit ihm. Das musste irgendwann im April 1999 gewesen sein, nachdem er beschlossen hatte, einen anderen Job zu suchen. Kathleen hatte sich so sehr gefreut. An dem Abend waren sie noch in den Pub gegangen, um bei einem Pint Lager und einem Chilled Wine eine neue Zunkunft irgendwo in Cornwall oder Wales zu basteln. Das alles war so lang her, Oder war es noch gar nicht geschehen? Doch, war es, vor mehr als 21 Jahren. Aber waren diese Jahre auch wirklich vergangen? Wann war überhaupt jetzt?
Brent konnte nur warten. Es gab ja genug zu sehen. Irgendwann öffnete sich ein neues Tor. Er sah, eine Wohnung, die er noch nicht kannte. Auf einer Couch in einem typisch britisch eigerichteten Wohnzimmer saß Samoka Lee, die schönste Giftspritze, die ihm je begegnet war. Aber was tat die am falschen Ort und in der falschen Zeit? Plötzlich sah Brent von der anderen Seite seines Standortes jemanden kommen und in dem neuen Tor verschwinden. Er war völlig perplex. Seine Tochter Lena war gerade an ihm vorbei gegangen. Jetzt stand sie vor dieser Zukunftsschnecke auf der Couch und sprach mit ihr. Brent rief den Namen seiner Tochter. Er schrie so laut er konnte. Niemand nahm Notiz davon.
20.05.2175, Raumstation Camp Tschao
Jeff und Sita fanden den Entwurf für das Rückkehrschiff sehr gelungen. Es war einfach zu bauen und die Komponenten, die im Jahr 1999 nicht verfügbar waren, hatte das Team auf Camp Tschao so weit verkleinert, dass Lena das ganze Zeug in drei bis vier Sprüngen nach Portsmouth bringen konnte. Um die einfache Kapsel bis in den relativistischen Geschwindkeitsbereich hinein zu beschleunigen, bedurfte es nur drei kleiner Mandelbrotgeneratoren. Ein Vierter musste für das Bordenergienetz und ein fünfter für Gedros Spielerei mit. Der Kosmohistoriker wollte die einmalige Chance nutzen, eine Sonde im Jahr 1999 zu platzieren, die im Juni 2002 gemeinsam mit der Mars Discovery die Erde verlassen sollte, um die ersten Menschen auf ihrem Flug zum Roten Planeten heimlich zu begleiten. Anschließend sollte das Gerät die Aufnahmen und Messungen in die Zukunft zurückbringen. Das wäre auch im 22. Jahrhundert eine wissenschaftliche Sensation, denn mit der Mars Discovery begann die Geschichte der intergalaktischen Menschheit.
Lena sprang in den nächsten Tagen mehrmals zwischen 1999 und 2176 hin und her, um die Ausrüstung nach Portsmouth zu schaffen. Bei ihrem letzten Sprung nahm sie ihren Bruder William mit, der seine Fähigkeiten als Zeitspringer zu trainieren begann. Beide ahnten nicht, dass sie bei jedem Sprung ihrem Vater begegneten.
Auf Camp Tschao bestand noch immer keine Einigkeit darüber, was mit Brent Spiner geschehen sollte. Alle Risikoanalysen liefen für alle Theorien mangels Fakten ins Leere. Niemand konnte voraussagen, was am 17. September des Jahres 1999 in Portsmouth geschehen würde, wenn Brent Spiner von dem fehlgeleiteten Hyperfunksignal getroffen wurde oder nicht. Was sowohl den Wissenschaftlern auf der Station, als auch denen in Portsmouth besonders zu schaffen machte, war die Tatsache, dass keine Möglichkeit bestand, an zusätzliche Daten zu gelangen. Alles Messbare war bereits gemessen, alles Auswertbare zum x-ten Male ausgewertet. Die ganze Sache hing an einem toten Punkt. Und das mit einer vollkommen offenen Antwort!
Zeit unbekannt, Riesenstern Beta Gruis
Brent Spiner bekam allmählich ein Gefühl für Zeitabläufe. Anhand der Fenster in verschiedene Epochen konnte er ziemlich gut abschätzen, wann dort Tag oder Nacht war. Anhand der Vorgänge in Portsmouth konnte er auch den Monat und das Jahr in seiner Realzeit recht gut abschätzen. Zuhause musste es Mitte Mai 1999 sein. Brent war inzwischen zu der Einsicht gelangt, dass irgendwann in den nächsten Tagen etwas Einschneidendes passieren würde. Er war in dem Stern gelandet, bevor er aus seiner Realzeit gerissen und im Jahr 1935 gelandet war. Vermutlich war das Signal, dass ihn getroffen noch auf dem Weg hierher. So wie Brent die Sache einschätzte, befand er sich genau an der Stelle, an der Beta Gruis beim ersten Mal von dem Signal aus der Zukunft getroffen wurde. Woher sollte sonst das Loch in dem er sich befand entstanden sein? Brent überlegte, was geschehen würde, wenn seine Annahme zutraf und das Signal ihn hier noch einmal erwischte.
Da das Denken neben dem Schauen seine einzige Beschäftigung darstellte, ging er immer neue Varianten durch. Richtig zufrieden war er mit keiner davon, was damit zusammen hing, dass er seinen eigenen Zustand nicht verstand. Wie und in welcher Form existierte er hier? Warum konnte er im Kern eines riesigen Gasballes bei irrsinnigen Druck- und Temperaturwerten existieren. Warum spürte er nichts, hatte nie Hunger oder Durst und wurde auch nicht müde? Warum verspürte er keine Angst? Brent unterbrach seine Gedanken für einen Moment, weil Lena gerade wieder an ihm vorbei sprang. Dieses Mal in Richtung Zukunft auf die Raumstation. Er konzentrierte sich darauf, etwas von dem Gespräch mitzubekommen, das sie dort mit einem Mann führte, den er als Gedro in Erinnerung hatte. Anscheinend hatten weder die Typen in ihrem Blecheimer, noch die in Portsmouth irgendeine Idee, was sie tun sollten.
16.05.1999, Portsmouth
Gorl war von Jeffs Versuch ein Rückkehrschiff zu konstruieren, dass sich hier ohne großen Aufwand bauen ließ überhaupt nicht begeistert. So einfach, wie die sich das auf Camp Tschao vorstellten funktionierte die Nummer nicht. Jeff ging beispielsweise davon aus, dass eine Reihe von Werkstoffen hier problemlos verfügbar wäre. Titan – Plasto - Chrom oder Magnesium- Carbon-Borat beispielsweise. Auch Nickel – Superlegierungen setzte Jeff selbstverständlich voraus. Gorl musste den Entwurf ändern und schauen, ob es mit anderen Werkstoffen funktionieren konnte.
Samoka und Janita befassten sich derweil gründlich mit der Frage, was mit der Brent Spiner – Kopie aus dem Jahr 1956 geschehen sein könnte. In der Vergangenheit bestand immer die Möglichkeit verschränkte Elementarteilchen, die zwischen der Erde und Camp Tschao im Weltraum verteilt waren und von Brent Spiner stammten anzumessen und ihn darüber sogar auf die Raumstation zu holen. Diese Verbindung hörte jetzt bei dem Stern Beta Gruis auf. Bis dorthin ließ sich die Spur der Elementarteilchen des Engländers verfolgen, weiter aber nicht mehr. Wo also mochte Spiner stecken? Da seine Zwillingsbosonen nicht mehr aktiv waren, war er entweder tot im Sinne von quantenphysikalisch ausgelöscht oder er befand sich an einem Ort, der die Verschränkung der Teilchen überwand.
„So einen Ort gibt es nicht!“
Samoka war sich da ziemlich sicher. Kein Ort des Universums konnte eine derart extreme Physik aufweisen. Ein schwarzes Loch vielleicht, ein Neutronenstern.
„Oder der Kern eines aktiven Sterns“, warf Janita leise ein. Sie sah ihre Partnerin einen langen Augenblick lang an, bis es klingelte. Samoka sprang von ihrem Stuhl hoch, um Gorl zu holen. Noch im Laufen rief sie „Gorl, beweg dein Gelehrtenpopöchen mal von den Bauplänen weg und trab hier an. Wir wissen, wo Brent Spiner steckt!“
In der Küche hörten sie einen Stuhl poltern und ein Glas unter klagendem Klirren auf dem Fußboden zerspringen. Gorl schoss aus der Küchentür, durch die Samoka im selben Moment und genauso schnell in die Küche wollte. Janita hörte noch einen Knall, Poltern, Schmerzensschreie und dann nichts mehr. Als sie die Küche erreichte saßen zwei elendig dreinblickende Gestalten auf dem Boden und hielten sich die Köpfe. Janita blickte auf beide hinab und sagte trocken „Sie wollte dir nur mitteilen, dass Spiner im Kern von Beta Gruis stecken muss. Wusste gar nicht, dass das so heftig ausfallen kann. Soll ich irgendwas für euch tun? Eiswürfel, Wundverband, Koordinationstraining?“
Samoka kam ächzend auf die Beine, musste sich aber sofort auf Janita stützen, um das Gleichgewicht nicht gleich wieder zu verlieren. Gorl blieb auf dem Boden sitzen und stierte unbewegt auf die Fliesen. „Wenn Spiner in dem Stern sitzt, dann können wir ihn nach Camp Tschao holen und zwar vollständig. Die Materiedichte und, den Druck und die Temperatur im Kern von Beta Gruis liegen weit außerhalb dessen, was wir als Physik bezeichnen würden. Das bedeutet, dass Spiners Quantenteilchen zurzeit ein maximales Energieniveau haben müssen. Diesen Umstand müssen wir nutzen und ihn über die Hyperfunkanlage auf der Station aus dem Stern holen.“ Gorl hörte auf zu sprechen, sah aus glasigen Augen seine Freundinnen an, lächelte unglaublich blöde und kippte zur Seite. Janita vermutete, dass ihre Liebsten sich bei dem Zusammenprall zumindest leichte Gehirnerschütterungen zugezogen hatte, denn auch Samoka schwankte verdächtig in ihren Armen.
Nachdem Janita ihren Havaristen einen Platz im Bett und eine Reihe von Schmerz- und Beruhigungsmitteln verpasst hatte, setzte sie sich ins Wohnzimmer und wartete darauf, dass Lena und William auftauchten. Währenddessen suchte sie im Internet nach einem brauchbaren Bauplatz für das Rückkehrschiff. Sie suchte nach einer leerstehenden Scheune oder Werkstatt, die möglichst außerhalb von Portsmouth lag und nicht zu viele, neugierige Augen in der Nähe beherbergte. Sie fand eine leerstehende Farm in der Nähe von East Meon, etwa 20 Meilen nördlich der Stadt. Ihr schwante Böses, als sie las, dass sich hinter dem Angebot das Büro eines Maklers in Horndean verbarg. Ihr letztes Erlebnis mit einem Immobilienmakler war ihr noch lebhaft in Erinnerung. Es würde eh an ihr hängen bleiben, weil sie ja schließlich „Erfahrung“ im Kauf von Häusern hatte. Lena und William knallten, wie gewohnt aus dem Nichts in Janitas Überlegungen. Janita setzte die beiden ins Bild, auch was den Vater der Kinder betraf. Dabei vergaß sie natürlich nicht, gründlich zu erläutern, wie es zu der Idee, Brent Spiner nach Camp Tschao zu holen, gekommen war und welche Opfer das gefordert hatte. Lena war elektrisiert von dem Gedanken, dass ihr Vater noch lebte. Sie wollte sofort zurück nach Camp Tschao, um Jeff sofort über die Neuigkeiten zu informieren. Sie war enttäuscht, als Janita ihr sagte, dass Gorl ihr genaue Anweisungen darüber geben musste, wie genau man Brent Spiner zurückholen konnte. Leider lag die Informationsquelle bewusstlos im Bett.
Brent's Reise (2)
Zeit unbekannt, Riesenstern Beta Gruis
Ein neues Fenster zog Brents Aufmerksamkeit auf sich. Was er sah, musste schon älteren Datums sein. Er sah einen Hafen, in dem ziemlich buntes Treiben herrschte. Eine Reihe Briggs lag an den Piers und dümpelte dort vor sich hin. Daneben lag ein Kriegsschiff. Brent schätzte, dass es sich aufgrund der zwei Geschützreihen um eine Fregatte handelte. Er versuchte anhand der Rumpfform der Fregatte auf die Zeit zu schließen, in die er blickte. Für ein typisches Linienschiff aus dem 18. Jahrhundert erschien ihm der Rumpf zu schlank, für einen Clipper, wie sie ab etwa 1840 gebaut wurden, war das Schff zu klobig. Deshalb schätzte er, dass er auf einen Hafen in der Zeit zwischen 1800 und 1830 blickte. Aber in welchen? Der Hafen war voller Menschen, die einen infernalischen Lärm verursachten. Trotzdem meinte Brent immer wieder einzeln Worte in Englisch identifizieren zu können. Ihm fiel ein, dass er ja nur auf die Flagge der Fregatte schauen musste, um das Land zu identifizieren. Die führte den Union Jack, wie alle anderen Schiffe übrigens auch. England also! Brent konzentrierte sich auf die Gebäude. Da waren Lagerhäuser, Kaschemmen und eines, dass er sehr gut kannte, das South Sea Castle Light, der Leuchtturm von Portsmouth!
Warum gab es ein Tor in seine Heimatstadt, aber um 170 Jahre in die Vergangenheit versetzt? Was sollte das nun wieder bedeuten? Womit gab es einen Zusammenhang? Das neue Tor hatte irgendeinen Sinn, seine Enstehung irgendeine Ursache.
170 Jahre? Was dauerte 170 Jahre?
Brent begann zu lachen. Diese ganze Geschichte war so abgefahren, dass er sie niemals locker im Pub würde erzählen können. Jeder würde ihn für völlig bescheuert und vermutlich sogar latent gefährlich halten. Wer so einen Unsinn erzählte, musste irgendwie gemeingefährlich sein. Brent stellte sich vor, wie er diese Sache seinem völlig fantasielosen Boß Jake beim Bier erzählte. Er konnte Jakes dummes Gesicht direkt vor sich sehen.
Einfach saukomisch!
Was die 170 Jahre allerdings auch nicht erklärte. Vielleicht dachte Brent ja auch in eine völlig falsche Richtung. Er brauchte etwas, das mit seiner Geschichte zusammen hing und 170 Jahre dauerte, etwas das 170 Jahre lang war. ‚Länge’, dachte Brent, ‚Länge kann auch eine Strecke sein. Und im Weltraum eine Entfernung!’ Das war der Punkt! Irgendwas, das 170 Jahre Zeit brauchte, um Portsmouth zu erreichen, hatte sich auf den Weg gemacht. Und dieses Irgendwas konnte nichts anderes sein, als das verhunzte Funksignal aus der Zukunft. Brent stellte sich darauf ein, dass sehr bald etwas geschehen würde.
02.06.2175, Raumstation Camp Tschao
Sita und Jeff beendeten gerade den siebten Versuch, Btrent Spiner zu lokalisieren und auf die Station zu holen. Sie schafften es nicht den Engländer zu erfassen und eine stabile Hyperwelle aufzuschalten. Gorls Denkmodell schien einen fundamentalen Denkfehler zu enthalten. Allerdings fand niemand heraus, was nicht stimmte. Beinahe schien es, als ob etwas die Verbindung zwischen Brent Spiner und Camp Tschao blockierte.
Zeit unbekannt, Fünfte Dimension, ca. 2 Lichtsekunden vor Beta Gruis
Ein Hyperfunksignal traf mit hoher Sendeenergie auf eine Stelle im zeitlosen Grau des Überraums, die nicht so beschaffen war, wie sie es sein sollte. An der gleichen Position war ein anderes Signal von der brutalen Schwerkraft des Sterns, der aus dem Einsteinuniversum heraus den Raum formte, aus der fünften Dimension gerissen worden. Das hatte ein Loch in die Struktur des Raumes gerissen, in das jetzt die untergeordnete Raumzeit hineinragte. Kein guter Zustand, denn er bedeutete Ungleichgewicht. Das neue Signal traf auf die beschädigte
Raumstruktur und wurde in den Normalraum umgelenkt. Der Stern dort absorbierte es schon in der der Strahlenhölle seiner Korona. So erging es Signal auf Signal.
29.07.2175, Raumstation Camp Tschao
Lena glaubte schon längst nicht mehr daran, dass jemand ihren Vater zurückbringen konnte. Die Leute hier mochten mit ihrer Annahme richtig liegen, dass er im Inneren eines Sterns gefangen war, aber zurückbringen konnten sie ihn einfach nicht. Dabei waren Gorl und Jeff so felsenfest davon überzeugt gewesen. Jeff überprüfte täglich die Geräte und versuchte die Rückholmethode ständig zu variieren, aber es klappte einfach nicht.
Lena tröstete sich mit ihrer Aufgabe, die Expedition in der Vergangenheit mit den nötigen Kleinigkeiten und Informationen zu versorgen. Sie war gerade aus Portsmouth zurück, um noch einen interaktiven 3D-Film zu schauen. Lena liebte die faszinierenden Dinge des 22. Jahrhunderts. Man konnte einen Film auswählen und selbst an der Handlung teilnehmen. Dafür musste man nur eine spezielle Videobrille aufsetzen und los gings. Lena wählte einen Film aus der Frühzeit Tromburs aus, als noch die Ritternomaden aus der nördlichen Wüste von Kelamnapa aus durch die Welt streiften und auf ihren Raubzügen alles klauten, was nicht schnell genug abhauen konnte. Vor allem auf junge Mädchen waren die edlen Krieger ganz versessen und Lena würde sich heute Abend einfach rauben lassen. Ansich war der Film erst für Menschen über 21 Jahre gedacht, aber sie hatte Gedro's Zugangscodes „zufällig“ gelesen und kam so an das gesamte Programm.
21.07.1999, Cullham Farm, East Meon
„Wirklich ääh, also tatsächlich, ja also, ääh sehr idyllisch.“ Samoka tappte unbeholfen durch den Matsch vor ihrem neuen Zuhause. Sie sah sich um, rümpfte die Nase und wirkte so dermaßen fehl am Platze wie Karl Lagerfeldt in einem Pfadfinder – Camp. Ganz anders Gorl. Der fand die Farm einfach super und baute im Geiste in der Scheune schon das Rückkehrschiff zusammen. Janita, die den Kauf der Farm reibungslos abgewickelt hatte, beschloss den säuerlichen Gesichtsausdruck ihrer Freundin schlichtweg zu ignorieren. Eigentlich war es genau der Ort, den sie brauchten. Nahe an Portsmouth, aber im Umkreis von zwei Kilometern gab es kaum eine Menschenseele. Das Farmhaus war intakt, ebenso die große Scheune. Einfach ideal! Was Samoka in ihren Stöckelschühchen, dem Gucci Kleidchen und der Ives Saint-Laurent Strumpfhose völlig anders sah. Janita und Gorl fanden das sehr amüsant und beschlossen, das Schauspiel der im Matsch herumstöckelnden Schönen noch eine Weile zu genießen. Dann sagte Gorl: „Schau mal Süße, einer von uns muss ja schließlich in Portsmouth bleiben und auf Brent Spiner aufpassen. Da wärst du doch ideal!“ Auf Samokas Gesicht zeigte sich ein Hoffnungsschimmer. „Du meinst, ihr baut hier das Schiff und ich mache in Portsmouth die ganze Arbeit, ja?“ Diesmal antwortete Janita mit einem Blick auf die Zehen ihrer Freundin, die nicht nur von der brackigen Brühe auf dem Hof der Farm durchnässt waren, sondern auch langsam eine schmutzig braune Farbe annahmen: „Das hier scheint jedenfalls nicht deine Welt zu sein, Püppchen. Also ich denke, ich bringe dich jetzt zurück in die Stadt und Gorli verwandelt das hier in einen bewohnbaren Ort.“ Damit warf sie ein dickes Schlüsselbund in seine Richtung, dass er aber nicht auffing, sondern fluchend aus einer Pfütze fischen musste. Die Frauen kümmerten sich nicht um ihn. Sie stiegen in den Honda und fuhren davon. Gorl sah sich auf der Farm zunächst einmal um. Als er zwischen den beiden Scheunen um die Ecke bog, hörte er einen knatternden Dieselmotor und sah einen Traktor, der aus Rchtung des Dorfes über den Acker geschaukelt kam. Das urtümliche Gefährt hielt geradewegs auf Gorl zu, bevor es am hinteren Zaun des Farmgrundstücks anhielt. Ein massiger Kerl in Gummistiefeln und einer Arbeitskluft, deren Hauptbestandteil Dreck zu sein schien, schwang sich vom Fahrersitz und marschierte auf Gorl zu. „Hi Ho“, brüllte der Ankömmling und schwenkte etwas, das nach einem Sixpack Bier aussah, „bin Ian, euer Nachbar vonner Redman – Farm da hinten. Hab gerade gesehen, dass hier wer is und wollt ma Hallo sagen.“ Dabei klopfte er auf ein Fernglas, das er um den Hals trug. „Die Weibsen sind ja zum Glück wieda abgedüst. Da könn wa in aller Ruhe ne Dose ansaugen.“ Während er sprach hatte Ian Gorl erreicht, drehte eine Dose Bier aus dem Träger und reichte Sie dem Tromburianer. ‚Okay, mach das Spiel mit’, dachte Gorl, ‚der will nur seinen neuen Nachbarn bregrüßen’ und nahm das Bier. „Jakko de Jong, aus Holland“ stellte er sich vor, als er die Bierdose aufzog. „Ach nen Käskopp! Na ja, kannste ja nix für“, gab Ian zurück und öffnete ebenfalls eine Dose. „Gutes Roggenland, das“, brabbelte Ian und zeigte im nach hinten auf die Felder. „Aber erstma müssen wa euer Zeuch ins Haus kriegn. Sieht nen bisschen wüst aus. War nich mehr viel los mit dem alten Culham, nachdem ihm die Alte davon gerannt war. Hat sich dann totgesoffen und seitdem lag das hier brach. Aber jetzt biste ja hier, da helf ich dir gleich beim Einräumen.“ Ian mochte nicht der Hellste sein, aber Gorl nahm die Hilfe gern an. Eigentlich hatte er auch gar keine andere Wahl, denn Ian würde ohnehin helfen, ganz gleich was Gorl sagte.
Die folgenden Stunden verliefen nach dem Muster, dass Ian und Gorl Sachen trugen, Ian fragte, Gorl antwortete und zwischendurch die Bierdosen auf Null reduziert wurden. „Was solln das sein, nen C pluss pluss – Programm? Is das schon Gesundheitsfernsehen, wie Maggie das immer glotzt?“ Gorl ließ sich von Ians fragen nicht aus der Ruhe bringen, sondern erklärte ihm weiterhin geduldig, dass er Computer programmierte und dafür viel Ruhe bräuchte und deshalb hierher gekommen sei. „Und die beidn Schneggn?“, wollte Ian wissen, „gehörn die auch dazu?“ Gorl gingen langsam die Antworten aus. Sein neuer Nachbar schien nicht nur unter völliger Großhirnabstinenz zu leiden, sondern nebenher auch noch mit einer unstillbaren Neugier ausgestattet zu sein. Sein Slang machte die Sache nicht eben besser, aber bevor Gorl sich versah, machten die unteren Räume der Farm einen ziemlich bewohnbaren Eindruck. „Meine beiden Freundinnen werden sich teils in Portsmouth und teils hier aufhalten.“ Ian machte irgendetwas zwischen Verschlucken und Rülpsen, bevor er seinem Erstaunen Ausdruck gab. „Wie? Die gehörn beide zu dir? Wow! Hasste nen Haufen Zaster oder wie haste die rumgekriegt? Zwei Weibsen und dann noch sone Granaten. Nicht schlecht, alter Schwede!“ Gorl biss sich auf die Zunge. Das war unvorsichtig gewesen. Eine Dreierbeziehung passte nicht in diese Zeit und schon gar nicht in die ländliche Einöde hier. „Oder bisse Moslem oder son Scheiß?“ Der massige Kerl war bereits verunsichert genug über seinen neuen Nachbarn, aber zwei Frauen zu haben setzte der Sache die Krone auf. Also verbrachte Gorl den Rest des Abends damit, Ian zu beschwichtigen. Irgendwann kam Janita aus Portsmouth zurück. Gorl staunte nicht schlecht, als auch Samoka aus dem Wagen stieg. Diesmal allerdings in Jeans und Timberlands. Gorl ging hinaus, um die Frauen auf seinen Besucher hinzuweisen. Er erzählte von Ians merkwürdigen Ansichten, während Samoka seine Bierfahne kritisierte. Als sie das Haus betraten, stand der Farmer im Flur und stellte sich auf seine unvergleichliche Weise vor. Janita und Samoka hielten sich nicht lange auf. Sie lobten kurz
die Arbeit von Ian und Gorl und kündigten an, sich oben einmal umzuschauen. Auf dem Treppenabsatz konnte Samoka es einfach nicht lassen. Sie gab Janita einen intensiven und langen Zungenkuss. Als sie damit fertig war stierte Ian sie an, als ob ihm einer den Stecker herausgezogen hatte. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen und er schien einer Ohnmacht recht nahe zu sein.
Wahrscheinlich Juli 2169, Riesenstern Beta Gruis
Das Tor nach „Portsmouth 1829“ flackerte hin und wieder. Es schien nicht stabil zu sein. Hing das damit zusammen, dass es sich gerade erst geöffnet hatte und eine Art Stabilisierung erst noch stattfinden musste? Oder lag es daran, dass die Ursache für das neue Tor instabil war? Vielleicht hielt etwas das Signal, welches eigentlich hier eintreffen sollte, auf? Brent wusste es nicht, aber die Ideen schien ihm nicht schlecht zu sein. Er nahm die Jetztzeit mit Anfang Juli 2169 an, kurz bevor das kaputte Hypersignal in Realzeit auf den Stern getroffen war. Wahrscheinlich war er nach dem Erlöschen seiner Zeitepoche hierher gekommen, weil er quantenphysikalisch nirgendwo sonst sein konnte. Er musste auch vor Eintreffen des Fehlsignals hier sein, weil er sich danach ja im Polen des Jahres 1935 befand.
Als viel kritischer emfand er den Gedanken daran, was geschehen würde, wenn das Signal kam, ihn traf oder mitriss und der Brent Spiner des Jahres 1999 den Brent Spiner des Jahres 1956 in das Jahr 1935 katapultieren würde. Wenn also der, der noch alles vor sich hatte, mit dem, der alles durchlebt hatte zusammen traf. Brent fand in diesen Gedanken ein unauflösliches Paradoxon. Er kam zu dem vorläufigen Schluss, dass ihn das Signal keinesfalls treffen durfte. Hier nicht ein zweistes Mal und im Portsmouth des Jahres 1999 kein erstes Mal.
Aber wie kam er hier weg? Er musste verschwinden, bevor der Irrläufer von Camp Tschao hier eintraf. Außer, dass er sich nicht von der Stelle bewegen konnte, stellte das kein Problem dar. Also mussten die in „Porstmouth 1999“ erfolgreich sein, denn die waren mit Sicherheit dort, um zu verhindern, dass sein Original von dem Ding getroffen wurde.
01.12.2175, Raumstation Camp Tschao
Jeff begann allmählich an seinen Fähigkeiten zu zweifeln. Sowohl das Theorem, dass Brent Spiner sich im Kern von Beta Gruis befand, noch die Praxis ihn von dort zu holen, funktionierte. Alles schien falsch zu sein, obwohl es eigentlich nicht anders sein konnte. Was also ging schief? Mit Sita und Gedro diskutuierte er schon lange nicht mehr darüber und auch von Gorl kam nichts mehr zu dem Thema. Trotzdem wollte es nicht aus seinem Kopf verschwinden. Seit Monaten nicht. ‚Weil es eine Lösung gibt!’, dachte Jeff zum tausendsten Mal. Woran hatte er noch nicht gedacht? Was noch nicht versucht? Die Frage, wo die Signale blieben, die Brent Spiner aus der Sonne holen sollten, war noch immer offen. Das musste doch zu ermitteln sein! Gab es tatsächlich etwas, dass die Signale blockierte? Jeff ging noch immer von einem strukturlosen Raum aus, durch den sich das Hypersignal die fünfte Dimension durchquerte. Was, wenn dieses als fundamental anzunehmende Gesetz falsch war? Jeff’s Gedanken sträubten sich, diesen Weg zu beschreiten und doch konnte hier der Schlüssel zur Lösung liegen. Er wachte auf, wobei ihm erst jetzt bewusst wurde, dass er fest geschlafen hatte. Camp Tschao war auf Nacht geschaltet, was bedeutete dass alles anderen schliefen. Er stand auf, gefesselt vom Ansatz seiner Idee, den Verbleib der Signale messen zu können. Um Beta Gruis kreisten zwölf Sonden, die mit Sensoren aller Art vollgestopft waren. Jeff aktivierte den Laborrechner und ließ sich die Austattung der Sonden vor Beta Gruis anzeigen. Er wollte ein abgelenktes Raumzeitsignal finden, dass gegenüber der Strahlenstärke des Sterns, vor dem es verloren ging praktisch nicht existent war. Es war durchaus möglich, den Strahlenzoo des Sterns auszufiltern. Um dann das schwache Fehlsignal von der Station zu entdecken, musste er aber ziemlich genau wissen, wohin die Instrumente der Sonden genau schauen sollten, um das Gesuchte aufzuspüren. Gab es einen Punkt im Raum um den Stern herum, der besonders interessant sein könnte? Ganz sicher die Position an der die Riesensonne vor sechs Jahren das Ursprungssignal aus der fünften Dimension gerissen hatte.
Wo konnte das sein?
Wonach sollte er suchen?
Die Folge richtiger Fragen führte Jeff zu einer grandiosen Folge richtiger Antworten. Eine Raumzeitanomalie in der Zone, in welche Beta Gruis die Raumzeit verformte, stellte sein erstes Ziel dar. Da alle Sonden bereits über die neue Hyperfunktechnik mit Camp Tschao verbunden waren, konnte Jeff sie in Echtzeit steuern.
Wo sollte er suchen?
Der Kurs von Gorls Ursprungssignal war einigermaßen bekannt. Wenn er die Linie vom Rechner projezieren ließ und in Richtung des Sterns verlängerte und die Position dort so weit es ging per Iteration vergrößerte, enstand eine fraktale Wiedergabe von ca. 100.000 Kubikkilometer großen Raumausschnitts vor Beta Gruis. Dort mussten die Sonden suchen! Jeff gab die notwendigen Befehle, um die elektronischen Späher an die richtigen Positionen zu bringen. Dann filterte er die Strahlung der Riesensonne aus, soweit das möglich war. Die verbleibenden Sensoren justierte er auf die Wahrnehmung fünfdimensionaler Funkwellen.
Dann sendete er ein weiteres Signal ab.
Die Späher vor Beta Gruis reagierten im fast gleichen Augenblick. Welche Sonde würde das abgelenkte Signal orten? Jeff glaubte nicht, was an Messwerten herein kam. Alle zwölf Sonden empfingen die Hyperfunksendung. Ausgehend von einem Punkt, links oberhalb des Zentrums des Beobachtungsbereiches leuchtete ein heller Punkt auf, von dem aus Funkwellen in alle Richtungen davon rasten. Die Sendung von Camp Tschao prallte auf ein Hindernis und wurde regelrecht zerschmettert. Jeff wiederholte den Versuch mit drei weiteren Sendungen, die alle in gleicher Form zerlegt wurden.
Nicht die Theorie oder die Technik waren falsch, sondern der Sender befand sich schlicht und ergreifend an der falschen Position!
Neben diesem Geistesblitz ging Jeff noch ein weiterer auf. Wie konnte Brent Spiner in dem Stern sein, wenn es ihn ohne das erste Signal gar nicht gab? Spiner befand sich zwar in Beta Gruis, er befand sich auch, von außen betrachtet jetzt dort, an seinem Aufenthaltsort aber musste eine andere Realzeit herrschen. Wann immer das war, konnte das Ursprungssignal noch Jahrhunderte von Spiner entfernt sein, oder ihn jeden Augenblick erwischen.
Jeff löste Alarm aus!
Wenig später liefen verschlafene und erschrockene Gestalten durch die Station. Jeff rief „Hierher, ins Labor!“ Sita traf zuerst ein. Obwohl sie höchst unsanft aus dem Schlaf gerissen worden war, wirkte sie wach und konzentriert. Sie spürte instinktiv, dass etwas Wichtiges geschehen sein musste. „Wir senden gegen eine Barriere! Unsere Signale werden einfach absorbiert!“ Jeff wies auf die Sensorenwerte, die noch immer im Raum schwebten. „Schnell, auf die Henri Poincaré! Wir müssen von einer anderen Position aus senden, dann kriegen wir Spiner. Aber wir müssen schnell sein. Er kann jederzeit von Gorls Schrottfunk erwischt werden. Innerhalb von Beta Gruis herrscht eine andere Eigenzeit!“
Während er sprach waren auch die anderen Besatzungsmitglieder eingetroffen und hatten mitbekommen, worum es ging. Die Gruppe rannte so wie sie war zu dem angekoppelten Forschungsschiff des Instituts für Galaktische Technologie. Innerhalb weniger Minuten war das Schiff startbereit und löste sich von der Station. Camp Tschao blieb verlassen zurück und schaltete auf die automatische Instandhaltung um.
Wahrscheinlich 20. Juli 2169, Riesenstern Beta Gruis
Brent fühlte ein Beben. Das war neu und merkwürdig, denn er bekam ansonsten von seiner physikalischen Umgebung nicht viel mit. Seit einiger Zeit war das Tor nach „Portsmouth 1829“ stabil und hatte sich vergrößert. Wieder ein Beben, diesmal stärker und länger. Brent „hörte“ ein Knistern. „Portsmouth 1829“ wurde noch größer und schien sich auf ihn zu zu bewegen. An den Rändern des Tores traten diffuse Leuchterscheinungen auf, die sich verdichteten. Brent kam die Form bekannt vor. Das sah dem Ding, das ihn vor 21 Jahren in der Camden Lane getroffen hatte ziemlich ähnlich. Das Knistern steigerte sich zum Grollen und das Beben hörte nicht mehr auf. Das Geräusch schien hinter Brent zu sein. Er drehte den Kopf und sah einen leuchtenden, rasend schnellen Ring, auf den er schon einmal geblickt hatte.
Plötzlich öffnete sich ein weiteres Tor. Brent erkannte Gedro und Lena bevor er in das neue Tor hineingesogen wurde. Unmittelbar hinter ihm raste der Raumzeitring durch Beta Gruis hindurch. Ein Wirbel, ein rasender Flug durch die Glut des Sterns, ein Aufprall, Ruhe, eine Stimme „Hallo Daddy, geht es dir gut? Daddy, sag doch was!“ Brent schlug die Augen auf. Er lag am Boden und blickte in die Gesichter seiner Kinder. Und er spürte sie, spürte die Kühle des Raumes, die Hand auf seinem Gesicht und die Schmerzen des Aufpralls. „Es geht mir gut, Kleines. Ganz prima sogar. Ich habe mir das Bein gebrochen, glaube ich. Tut höllisch weh. Was für ein geiles Gefühl!“ Dann lachte der Mann am Boden so ausgiebig, dass es vermutlich noch in der hinteren Triebwerksgondel der Henri Poincaré zu hören war.
15.09.1999, Portsmouth, Camden Lane
Lena und William tauchten genau in dem Augenblick auf, als Samoka die Haustür öffnete und aus der Camden Lane nach Hause kam. Es war früher Abend und sie hatte dort ein Auto geparkt. Den Rover 75 hatte sie gestern von der Culham - Farm geholt, wo Gorl ein paar Veränderungen an dem Gefährt vorgenommen hatte. Samoka stellte die Rostlaube genau auf den Platz, an den Brent Spiner morgen seinen Möbelwagen stellen wollte. Samoka legte einen handgeschriebenen Zettel mit dem Text „Sorry, be back in a minute“ hinter die Windschutzscheibe. Sie zog die Handbremse an, stieg aus und ging auf die hausabgewandete Seite des Wagens. Dort schraubte sie das Ventil des linken Vorderrades heraus. Im Weggehen aktivierte die Frau aus der Zukunft eine Apparatur unter dem Beifahrersitz. Brent Spiner würde sich mächtig ärgern, wenn er seinen Möbelwagen ein paar Meter weiter parken musste.
Samoka sah sofort, dass Lena und ihr Bruder heute offenbar mehr als gut drauf sein mussten. Sie stürmten auf Samoka zu und redeten wild durcheinander. Trotzdem verstand sie, dass es offenbar gelungen war, Brent Spiner aus dem Stern zu holen. Sie schob ihre Gäste in den Flur zurück und verlangte, dass einer nach dem anderen erzählte. Jeff hatte Lena einen Speicherkristall mit allen Informationen über die erfolgreiche Rückholaktion mitgegeben. Trotzdem erzählten Brent’s Kinder die ganze Geschichte noch zwei bis drei Mal. „Okay, lasst uns zur Farm rausfahren. Ich denke Gorl sollte das aus erster Hand erfahren.“ Sie rief ein Taxi, da der Honda in East Meon stand. Der Taxifahrer war nicht gerade erbaut darüber, dass er so kurz vor Feierabend noch „an den Arsch von Hampshire“ fahren sollte. Samoka streckte ihm wortlos den doppelten Fahrpreis hin, was den Mann wesentlich freundlicher stimmte.
Auf der Culham – Farm sah es schon etwas freundlicher aus. Ian saß im Wohnzimmer und glotzte Janita bei jeder Bewegung hinterher. Als Samoka mit Lena und William eintrat, gaffte er alle drei an und quetschte ein „Hallo“ heraus. Gorl machte ein kurzes Who-is-Who, was die Sache etwas entschärfte. Samoka ging zu Janita, genau wissend, dass der dicke Farmer jede ihrer Bewegungen genau verfolgte. Sie gab Janita einen winzigen Kuss auf die Lippen und griff ihr nur für Ian sichtbar an die Brust. Dort ließ sie ihre Hand, bis das Gesicht des Dicken Apfelröte erreichte hatte und sein Atem nur noch japsend ging. Sie liebte diese kleinen Spielchen.
Lena warf einen kurzen Seitenblick auf den merkwürdig prustenden Kerl im Sessel. Der schien es schwer mit dem Herzen zu haben oder so. William teilte Gort derweil mit, dass sie ihm unbedingt etwas ganz Geheimes erzählen mussten. Gorl spürte, dass der Junge fast platzte. ‚Damit hätten wir schon zwei von der Sorte’, dachte er belustigt und sah Ian an, dem gleich die Augen aus dem Kopf fliegen mussten. Er sah in die Richtung, in die er stierte, als Samoka gerade ihre Hand von Janitas Brust nahm. Gorl schüttelte tadelnd den Kopf und ließ sich dann von William in die Küche ziehen. Lena folgte den beiden. Sie hatte den Speicherkristall mit den Aufzeichnungen dabei. Gorl konnte kaum glauben, was er sah und hörte. Er sprang auf, lief in der Küche herum und brabbelte pausenlos Mea Culpas in der Form, dass er nicht selbst drauf gekommen, dass die Lösung praktisch vor der Haustür lag, dass man an so was Einfaches ja gar nicht denkt und dass Jeff natürlich Glück gehabt hatte.
„Das ist echt ein Ding! Grandios! Vom Feinsten! Ian? Ian! Hast du noch Bier dabei?“
Aus dem Wohnzimmer kam ein gepresstes Stöhnen zurück das wie „Jaumpf“ oder so ähnlich klang. Vermutlich übertrieb Samoka gerade ein wenig.
Als Lena, William und Gorl zurück ins Wohnzimmer kamen, schleppte sich Ian gerade schwer atmend hinaus. Janita und Samoka standen noch immer zusammen und schienen sich köstlich zu amüsieren. „Lasst das bitte“, verlangte Gorl, „er hilft mir wirklich sehr viel hier!“ Samoka kicherte leise. „Der arme Kerl ist so notgeil, dass er platzt, wenn wir das noch mal machen.“ Gorl setzte eine todernste Miene auf und erwiderte „Wenn ihr das noch mal abzieht, dann lasse ich euch mit ihm allein und verspreche ihm, dass er mit euch machen kann, was er will. Na, wie wär’s damit?“ Samoka wirkte auf einmal sehr unschuldig, sie warf den Kopf zurück, drehte sich von Gorl weg und sagte spitz: „Gut, wenn du Nonnen willst, kriegst du Nonnen.“ Janita zischte nur „Langweiler!“ Ian kam wieder und hatte in jeder Hand ein Six Pack Worthingtons Best Bitter. Gorl verteilte das Bier und wunderte sich, dass Lena auch eines nahm. Eigentlich gab es dabei nichts Verwunderliches. Die Tochter von Brent Spiner war inzwischen eine erwachsene junge Frau. William bekam Cola, die Samoka aus Portsmouth mitgebracht hatte. „Trinken wir auf zwei Dinge:“, Gorl hob die Dose, „Auf einen zurückgekehrten Vater und auf zwei brave Mädchen. Cheers!“
Ian verließ die Farm ungefähr eine Stunde später und knatterte auf seinem Traktor davon. Lena und William sprangen ein paar Minuten danach nach Camp Tschao zurück. Die Zurückgebliebenen fanden ein wenig Zeit sich auf den morgigen Tag vorzubereiten. Damit Spiner nicht auf die Idee kam, den Abschleppdienst zu rufen, blocktierte Gorl über einen Blocker in dem abgestellten Auto seinen Telefonanschluss. Bevor sie sich noch für ein paar Stunden schlafen legten, stellte Gorl den Radiowecker auf 03:30h. Ab 05:00h wollten sie in Portsmouth vor Brents Haus Posten beziehen, um sicherzustellen, dass nichts schief gehen konnte. Gorl wurde bewusst, wie viel Glück und Zufall bei dieser ganzen Sache mitgespielten. Als sie damals losgezogen waren, meinte er noch, einen perfekten Plan zu haben. Wenn er jetzt darauf zurück blickte, zeugte kaum noch etwas von Perfektionismus und dem urprünglichen Plan. Im Grunde genommen grenzte es an ein Wunder, dass sie überhaupt noch am Leben waren. Irgendwann erreichte ihr Handeln einen Punkt, an dem der ganze große Plan durch instinktive Ausführung des jeweils nächsten Schrittes abgelöst worden war. Wie der nächste Schritt aussah, bestimmten immer häufiger die Umstände und nicht Gorl selbst. Das machte ihm in gewisser Angst. Als Kind des 22. Jahrhunderts war er es gewohnt, dass Pläne funktionierten und dass praktisch nichts Ungeplantes dazwischen kommen konnte.
Diese Reise, die absonderlichste seines ganzen Lebens, lehrte ihn täglich das Gegenteil. Gorl fragte sich, ob seine Theorie, dass die von ihm ausgelöste Parallelzeit gar nicht stattfand, wenn der Auslöser nicht in diese Zeit gelangte. War es tatsächlich so, dass er den Untergang der Menschheit in der Parallelzeit im Nachhinein verhindern konnte? Im Grunde genommen hatte doch schon alles stattgefunden. Andererseits auch wieder nicht, denn Gorl befand sich zum jetzigen Zeitpunkt vor Beginn der anderen Zeitblase. Konnte er die Zeit wirklich überholen und austricksen?
Gorl straffte sich. Die Frage des Wie und Warum stellte sich nicht mehr. Der Sinn des gesamten Unternehmens, die Mühen, die Risiken und die Erkenntnisse wären mit einem Schlag sinnlos. Eine von Jeffs Vermutungen beschäftigte ihn, ohne einer Lösung näher zu kommen: Wenn die Parallelzeit nicht stattfand, würden dann die Überbleibsel dieser Zeit weiter existieren? Was geschah mit Lena, William und deren Vater, wenn der echte Brent Spiner nicht im Jahr 1935 auftauchte? Jeff war zu der Auffassung gelangt, dass die aus der Parallelzeit stammenden Personen von den Ereignissen nicht betroffen wären. Die Zukunft befand sich gegenüber der Vergangenheit in einem abgeschlossenen Zustand. Alles was geschehen konnte, war bereits passiert. Dass ein eine Epoche, die nicht stattfand Einfluss auf nachfolgende Zeitabschnitte nehmen konnte, schien praktisch ausgeschlossen. Gorl sah das ebenso, da eine Verletzung der Kausalität die unabdingbare Folge wäre. Hätte Gorl geahnt, dass die Tore zu anderen Epochen im Kern von Beta Gruis darauf warteteten Ereignisse in Parellelzeiten sickern zu lassen, hätte die Kausalität wohl als weit weniger unumstößlich angesehen.
17.09.1999, Camden Lane, Portsmouth
Brent Spiner fluchte leise vor sich hin. Der schrottreife Rover stand immer noch seinem Haus. Dabei wollte er dort eigentlich den geliehenen Möbelwagen parken. Jetzt musste er eine Parklücke zwei Wagenlängen weiter vorn nehmen und seine schweren Möbel 15 Meter weiter schleppen. Was für ein Mist! Brent zog den Zündschlüssel ab, stieg aus dem LKW und ging zu seinem Haus. Dabei drohte er dem Rover demonstrativ mit der Faust. Er ahnte nicht, dass die beiden Frauen, die auf der anderen Straßenseite spazieren gingen und zu ihm herüber sahen, sich darüber köstlich amüsierten. Spiners hilflose Geste zeigte Samoka und Janita, dass sich der Mann auf der anderen Seite in sein Schicksal ergeben hatte und keinen Abschleppdienst oder gar die Polizei kommen ließ. Sie beobachteten weiter, wie Brent mit der ersten Kiste aus dem Haus kam. Dann gingen sie weiter, denn am anderen Ende der Strasse kam Gorl heran geschlendert, der die Beobachtung übernahm. Kathleen und Brent schleppten derweil zügig Umzugskartons, Koffer, Lampen und anderen Hausrat und beluden den Transporter damit. Beide ahnten nicht, was gerade die Marsbahahn kreuzte, um in ca. 8 Minuten hoffentlich von den Gerätschaften in dem defekten Rover neutralisiert zu werden, ohne Schaden anzurichten.
Kathleen Spiner schaute ihrem Mann kopfschüttelnd nach. Warum musste Brent selbst beim Beladen des Möbelwagens den Rambo geben und die Kiste mit seinen Unterlagen und Geschichts-DVD’s alleine schleppen. Brent war mit 46 Jahren und einem Konstrukteursjob im Büro immerhin der Idealkandidat für einen Hexenschuss und die Sportskanone gab er höchstens beim Sonntagsspiel vor dem Fernseher. Schnaufend stellte er die Kiste neben das bereits an der Laderampe wartende Gegenstück, welches seinen Computer, sein Notebook und diverses Zubehör, wie Beamer und Drucker enthielt. Brent winkte mit hochrotem Kopf, aber stolz wie Oskar zu Kathleen rüber und machte sich daran, die beiden Kisten auf die Laderampe des Umzugswagens zu stellen. Er sah sich noch einmal um und sah aus den Augenwinkeln etwas aus der Luft kommen. Irgendein Lichtreflex traf den Schrotthaufen vor seinem Haus und ließ das Innere kurz aufleuchten. „Was war das denn?“, rief seine Frau von der Tür her. Brent zuckte die Schultern und rief zurück „Keine Ahnung, wahrscheinlich irgendeine Reflexion.“ Dann drehte er sich um und wuchtete die Kartons auf die Laderampe. Auf der anderen Straßenseite hob ein Mann unauffällig den Daumen und sagte leise zu sich selbst „Mission completed, Mr. Spiner.“ Dann ging Teraschnek-Gorl Moiseyenko unauffällig in Richtung der beiden Frauen, die vorhin schon einmal hier gewesen waren.
Zur gleichen Zeit, Riesenstern Beta Gruis
Mehrere Tore im Kern des brodelden Gasballes verschwanden einfach. Es bestand kein Grund mehr für sie, zu existieren. Anstelle der Tore trat ein Zustand des Nichtseins, ein Kontinuum, welches weder Zeit, Raum, Energie oder Materie enthielt. Gemessen an den gigantischen Dimensionen des Sterns, entsprach das Nichtsein einem Staubkorn auf dem Mars. Allein der Zustand an sich barg Kräfte, die in jeglichem Widerspruch zur Physik standen. Das Nichtsein suchte nach Ausgleich. Die Vereinigung mit dem Sein musste erfolgen und Sein bestand aus Ereignissen. Ein Ereignis enthielt alles, was Sein ausmachte, die Zeit in der es geschah, den Raum in dem es stattfand, die Materie, die durch das Ereignis bewegt oder verändert wurde und die Energie, die Bewegung und Veränderung bewirkte. Ereignisse stellten ideales Sein dar. Der Kern des alternden Sterns steckte voller Ereignisse. Das Nichtsein fiel auf das ernergiereichste davon zu, den Ort, von dem Sein in vielfältiger Form und in verschiedenen Dimensionen ausging.
02.12. 2175 Raumstation Camp Tschao
Die Henri Poincare trat etwa fünfhundertausend Kilometer vor der Station aus dem Hyperraum. Brent Spiner saß im Pilotensessel, gab begeistert Steuerbefehle ein und schlug sich lachend auf sein gerade noch gebrochenes Bein. Ein Medibot hatte die Sache vor dem Hypersprung „mal eben“ erledigt. Sita wollte ihrem Nachwuchspiloten gerade erklären, wie man den Andockvorgang einleitete, als die Raumstation von einer diffusen, glühenden Masse, die aus dem Nichts auftauchte, getroffen und in Millionen Stücke zersprengt wurde. Die Station war einfach weg. Trümmer wirbelten davon, während sich aus der diffusen Masse etwas Schwarzes manifestierte, das von innen heraus zu pulsieren schien. Sita registrierte das, was die Bildschirme in der Kommandozentrale des Forschungschiffes in allen Details zeigten und aufzeichneten. Sie drücktes Brents Hände zur Seite und zwang das große Raumschiff in eine enge Ausweichkurve. Die Henri Poincare reagierte erstaunlich schnell, aber durch die Struktur des ramanischen Schiffes lief ein intensives Beben und das Geräusch überdenhten Metalls hallte qualvoll durch den Rumpf. Dann traf die Schockwelle der Explosion das Schiff und fegte Sita von den Füßen. Alle anderen Menschen an Bord erging es gleichermaßen. Medibots, die im gleichen Augenblick die durch diverse Verletzungen abweichenden Körpersignale der Menschen aufnahmen, lösten sich von ihren Stationen und wurden prompt gegen die Wände geschleudert. Nur Brent Spiner wurde durch die Ereignisse kaum behelligt und blieb als Einziger an Bord bei Bewusstsein. Seine ersten Gedanken gingen nicht etwa der Frage nach, was er jetzt tun musste, um das Raumschiff und dessen Besatzung zu retten (das wusste er ohnehin nicht), sondern dem Umstand, dass er als einziger nichts von der Katastrophe spürte. Glücklicherweise befand sich niemand mehr auf Camp Tschao. Brent verscheuchte die Gedanken und besann sich darauf, dass er hier etwas tun musste. Von den schwebenden Robotern war nur einer unterwegs, der ebenfalls beschädigt zu sein schien. Die Maschine versuchte mehrfach, den am Boden liegenden Jeff zu versorgen, drehte aber nach kurzer Zeit wieder ab. Auf den riesigen Beobachtungsmonitoren in der Zentrale wurde der umgebende Weltraum in Kinogröße abgebildet. Halblinks hinter der Henri Poincare konnte er das Ding erkennen, dass die Station in ihre Einzelteile zerlegt hatte. Es war schwärzer, als der umgebende Raum, anähernd rund und kam Brent merkwürdig bekannt vor. Er zögerte einen Augenblick, bevor er sich von dem Bild losriss, um Sita zu helfen. Der defekte Medibot war irgendwo hin verschwunden. Er tauchte wieder auf, während Brent Sitas Kopf untersuchte. Er musste sie wach bekommen, damit sie das Schiff steuerte. Dann musste er William und Lena finden. Die Maschine handelte diesmal schnell und sicher. Offenbar gab es irgendwo eine Reparaturstation. Jeff kam wieder auf die Beine. Er sah blass aus, das Geschehene schien ihm total unbegreiflich. Gedro tauchte auf. Auch er wirkte geschockt, hatte aber wenigstens die Kinder im Schlepptau. Auch Sita stand wieder auf. Sie hielt sich den Kopf, nahm aber sofort ein paar Einstellungen am Kontrollpult vor. Gedro zeigte auf den Heckmonitor. „Was ist das für ein Ding?“ Anstelle einer Antwort drehte alle die Köpfe und betrachteten das finstere Gebilde und die davontreibenden Trümmerteile der Raumstation. Brent meldete sich als Erster zu Wort. „Was es ist, weiss ich auch nicht, aber woher es kommt schon!“ Der Mann aus grauer Vergangenheit erntete einigermaßen erstaunte Blicke. „Es stammt aus dem Kern von Beta Gruis. Ich habe mich dort in exakt so einem Ding befunden.“
Während Sita das Raumschiff aus der unmittelbaren Gefahrenzone flog, starrten sowohl Jeff, als auch Gedro ihren Gast aus dem 20. Jahrhundert an. In Jeffs Gehirn schien es intensiv zu arbeiten. „Das könnte sein, das könnte tatsächlich sein!“, murmelte er und aktivierte gleichzeitig den wissenschaftlichen Rechner. Damit verfügte er zwar nicht über die Leistung, die ihm auf Camp Tschao zur Verfügung gestanden hätte, aber es dürfte für ein paar grundlegende Berechnungen ausreichen. „Können wir das Ding analysieren?“, fragte er beiläufig, in der Hoffnung, dass irgendwer Multisonden auf den Weg bringen würde, die diese Aufgabe erledigten. Die erste Sonde näherte sich dem Gebilde wenige Minuten später. Eine andere Sonde untersuchte eines der Trümmerstücke. Die erste Sonde flog an die finstere Kugel heran, stoppte aber nicht. Eigentlich sollte sie das bei der ersten Erfassung eines Objektes selbstständig tun und eine Reihe grundlegender Parameter, wie Größe, Temperatur, Spektralfarbe, Strahlungsstärke und –arten sowie etwa 80 weitere Messgrößen zu erfassen.
Aber wie erfasst man Nichts?
Die Sonde flog weiter und drang in das Objekt ein. Die Instrumente registrierten plötzlich gar nichts mehr. Keine physikalische Größe wurde gemessen. Der Raum um die Sonde herum schien keinerlei Eigenschaften zu haben. Aber die Sonde wies Eigenschaften auf. Ihr widerfuhr das gleiche Schicksal, wie der Raumstation zuvor. Sie explodierte einfach. Die Instrumente der Henri Poincare zeichneten die Explosion auf, das war alles. Eine weitere Sonde wurde ausgesandt, aber diesesmal stoppte sie manuell etwa 1000 Kilometer vor dem Ding. Die Instrumente erfasste auch beim zweiten Versuch absolut gar nichts.
Das Objekt blieb unheimlich und rätselhaft.
Lena verstaute den Speicherkristall, der die Daten über das Ende von Camp Tschao enthielten, in ihrer Tasche und trat durch das Tor Richtung 1999. Niemand war zuhause, als sie in der Torrington Road in Portsmouth ankam. Sie ging in die Küche, um eine Cola zu nehmen und warf einen Blick auf den Kalender. 17.09.1999, der Tag an dem Janita, Samoka und Gorl vehinderten, dass Lenas Vater in die Vergangenheit geschleudert wurde. Das wusste man auf der Henri Poincare ebenfalls, aber niemand brachte das mit der Vernichtung von Camp Tschao in Zusammenhang. Dabei war sich Lena sicher, dass es einen Zusammenhang, sonst wäre nicht beides zeitgleich geschehen. Vielleicht waren die anderen ja auch auf der Culham – Farm? Lena suchte nach dem Telefon, das Samoka sicher wieder irgendwo im Haus hatte liegen lassen. Sie fand es schließlich im Wohnzimmer unter den Sofakissen. Lena wählte die Nummer der Farm aus dem Speicher und ließ es eine Weile klingeln. Dann meldete sich Janita. „Hallo Lena, wir haben es geschafft, dein Vater ist, wo er sein soll. Das Signal ist wie geplant absorbiert worden. Super, nicht wahr? Samoka ist übrigens in Portsmouth unterwegs, sie müsste gleich nach Hause kommen, dann kann sie dich mit rüber bringen.“
Lena sagte zu und beendete das Gespräch mit den Worten „Leider hat nicht alles so gut geklappt. Ich habe wichtige Neuigkeiten für euch und wir sollten uns beeilen.“
Samoka öffnete ein paar Minuten nach dem Telefonat die Haustür. Sie sah Lena, begrüßte sie und bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Neuigkeiten aus der Zukunft, die sie von der Epochenspringerin erfuhr, klangen besorgniserregend. CampTschao zerstört, stattdessen befand sich dort jetzt ein nicht definierbares Objekt. Das mussten sie schnellstmöglich auf der Culham – Farm erörtern, um Lena schnellstmöglich mit den Messdaten aus der Camden Lane zurück auf die Henri Poincare zu schicken. Außerdem musste Gorl die Sache irgendwie bewerten.
Gorl sah die Aufzeichnungen eine halbe Stunde später. Ihm war deutlich anzusehen, dass ihn die jüngsten Ereignisse vor ein Rätsel stellten. Bei anderen Gelegenheiten zeigte er stets die Fähigkeit, Dinge blitzschnell zu kombinieren und die kausalen Zusammenhänge zu finden. Dieser Vorfall wirkte dagegen mysteriös, obwohl es eine Erklärung geben musste. Schließlich gab es immer eine. Gorl stimmte mit Lenas Vater darin überein, dass Beta Gruis die einzig denkbare Quelle für die Erscheinung darstellte. Warum aber zerstörte dieses Ding zielsicher eine Lichtjahre entfernte und in der Zukunft befindliche Raumbasis? Gorl sah Samoka hilfesuchend an, die nur müde mit den Schultern zuckte. Sie hatte geglaubt, dass der Fall Brent Spiner mit dem heutigen Tag abgeschlossen war und jetzt nur noch die Rückkehr nach Hause zu bewältigen vor ihnen lag.
Stattdessen spielten sich „zu Hause“ nun merkwürdige Dinge ab. Samoka war müde, sie wollte nicht mehr vor ungelösten Problemen stehen, sie wollte nicht mehr in diesem Zeitalter voller Dummheit und Aberglaube gefangen sein. Und sie wollte endlich wieder Essen, dass von einer Automatenküche ganz nach ihren Bedürfnissen und ihrem Geschmack zubereitet wurde. Das fettige, mit Myriaden von Keimen verseuchte Zeug dieser Zeit stank ihr schon lang. Und jetzt?
Wieder ein neues Hindernis auf dem Weg in Zukunft.
Samoka drehte sich wortlos um und verließ den Raum. Sie brauchte frische Luft und einen Moment, der nicht voller Fragen und Probleme steckte. Im Grunde genommen, ging es ihren Freunden da drinnen nicht anders. In letzter Zeit fiel immer häufiger der Satz „Und wenn wir wieder zu Hause sind….“ Zu allem Überfluss bog auch noch Ian mit seinem Traktor in die Auffahrt ein. Ihr aufdringlicher Nachbar hatte wohl Licht gesehen und die willkommene Ausrede gefunden, dass er drüben mit einem Sixpack Bier aushelfen musste. Der Dicke sprang vom Traktor, rechnete aber nicht damit vor dem Haus auf Samoka zu treffen. Als er sie sah begann er zu stottern und versuchte irgendwie zu fragen, ob Jakko da sei. Samoka winkte nur müde ab und fragte „Hi Ian, hast du Bier dabei? Ich könnte eins gebrauchen.“ Der Farmer ging nicht zum Trecker, er hechtete. Keine halbe Minute später lehnte sie am Kotflügel des wuchtigen Gefährtes und kippte Worthingtons Best Bitter in sich hinein. Das wierderholte sie solange, bis die beiden Sixpacks erledigt waren. Als sie auf Ian gestützt zurück ins Haus ging, war sie sturzbesoffen.
Gorl breitete sanft die Bettdecke über Samoka aus. Während er das tat, wurde ihm klar, wie sehr ihn der Anblick der vollkommen betrunkenen Samoka Lee schockierte. Nicht so sehr ihr Zustand an sich, sondern vielmehr der damit verbundene Kontrollverlust. Samoka war für ihn die Frau, die immer alles im Griff hatte, meist sogar die Situation bestimmte. Sie jetzt am Rande ihrer Kräfte sehen zu müssen zeigte Gorl, dass die Strapazen dieser Reise langsam übermächtig wurden. Die dauernde Verstellung und Überforderung brach sich an diesem Abend, an dem eigentlich alles hätte vorüber sein sollen, brutal Bahn. Auch Gorl fühlte sich schwach und hilflos. Von Janita wusste er, dass es ihr nicht anders ging. Gorl zog sich zurück und zeichnete eine Botschaft an Jeff auf, in der er seine Ansicht über die unbekannte Erscheinung, die Camp Tschao vernichtet hatte, die Ereignisse des Tages und des Abends und den jämmerlichen Zustand seiner Expedition schilderte. Am Ende bat er Jeff, sich des schwarzen Dings selbst anzunehmen. Auf alle Fälle sollte er die Hilfe des Wissenschaftsrates anfordern. Er ging hinunter ins Wohnzimmer und übergab die Aufzeichnung an Lena. Das Mädchen ging in die Küche, wo Ian sie nicht sehen konnte und sprang zurück auf das Raumschiff.
Gorl blickte noch einen Augenblick auf die leere Stelle in der Küche. Er sprach kurz mit Ian, darüber, dass er am nächsten Tag gern ein paar größere Sachen transportieren würde und dafür den Traktor und Ians Gummiwagen bräuchte. Ian sagte zu und versprach pünktlich zu sein. Dann wackelte er davon, was Gorl an ein schwankendes Segelschiff erinnerte. Er nahm Janita fest in den Arm und sagte entschlossen „Von jetzt an fliegen wir nur noch heim. Alles andere ist mir völlig gleich.“
Rückkehr nach Übermorgen
04.12.2175, Galaktischer Wissenschaftsrat, Gor-Krapur, Planet Trombur
„Wenn ich die Sache richtig betrachte, ist bis auf das unbekannte Objekt, das Camp Tschao zerstört hat alles recht gut verlaufen, nicht wahr?“ Padro-Tel drehte sich zu Sven Holgersson und Gedro um, die den Rat in den vergangenen Stunden umfassend über den Stand der Ereignisse unterrichtet hatten. Gedro war ein wenig überrascht, aber er kannte Padro-Tel schon lange als unverbesserlichen Optimisten. Wobei der 1. Sprecher natürlich recht hatte. Das ganze Projekt war bislang so verlaufen, dass im Hier und Jetzt fast niemand zu Schaden gekommen war oder auch nur von der Sache gehört hatte. Dachte man völlig rational, betraf die Katastrophe auf der Erde in der Parallelzeit hier niemanden. Man konnte sogar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass diese Epoche gar nicht mehr existierte. Dadurch, dass die Mission im Jahr 1999 erfolgreich war und Brent Spiner nicht ins Jahr 1935 zurückgeschleudert wurde, hatte diese Epoche im Grunde genommen auch nie existiert. Eigentlich gab es nur dieses Ding bei Hind’s veränderlichem Nebel und das durchaus lösbare Problem, die drei Personen aus dem postindustriellem England wieder in ihre Zeit zurückzuholen. War Moysienko erst wieder am Start, stand der Inbetriebnahme des neuen Hyperfunks auch nichts mehr im Weg.
Soweit die nette Version der Geschichte.
Brent Spiner berichtete dem Rat heute ebenfalls. Über seine Zeit in Polen, den Krieg, die Jahre in England und seine seltsame Reise in die heutige Zeit. Er sprach über die Trennungen, über das massenhafte Sterben und über den Verlust aller Menschen, die ihm einst nahe standen. Nur seine Kinder waren ihm geglieben. Der Mann aus der Vergangenheit zeigte die dunkle und bittere Seite dieser Geschichte.
Dem Rat oblag es nun, darüber zu entscheiden, wie das unbekannte Objekt bei Hind’s veränderlichem Nebel weiter erforscht werden sollte und wie die Expeditionsteilnehmer aus England zurückkamen. Brent Spiner den Weg in die Gesellschaft des 22. Jahrhunderts zu ebnen, fiel einer anderen Gruppe zu: Der altehrwürdigen Mars Society. Seit Jahrhunderten stellte die Gruppe um die ersten Marsreisenden eine Elite im Sternenbund dar. Gorl und die Gruppe auf Camp Tschao gehörten seit Geburt an dazu. Heute umfasste die Society 12316 Mitglieder mit besten Verbindungen in alle gesellschaftlichen Bereiche des Sternenbundes. Von daher war sie am besten geeignet, den Menschen Brent Spiner, ebenso wie sein einzigartiges Wissen in dieses Zeitalter zu integrieren. Die genauso einzigartigen Fähigkeiten von Spiner’s Kindern schienen bei der Society ebenfalls gut aufgehoben. Alles hing natürlich davon ab, dass Lena, William und Brent diesem Verfahren zustimmten. „Ach, wisst ihr Leute“, antwortete Brent auf den Vorschlag hin, „wir haben ohnehin im Augenblick nichts besseres vor. Also bringt uns halt zu dieser Murks Society.“
Damit begann für Brent wieder einmal ein neuer Abschnitt in seinem Leben. Dieser hier versprach allerdings, der bei weitem interessanteste zu werden. Das wurde ihm bewusst, als die Henri Poincare zwei Tage nach der Ratssitzung auf dem Mars aufsetzte. Von einer solchen Reise hatte er Kind oft geträumt - zum Mars! Jetzt spazierte er durch die Marshauptstadt First Village und staunte Löcher in die Luft. Lena und William ging es nicht anders. Für den Jungen war das hier ein wunderbares Abenteuer. Er nahm die neue Situation am besten auf. Sita hielt vor einem Geäude an, das die Form eines Ovals, aus dessen Mitte ein Pfeil in den Himmel strebte, erbaut war, der Sitz der Society. Auf den Außenwänden liefen Filmaufnahmen, die offenbar die neuesten Entdeckungen im Universum zeigten. Sita ging auf einen nicht sichtbaren Eingang in der Mitte der Pfeilwurzel zu und sagte „Die Haut des Feuers klingt Fieber.“ Das Gebäude antwortete mit einem Dankeschön und die Tür öffnete sich automatisch. Wieder staunte Brent nicht schlecht, als er eintrat, denn er meinte auf einmal, mitten im All zu stehen und keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben. Er schwebte in einer dreidimensionalen Darstellung des Solaren Systems, die das Gebäude von innen viel größer erschienen ließ, als es von außen den Eindruck erweckte. Zwischen Venus und Erde kam ihnen ein Mann entgegen, der Brent seltsam bekannt vorkam. Den dynamischen Mittdreißiger kannte er aus Filmen aus der Enstehungszeit des Sternenbundes. Oder zumindest sah er dem Typen hier sehr ähnlich. Noch ehe er seinen Gedanken zu Ende bringen konnte, erreichte der Unbekannte die Neuankömmlinge auf Höhe der Mondbahn. „Ich bin Dimitri Jörg Schabeck, herzlich willkommen bei der Mars Society. Folgt mir bitte.“ Schabeck machte eine einladende Geste in Richtung Jupiter, also tappte Brent hinterher. Er stiefelte durch den Asteroidengürtel, marschierte am Jupiterkern vorbei und die Ringe des Saturns hätte ihm glatt den Kopf wegrasiert, wären sie nicht holografisch gewesen. Zwischen Pluto und Haumea öffnete sich eine unsichtbare Tür. Dahinter lag ein offenbar leerer, in angenehm warm weißes Licht getauchter Raum. Schabeck blieb kurz in der Tür stehen und sagte „Konferenz, 5 Teilnehmer, England, 1930.“
Was Brent nun sah, verschlug ihm die Sprache. Aus Wänden und Boden des Raumes bildeten sich Möbel! Nach einer Minute blickte er in ein englisches Clubzimmer mit wuchtigen Ledersesseln, schweren Teppichen, einem entsprechenden Eichentisch in der Mitte mit einem Exemplar der Times darauf. An den holzgetäfelten Wänden leuchteten Glühbirnen, von der Decke hing ein Kronleuchter im Stil der Zeit hinab und spendete zusätzlich Licht. Durch ein Fenster an der Stirnseite des so plötzlich entstandenen Zimmers sah man hinaus auf das House of Parliaments mit dem Big Ben und der Themse. Schabeck lächelte vergnügt, als Brent vorsichtig in das Zimmer tappte und noch vorsichtiger einen Sessel berührte. „Ich hoffe, das Ambiente gefällt Ihnen und wir finden die Zeit für ein anregendes Gespräch. Ich bin übrigens Gorls Halbbruder und werde mich, sofern Sie einverstanden sind, um Sie und Ihre Kinder kümmern.“ Brent anwortete nicht sofort, er war noch mit dem Sessel beschäftigt, der auf so wundersame Weise aus dem Boden gewachsen war. „Mr. Spiner?“, Schabeck hatte bemerkt, dass sein Gast nicht ganz bei der Sache war. „Ja, ist schon okay, wenn Sie das sagen.“, murmelte der Angesprochene zurück, während er sich hinkniete, um zu untersuchen, ob der Sessel fest mit dem Boden verbunden war. Dimitri betrachtete seinen Besucher eine Weile und sagte dann: „Intelligente Polymerverbundwerkstoffe, als Nanoteilchen ausgelegt. Die nehmen über ein Computerprogramm jede Form und Farbe an, die Sie wünschen. Und statten sich mit dementsprechenden mechanischen Eigenschaften aus. Wenn ich es im Physikstudium recht verstanden habe, begann man zu ihrer Zeit, sich die ersten Gedanken über solche Stoffe und ihre Einsatzmöglichkeiten in der Luft- und Schiffahrt auf der Erde zu machen, nicht wahr?“ Brent stand auf, klopfte sich den Staub von der Hose und war überrascht, dass tatsächlich kleine Wölkchen von seinen Beinen davon stoben. „Ach ja, der Staub.“, bemerkte Schabeck und sah nachdenklich in die Ferne, „der Staub war echt schwierig nachzuahmen. Aber ich finde, wir haben das nicht schlecht hinbekommen, oder?“
Brent merkte schnell, dass er mit Dimitri genau den richtigen Partner hatte. Der Typ war ein bisschen wie Andreij Tadicz und ein bisschen wie Brent selbst. Mit dem würde er sicher gut klar kommen. Lena und William schienen sich weit weniger Gedanken über ihre Zukunft zu machen. Die Geschwister bewegten sich in dieser Welt bereits, als ob sie schon immer hier gelebt hätten. William verhandelte gerade mit dem Schweberoboter, der Earl Gray Tee und Bisquits servierte darüber, welche Spiele der fliegende Butler zu bieten hatte. Die Maschine empfahl eine Runde Magnaball mit dem Sonnensystem in der Vorhalle als Spielfeld. Der Junge war schon weg, bevor Brent auch nur den leisesten Einwand erheben konnte. Lena hörte sich dagegen Dimitris Vorschläge mit an. Was der Mann von der Mars Society zu sagen hatte klang für Brent und sie streckenweise unglaublich. Ihr Gastgeber wollte mit ihnen vier Monate lang den Sternenbund bereisen. Beginnend mit einem Besuch auf der Erde sollte es weitergehen nach Taa und Gii, nach Talinir, Trombur und in die Andromeda Galaxie. Schabeck fragte, ob Brent eigentlich aus der Zeit vor der Klimakatastrophe auf der Erde stammte. Als Brent bejahte, meinte er „Dann werden Sie ihre Welt kaum wieder erkennen. Der Raubbau im 20. Jahrhundert hat den Meeresspiegel durchschnittlich 2 Meter in die Höhe getrieben und die Durchschnittstemperatur beträgt jetzt 29° Celsius. Machen Sie sich auf eine neue Welt gefasst.“
26.09.1999, Cullham Farm, East Meon
„Lithium-Ionen-Akkus? Was soll denn das? Die Dinger brennen doch bei der ersten Gelegenheit! Dass sind doch totale Fehlkonstruktionen“ Gorl schnaubte wütend vor sich hin, während er die neuen Pläne für das Rückkehrschiff studierte. „Wir brauchen nur ein paar Laser-Polymer-Akkus, höchtens vier Stück!“ Samoka klopfte ihm auf die Schulter. „Das Ding ist nun mal so konstruiert, dass wir es möglichst mit hier vorhandenen Mitteln bauen können. Für den Fall, dass Lena ausfällt und uns nichts mehr bringen kann.“ Gorl tippte auf den Monitor und brummte „Aber das hier ist doch Wahnsinn, willst du damit etwa ins All?“ Samoka hörte ihn schon nicht mehr. Sie saß schon im Auto, um in Portsmouth die besagten Energiespeicher zu besorgen. Ihm war klar, dass seine Begleiterinnen in jede noch so primitiv konstruierte Klapperkiste springen würden, wenn das Ding sie nach all den Jahren nur wieder nach Hause brächte. Ihm selbst ging es ja nicht anders. Die Epoche in der er sich aufhielt, war von Irrglauben und Dummheit durchsetzt. Allein das abendliche Fernsehprogramm genügte, um ein ganzes Jahr Schulbildung nachhaltig zu vernichten. Lügende Politiker und völlig obskure Religionen hielten diese Zivilisation im Zustand mittelalterlicher Unwissenheit auf einem primitiven technischen Niveau. Kein Wunder, dass alle die Nase gestrichen voll hatten.
In der Ferne hörte Brent Ians McCormick heranknattern. Der Farmer holte ein Aluminiumgerüst ab, dass Gorl in einer Schlosserei in Petersfield in Auftrag gegeben hatte. Was für Ian das Vorderteil eines neuen Elektroautos darstellte, war tatsächlich die Rumpfnase des Rückkehrschiffes. Weitere Teile folgten im Laufe der Woche. Alle aus Aluminium, aber alle aus unterschiedlichen Betrieben. Niemand sollte sich ein vollständiges Bild dessen machen, was Gorl auf der Farm zusammen schraubte. Ian, der Gorl nach Kräften unterstützte, konnte sich nicht wirklich einen Reim auf das machen, woran er inzwischen täglich bastelte. Er marschierte ohne Bedenken mit dem Elektromobil ab. Samoka konstruierte derweil die Avionik und befasste sich seit einigen Tagen mit der Flugplanung. Die Rückkehr in die Zukunft nahm ihren Anfang. Die Aussicht wieder nach Hause zu kommen beflügelte den Geist und den Willen.
19.12.2175, Isle of Orlando,
Was Brent unter sich vorbei ziehen sah, schien eher dem Horrorszenario eines Hollywoodregisseurs entsprungen zu sein, als seiner realen Wahrnehmung. Er trommelte nervös gegen das Fenster des Mars Clippers, mit dem er First Village vor 7 Stunden verlassen hatte, um sich zu vergewissern, dass er wirklich aus einem Fenster sah. Das Passagierraumschiff zog einen weiten Kreis über dem Südosten der ehemaligen U.S.A. Brent erwartete beim Schwenk nach Süden die Halbinsel, die den Bundestaat Florida beherbergte (hieß das heute überhaupt noch so?) zu sehen und erlebte eine ziemliche Überraschung. Anstelle einer Halbinsel mit Straßen, Städten und ausgedehnten Sümpfen sah er nichts als Wasser! Es gab kein Florida mehr. Der Clipper sank tiefer, was es Brent ermöglichte unter der Wasseroberfläche die Konturen von Straßen und Häusern auszumachen. Er konnte sogar sehen, dass die hohen Gebäude von Tampa und Miami aus dem Wasser ragten. Rechts davon machte er eine große Insel aus. Dimitri beugte sich zu ihm herüber. „Das da ist die Insel von Orlando, das was von Florida noch über ist! Weiter westlich sind Galveston und New Orleans auch abgesoffen. Ihr habt mit eurem Kohlendioxid - Wahn echt was bewegt, zumindest wenn man die Wasserstände auf der Erde betrachtet. Mach dich auf einen heissen Empfang bereit, wenn wir unten sind.“ Brent nickte und sah kurz auf die Infodaten, die zwischen Dimitri und ihm schwebten. 42°C Mittagstemperatur meldete Orlando Spaceport. Der Brite schüttelte den Kopf, während er die Wasserwüste unter sich weiter studierte. Dann setzte die Maschine zur Landung an.
Hitze kann sich auf sehr unterschiedliche Arten offenbaren. Als Brent das Gebäude des Raumhafens verließ tat diese es in Form einen kleberigen, feuchten Masse, die versuchte sich beim ersten Atemzug in seine Lungen zu quetschen. Die Luftfeuchtigkeit musste knapp unter 100 % betragen, was den ersten Schritt auf der Erde im Jahr 27 nach der Klimakatastrophe zu einem Erlebnis werden ließ, auf das sich gut verzichten ließ. Brent bereute schon jetzt inständig, dass er als erstes Reiseziel die Erde gewählt hatte. Ein automatischer Gleiter schwebte heran und öffnete viel zu langsam die Einstiegstür. Brent stieg, so schnell es die brütende Hitze zuließ ein. Drinnen war es deutlich angenehmer. Unmerklich setzte sich das Gefährt in Bewegung. Dimitri sagte das Fahrtziel, woraufhin sich das Gefährt mit einer Stimme bedankte, die Brent irgendwo zwischen Debbie Harry und Michelle Pfeifer einsortierte. Irgendwie hatte er sich das Taxi der Zukunft genau so vorgestellt.
Nicht so vorgestellt hatte er sich das, was die Klimakatastrophe von Florida noch bestehen ließ. Die Isle of Orlando war ein ausgedörrter Fleck voller Sand zwischen Atlantik und Karibik, spärlich bebaut und der Sahara auf beklemmende Weise ähnlich. Beim Blick aus dem lautlos dahingleitenden Fahrzeug stellte Brent fest, dass er auf der Erde nur eines wollte, nämlich möglichst schnell wieder weg!
26.10.1999, Culham Farm, East Meon
Was dort in der Scheune stand wirkte auf Janita ungefähr so vertrauenserweckend, wie ein Eisbär auf ein Robbenbaby. Das Rückkehrschiff nahm Form an, die Aussicht jedoch mit diesem Gefährt eine Raum- und noch dazu ein Zeitreise ließ bei der Betrachterin arge Zweifel aufkommen, dass das Ding überhaupt flog. Gorl dagegen schraubte unverdrossen an dem fliegenden Sarg herum. Für einen Menschen, für den Technik einfach immer funktionierte, niemals ausfiel oder Defekte aufwies, verhielt er sich seltsam sorglos. Als er Janitas kritischen Blick bemerkte, sah er nur kurz auf. „In zwei Wochen sind wir hier weg. Selbst wenn du mich ansiehst, wie die Skepsis an sich. Zwei Wochen und es wird funktionieren. Gib mal den Lötkolben rüber, bitte.“ Die Angesprochene reichte Gorl das besagte Gerät, mit dem dieser sich in den Batterieraum hinunter beugte. Ein längst gewohnter Gestank, gefolgt von einer kleinen Rauchfahne, ließ Janita wissen, dass Gorl sich keinesfalls davon abbringen lassen würde, mit dem Ding zu fliegen. Ian schleifte währenddessen ein Verkleidungsblech, das er von einem Schlosser aus Alresford geholt hatte, in die Scheune. Janita ging ihm entgegen, um zu helfen, aber der dicke Farmer lehnte ab, weil das „nix für Schnecken“ sei. Dabei keuchte er, wie ein Nilpferd vorm Orgasmus. Gorl kam aus dem Batterieraum hoch und klatschte in die Hände. „Geil Alter, das ist das letzte Blech. Lass mal sehen, nicht dass wir wieder nachbohren müssen.“
Als das Blech befestigt war, schrieb Gorl mit einem dicken Filzmarker etwas darauf: Return To Sender. Ian hielt das für eine der oft merkwürdigen Marotten seines niederländischen Freundes. Gorl dagegen gab dem Rückkehrschiff damit einen Namen, den er bei Elvis Presley entliehen hatte.
Im Haus kümmerte sich Samoka derweil um ein paar juristische Dinge. Ian sollte die Culham Farm übernehmen, sollte davon aber nichts wissen. Er wusste ja auch nicht, dass die vermeintlichen Niederländer schon bald für immer verschwinden würden. Also kämpfte sie sich durch die britischen Gesetze, um heraus zu finden, wie man eine Schenkung vorbereiten musste. Nebenbei achtete sie darauf, alle Gegenstände einzupacken, die auf die wahre Herkunft der Bewohner des Hauses schließen ließen. Was sie selbst oder Lena und William aus der Zukunft mitgebracht hatten, durfte nicht hier bleiben. Samoka unterteilte die Dinge in solche, die sie mit zurück nehmen würden und in solche, die vernichtet werden mussten. Jede Spur, die in die Zunkunft wies, konnte in dieser Zeit schlimmes anrichten. Langsam aber sicher roch alles nach Abschied. Samoka war froh darüber, aus dieser Zeit zu verschwinden, die sie nicht verstand. Auf der anderen Seite war sie schon so lange hier, dass ihr alles so selbstverständlich vorkam. Und was würde das für eine Zeit sein, in die sie zurückkehrten? Die, aus der sie vor Jahren kamen ganz sicher nicht mehr.
Und dann ging irgendwie alles ganz schnell! Die verbleibenden zwei Wochen vergingen so schnell, das Samoka glaubte, mindestens die Hälfte aller zu erledigenden Dinge nicht getan zu haben. Als Gorl ihren Sitzgurt anzog, dachte sie noch intensiv darüber nach, ob im Haus alle Fenster geschlossen waren und ob die Zimmerkastanie im Vorflur wohl genug Wasser hatte. Neben ihr schien Janita ähnlichen Gedanken nachzuhängen. Gorl beschäftigte sich derweil noch mit dem Öffnen des Scheunentors. Draußen peitschte der für diese Jahreszeit übliche Regen durch die kalte Novembernacht. Die Borduhr zeigte den 12.11.1999, 02:57h an.
Noch drei Minuten.
Samoka gab Energie auf die Mandelbrotgeneratoren im Heck der Return To Sender und justierte den Startschub. Janita rief die Startsequenz in dem kleinen Bordrechner auf. Keine Minute später sprang Gorl in das Cockpit und schnallte sich an. Ohne Verzögerung hob das Rückkehrschiff etwa einen Meter vom Boden ab und glitt vorwärts durch das Tor. Die Geräusche und Vibrationen, die es dabei verursachte, hätten die Insassen eigentlich nervös machen müssen. Kein Raumschiff aus ihrer Zeit gab mehr, als ein kaum hörbares Summen von sich. Vibrierte etwas, war es kaputt. Demnach war das, in dem die drei Zeitreisenden gerade die Startposition erreichten, vollkommen im Eimer!
12.11.1999, 03:00h, Culham Farm, East Meon
Ein bläuliches Flackern wanderte für eine Sekunde von der Toröffnung über den Vorhof der Scheune und schwächte sich schnell ab. Kaum eine halbe Minute später erschütterte ein Überschallknall die Gegend. Die Radargeräte der R.A.F – Basen und der zivilen Flugplätze im Süden der britschen Insel erfassten ganz kurz etwas, verloren es aber ebenso schnell wieder. Ein Störsender, der den Funkmessgeräten dieses Planeten mehr als 200 Jahre voraus war, verwischte die Spuren der wohl absonderlichsten Besucher, die diese Welt bis heute beherrergt hatte.
12.11.1999, 03:03h, 210 Kilometer über dem atlantischen Ozean
Die bedenklichen Vibrationen am Beginn ihrer Reise entwickelten sich während des kurzen Fluges durch die Erdatmosphäre zu einem Schütteln, dass keinerlei Relation zu Begriffen wie „kaputt“, „völlig kaputt“ oder „total kaputt“ mehr erlaubte. Legte man die Maßstäbe des 22. Jahrhunderts an befanden sich Gorl und seine Begleiterinnen in einem fliegenden Notstandsgebiet! Alles um sie herum klapperte, rüttelte und schien sich in seine subatomare Bestandteile verabschieden zu wollen. Die bleierne Faust, die allen in den Magen schlug, ließ plötzlich nach, genau wie das gequälte Rütteln allen Materials schlagartig verstummte. Genauso überraschend setzte die Schwerelosigkeit ein. Auf jedem Raumschiff aus Samokas Zeit, hätte das auf den Ausfall der wesentlichen Lebenserhaltungssysteme hingededeutet. In der Return To Sender konnten diese Systeme nicht ausfallen, weil es sie gar nicht gab!
Der plötzliche Gewichtsverlust und die relative Stille raubten den Insassen des Raumschiffes das letzte bisschen Selbstkontrolle. Panik stieg in jedem einzelnem auf, aber man hing fest verzurrt in den Sitzen, während der Bordrechner den Kurs berechnete. Die Navigationssensoren im Bug erfassten automatisch die Zielsterne Regulus, Procyon und Alhena. Dann füllte sich die enge Kabine mit einem angenehm rasch wirkenden Betäubungsgas. Die Insassen hätten die einsetzenden G-Kräfte bei Bewusstsein nicht überstanden.
13.11.1999, 11:00h, Culham Farm, East Meon
“Das gibt’s doch nicht, dass die noch pennen!“ Ian läutete zum dritten Mal und klopfte zur Sicherheit noch an das Küchenfenster. Es war still heute auf der Farm und selbst dem recht schlicht strukturierte Ian fiel auf, das irgendetwas anders war, als sonst. Ian drückte ein weiteres Mal auf den Klingelknopf. Dann drückte er die Türklinke und fand die Eingangstür unverschlossen. Der Farmer öffnete die Tür einen Spalt weit und rief „Jakko? Hey Leute, seid ihr da? Aufstehen, is gleich Mittag!“
Keine Antwort, kein Laut. Das Haus schien verlassen zu sein. Ian rief ein weiteres Mal, mit dem gleichen Ergebnis. Er öffnete die Tür und trat in den Flur. Nichts rürhte sich. In der Küche stand eine Flasche Scotch auf dem Tisch, Dewars Single Malt, teures Zeug. Darunter lag ein Briefumschlag, auf dem in großen Buchstaben sein Name stand. Ian nahm den Brief, zog sein Backlockmesser aus der Tasche, um den Umschlag damit zu öffnen. Er zog ein einzelnes Blatt Papier aus dem Kuvert, kramte nach seiner Brille und begann zu lesen:
Lieber Ian,
wenn du diesen Brief in Händen hälst, werden wir nicht mehr hier sein. Es tut uns leid, dass wir so plötzlich aufbrechen mussten. In unserer Heimat haben sich Dinge ergeben, die unsere Rückkehr dringend erforderlich machen.
Du warst für uns der beste Freund, ein Teil unserer „Familie“ und ohne Deine Sixpacks hätten wir hier wohl kaum so viel Spaß gehabt. Genau, wie wir ohne Deine Hilfe hier nicht so gut klar gekommen wären.
Wir werden nicht auf die Farm zurückkehren. Deshalb findest Du in dem Küchenschrank, weißt schon, da wo der Tee steht, einen Umschlag mit einer Schenkungsurkunde, dem Grundbuchauszug und einem Geldbetrag, der Dir alle Sorgen abnehmen sollte.
Die Culham – Farm gehört ab sofort Maggie und Dir.
Lasst es Euch gutgehen. Wir werden uns leider nicht wieder sehen, behalten Dich aber immer in unseren Herzen und unserer Erinnerung.
Ian, wir wünschen dir und Maggie alles Gute für eure Zukunft.
Lebt wohl,
deine Freunde Beatrice, Jana und Jakko!
Der dicke Farmer schüttelte den Kopf, zog einen der Küchenstühle zu sich heran und setzte sich. Dann öffnete er den Whiskey, nahm einen tiefen Schluck, deutete mit dem Flaschenhals auf den Küchenschrank und rief „Jakko, du altes Rindvieh. Ich schätze mal, du hast mir die ganze Zeit nur Scheisse erzählt, aber du und deine Schneggn warn echt nen prima Haufen!“
Wahrscheinlich 23.12.2175, Rückkehrschiff Return to Sender unweit des Sterns Sheat
Alles tat weh, wenn sie auch nur die kleinste Bewegung versuchte. Rote Ringe tanzten vor ihren Augen und in Samokas Kopf dröhnten mindestens zehntausend dieser ätzenden Kirchenglocken von der Erde. Sie stöhnte und bekam einen Hustenanfall, der den Schmerz ihrem Köper vervielfachte. Neben sich hörte sie Janita wimmern und Gorl röcheln. Nur ganz allmählich lichtete sich der Schleier vor ihren Augen. Das Sichtfeld und die Farben normalisierten sich ein wenig, aber insgesamt blieb das Licht rötlich. Sie drehte den Kopf, was in ihrem Nacken ein Feuerwerk aus Schmerzen zündete und sah ihre Gefährten mit aschfahlen Gesichtern neben sich. Durch das Fenster war die Ursache für das rote Licht auszumachen. Dort strahlte ein roter Riesenstern, wohl kaum 30 astronomische Einheiten entfernt. In Samokas Gehirn brauten sich langsam Erinnerungen zusammen. Richtig, sie befand sich in einem Raumschiff. Das Schiff sollte sie zurückbringen an einen anderen Ort und…..vor ihren Augen tauchte verwaschen ein Straßenzug in Portsmouth auf……und eine andere Zeit. Genau, das kleine Raumschiff sollte zurück in die Zukunft fliegen. Die Reise, die längste aller Reisen sollte hier zu Ende sein.
Samoka Lee versuchte sich aufzusetzen, was sie noch im selben Moment bitter bereute. Der Schmerz durchflutete Ihren gesamten Körper und endete als greller Blitz im Kopf.
23.12.2175, Forschungsschiff Enceladus, ca. 30 Lichtstunden vor Sheat
Seit drei Tagen lauschten die Sensoren der Enceladus in den Raum hinein. 60 Lichtstunden in entgegengesetzter Richtung befand sich ein weiteres Schiff gleicher Bauart, die Triton. Die Forschungskreuzer des Wissenschaftsrates lauerten auf einen winzigen Bruch in der Raumzeit, die Erschütterung, die ein kleines Objekt verursachte, wenn es aus dem relativistischem Geschwindigkeitsbereich heraus abgebremst wurde. Beide Schiffe waren zu genau diesem Zweck ausgerüstet worden. An Bord der Enceladus hielten sich Sven Holgerson, Sita, Gedro und Jeff auf. Seit drei Tagen standen sie und die 20-köpfige Besatzung des Kreuzers unter Hochspannung. Das Rückkehrfenster für Gorl und seine Begleiteterinnen stand 120 Stunden offen. Davon waren 67, also mehr als die Hälfte verstrichen, ohne dass die Sensoren etwas gemeldet hätten. Sik-tan-Rol, der Commander der Triton tauchte gerade holografisch auf und gab einen kurzen Bericht ab. Der Ramaner sprach darüber, wie man die Empfindlichkeit der Sensoren im Zielgebiet erhöhen konnte, um das kleine Rückkehrschiff möglichst sofort beim Eintritt zu orten. Die Wisseenschaftler und Techniker an Bord beider Schiffe passten seit ihrer Ankunft ständig alle Messinstrumente an die Raum- und Energiestruktur rund um Sheat an. Jeff Tschao diskutierte einen kurzen kurzen Augenblick mit dem holografischen Besucher, nickte dann und gab dem Bordrechner der Enceladus eine Reihe von Anweisungen. In der Zentrale schwebte ein weiteres Hologramm, das in grünen Gitternetzlinien den Raum um den roten Stern kubusförmig abbildete. Jede Linie stellte einen Orterstrahl dar. Mit den neuen Instrukstionen verdoppelte sich die Anzahl der Orterlinien. Die Leute von der Triton hatten den Dreh echt raus. Von denen sollte Sven unbedingt welche für den Wissenschaftsrat abwerben, wenn diese Geschichte überstanden war. Aber jetzt hieß es erst einmal warten, Kaffee trinken und hoffen, dass sich der Weltraum im Suchgebiet ein klein wenig verzerrte.
Jeff hatte erwartet, dass er auf ein winziges Signal, eine kaum wahrnehmbare Unregelmäßigkeit im geometrischen Muster der Orterlinien achten musste, wenn das Rückkehrschiff eintraf. Hochkonzentriert starrte er in das Zentrum des gut zwei Meter messenden Hologramms, als dieser ohne Vorwarnung aus der linken, oberen Ecke zu explodieren schien. Die Farbe der Orterlinien wechselte von diesem Punkt aus in Rot, während sich die Linien gleichzeitig wellenförmig verzerrten. Als Jeff die Ortung realisierte und irgendetwas wie „Sie sind da!“ schrie, befand sich die gesamte Besatzung der Zentrale bereits in fieberhafter Hektik. Erst jetzt nahm er den durchdringenden Alarmton wahr, der durch die Zentrale schrillte. Commander Sylvie van Draven sprach aufgeregt mit ihrem holografischen Kollegen von der Triton. „Wir sind näher dran, Sik. Wir nehmen Sie auf!“ Der Commander des Schwesterschiffes nickte kurz. „Okay Enceladus“, erwiderte er, „wir versorgen euch während des Anflugs mit Messdaten und geben Bescheid, wenn sich etwas ändert. Viel Glück für euch!“
Der Forschungskreuzer benötigte knapp 20 Minuten, um das Rückkehrschiff zu erreichen und an Bord zu nehmen. Sofort machten sich Jeff und Gedro daran, die Kanzel zu öffnen, was sich als recht beschwerlich erwies. Die hohe Beschleunigung hatte die Verschlüsse verzogen. Gedro nahm kurzerhand einen Laserschneider und trennte die Verschlüsse damit auf. In der Kapsel lagen drei ziemlich lädiert aussehende, bewusstlose Gestalten, die sich mit einiger Fantasie als die drei Personen erkennen ließen, die vor 4 Jahren abgeflogen waren. Alle drei wurden zunächst von Medirobotern untersucht, die mehrere gerissene Sehnen und gebrochene Rippen diagnostizierten. Menschen waren wahrlich nicht dafür ausgelegt, in einer Blechkiste auf Eintrittsgeschwindigkeit beschleunigt zu werden. Zum Glück schienen alle lebenswichtigen Organe intakt zu sein. Die schlaffen Körper der Rückkehrer wurden vorsichtig auf Schwebeliegen gelegt und in die Medistation verfrachtet.
Die unfassbarste Reise, die je von Menschen unternommen wurde, war zu Ende.
Zeitzeugen
16.01.2176, Raumstation Camp Tschao II im Orbit um Trombur
„Vier Jahre machen selbst aus einem Physikgenie einen Volltrottel, wie’s mir scheint! Oder suchst du tatsächlich den Sondenhangar?“ Sita verschränkte die Arme vor der Brust und sah Gorl schulmeisterlich an. „Wir leben im Zeitalter des Hyperfunks und du hast es eingeläutet, wenn ich dich daran erinnern darf. Wenn du mit Dimitri auf Gii sprechen willst, nimm einfach den Hypercom aus deiner Bordkombi, leg deinen Finger auf die blaue Fläche, sag ‚Dimitri Jörg Schabeck‘ zu dem Ding und dann funzt das! Und noch eins, Moiseyenko:“ Sita trat einen bedrohlichen Schritt näher und hielt ihren Zeigefinger direkt vor Gorl’s Nase. „Wenn du meinst, wir hätten hier vier Jahre lang Sternenstaub von der Wega zum Sirius gekarrt, liegst du schief. Dein ganzer Hyperfunkkrempel ist fertig und funktioniert.“ Gorl schien etwas verwirrt. Seit er wieder auf den Beinen war, stolperte er wie ein Neandertaler in einem Computerladen durch die modernste Raumstation des bekannten Unversums und staunte Dinge an. Samoka und Janita verhielten sich ebenfalls recht merkwürdig. An sich war das nicht verwunderlich, denn die drei Zeitreisenden hatten die technische Revolution, die seit Erfindung des Hyperfunks die Menschheit umkrempelte, glatt verschlafen. „Na los, du trauriger Held, probier das Ding endlich aus! Wie sieht denn das aus, wenn man dem Erfinder seine eigene Erfindung erklären muss?“
Gorl sah seinen Hypercom nachdenklich an. Das Gerät war etwa so groß, wie ein Mobiltelefon im letzten Jahrhundert. Es besaß keine Tasten. Im Grunde genommen wies es überhaupt keine Bedienelemente auf, bis auf eine ovale, blaue Fläche. Gorl legte seinen Daumen darauf, woraufhin das Gerät grün aufleuchtete. Jetzt musste er nur noch Dimitris Namen sagen und würde dann mit einem Mann sprechen, der in 160.000 Lichtjahren Entfernung in der Großen Magellanschen Wolke in einer Bibliothek saß. Also sagte er „Dimitri Jörg Schabeck“, woraufhin gelbe Lichtwellen vom unteren zum oberen Ende des Gerätes liefen, bis das Licht wieder grün wurde und der Mann von der Mars Society laut und deutlich zu ihm sagte „Hi Gorl, hier bin ich! Wenn du den Commi anstarrst, hilft das nicht wirklich.“ Gorl sah auf und sah den Angerufenen lebensecht, in voller Größe vor sich stehen! Erst in diesem Moment begriff er, was seine Erfindung tatsächlich bedeutete. Die erste reale Begegnung mit seiner eigenen Technik verblüffte ihn völlig. „Gorl? Alles in Ordnung?“ Dimitri legte ihm die Hand auf die Schulter und schüttelte ihn leicht. Und Gorl spürte die Hand, ihre Wärme und die Kraft, die sie ausübte.
Dimitri stand wirklich vor ihm!
Gorl drehte den kleinen, blinkenden Kasten in seiner Hand um, als glaubte er auf dessen Rückseite die unglaublichen Dinge entschlüsseln zu können, die gerade stattfanden. Sita nahm ihm das Gerät vosichtig aus der Hand und begann zu erklären: „Wir haben die Hologrammtechnik der 2. Entstehung miniaturisiert und als Sahnehäubchen auf deine Hyperwellen gepackt. Wie du siehst haben wir deine Technik auch hübsch klein bekommen. Ein Galaktonet – Adapter ist auch integriert und damit können wir komplette Photonenimages übertragen. Und übrigens nicht nur auf einem Kanal. Dimitri, sind Lena oder William in deiner Nähe?“ Der Angesprochene in der Großen Magellanschen Wolke drehte sich um und winkte lässig. Unvermittelt trat Lena Spiner aus dem Nichts und sagte fröhlich „Hi Gorli, alte Säge! Du siehst irgendwie scheiße aus heute. Alles senkrecht bei dir?“ Gorl sah in die Runde, hob eine Hand, als wenn er sich vor dem, was er gerade sah zu schützen versuchte. Dann drehte er sich um und schlurfte mit müden Schritten davon. Dabei murmelte er „Ich werde diesen Irrsinn schon begreifen. Ich werd es schon noch kapieren.“ Dimitri zuckte die Schultern und rief ihm hinterher „Was gibt es da zu kapieren? Du hast es schließlich erfunden, oder?“
16.01.2176, Archiv der Solaren Systems, Planet Gii
Lena Spiner zuckte ebenfalls mit den Schultern. „Weshalb ist der denn so uncool? Bislang habe ich ihn als totales Genie erlebt. Ein bisschen trottelig vielleicht, wie diese Typen nun mal sind, aber eben immer krass der Expresschecker, immer voll auf oberzack. Gerade eben hat er allerdings den totalen Denkzwerg gegeben.“ Sita sah in die Richtung, in die Gorl verschwunden war. „Ich glaube, Gorl hat damals schlichtweg nicht kapiert, was er erfunden hat. Und gerade eben hat’s ihn mit allen Konsequenzen überrollt.“ Sita verabschiedete sich von ihren Gesprächspartnern in der Nachbargalaxie, um Gorl die Welt zu erklären. Lena und Dimitri machten sich wieder an Ihre Recherchen. Die Besuch in den unermeßlichen Archiven auf der Ahnenwelt Gii diente zum einen dazu, Brent Spiner und seine Kinder die geschichtlichen Ereignisse der intergalaktischen Epoche zu erklären. Zum anderen mussten die Erlebnisse der Spiners während der Parallelzeit in die Datenbanken des Ahnenvolkes aufgenommen werden.
Für die kommenden Tage und Wochen bedeutete das eine Menge Interviews mit Historikern aus allen Teilen des Sternenbundes. Irgandwann sollten Janita, Samoka und Gorl mit dazu kommen, um ihre Erlebnisse zu beschreiben. Zwar war die Reise der drei größtenteils aufgezeichnet und gespeichert worden, aber Geschichte lebte im 22. Jahrhundert mehr denn je von den Menschen, die sie erzählten oder schrieben.
Mit der längsten Reise durch Raum und Zeit gab es eine neue, epochemachende Geschichte. Ähnlich, wie die Mondlandung vor 207 Jahren oder dem Marsflug vor 174 Jahren, brach mit der Achterbahnfahrt durch Räume und Zeiten etwas Neues an. Die Beteiligten zeigten der Menschheit, dass die Grenzen nicht mehr in Parsecs zu messen waren. Stattdessen lagen sie von nun an in anderen Dimensionen, Zeiten und Universen.
Die Zeitreisenden trafen einige Tage später auf Gii ein. Brent stand erwartungsvoll am Landeplatz. Er wirkte ein wenig nervös, aufgekratzt und ungeduldig. In wenigen Augenblicken würde er dem Mann, der ihn in Vergangenheit und Zukunft katapultiert hatte leibhaftig gegenüber stehen. Zum ersten Mal würde er dem Menschen begegnen, mit dem ihn mehr verband, als mit irgendjemanden sonst. Trotzdem fand heute ihr erstes persönliches Treffen statt. Was sagte man dem Mann, der einem so vieles angetan hatte? Was dem, der seinetwegen die längste Reise aller Zeiten auf sich genommen hatte? Brent schien ehrlich ratlos zu sein.
Dem Mann in der Ausstiegsschleuse der Henri Poincaré ging es in diesem Moment nicht anders. Gorl überlegte, ob er bei Brent Spiner um Entschuldigung bitten sollte. Noch während er nachdachte, glitt die Schleuse zur Seite. Davor stand ein einzelner Mann, den Gorl aus einer anderen Zeit bereits kannte. Die beiden Männer sahen sich eine Weile an, aber jeder zögerte, auf den anderen zuzugehen. Schließlich machte Gorl die paar Schritte, streckte seinem Gegenüber die Hand entgegen und sagte „Hallo Brent, ich bin Gorl und ich denke, wir haben uns viel zu erzählen.“
Brent Spiner ergriff die dargebotene Hand und lächelte. „Wir zwei müssen 241 Jahre total verdrehter Geschichte aufdröseln.“, gab der Angesprochene zurück, „Ich schätze mal, das kostet mehr als eine Flasche Wodka oder was immer ihr so einwerft.“
Gorl's Entdeckung
18.03.2176, Museum für Menschheitsgeschichte, Kelamnapa, Planet Trombur
Im Saal der 1. Entstehung war es still. Nur langsam fanden die Menschen aus den Tiefen von Gorls Geschichte zurück in die Wirklichkeit. Das gerade Erfahrene war so fantastisch, so verwirrend und unglaublich, dass es die Anwesenden noch minutenlang gefangen hielt. Nur vereinzelt brandete Beifall auf, der sich zöglich verstärkte.
Die Gesandte des Ahnenvolkes griff in ihren Umhang und überreichte Gorl eine kleine Skulptur. Die Figur zeigte eine menschliche Gestalt, die mit einer Hand in den Himmel deutete und in der anderen ein Buch hielt. Der Wissenschaftspreis erschien auf den ersten Blick ziemlich unscheinbar. Sah man die Statue jedoch an, griff sie augenblicklich nach den Gedanken des Betrachters und begann die gerade erzählte Geschichte zu wiederholen. Die Abgesandte des Ahnenvolkes besaß die Fähigkeit Gorls Gedanken nicht nur auf die Menschen im Saal zu übertragen, sondern auch in dem Kristallmaterial der Statue telephatisch für eine Ewigkeit zu speichern.
Gorl schaute auf die Figur in seiner Hand. Die irre Odysse der letzten vergangenen Jahre in einer kleinen Kristallfigur gefangen zu sehen, ließ das Erlebte plötzlich ganz alltäglich und beinahe normal erscheinen. Ein Teil seines Lebens halt. Und ein Teil des Lebens seiner Freunde, in deren Mitte er mehr erlebt hatte, als kaum jemand sonst.
Er hielt die kleine Figur hoch, während der Beifall der Gäste zu einem gleichmäßigen Trommeln anschwoll.